Vorwurf des Rassenmords: Die Politisierung eines tödlichen Polizeieinsatzes

Der tödlich verlaufene Polizeieinsatz gegen einen 16-jährigen Jugendlichen in Dortmund wird weiter untersucht. Handelten die Polizisten unverhältnismäßig oder im Rahmen des Eigenschutzes? Ein Fall mit politischer Dimension und einem Rassenmord-Vorwurf.
Nicht jeder Polizeieinsatz endet freidlich.
Symbolbild.Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Von 2. September 2022

Der tödliche Polizeieinsatz am Nachmittag des 8. August gegen einen 16-Jährigen aus dem Senegal im Innenhof einer Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung wirft weitere Fragen auf. Ebenso wurden offiziell weitere Details in einer achtseitigen Veröffentlichung des Landtags Nordrhein-Westfalen vom 1. September bekannt gegeben.

Aktuelle Ermittlungen soll es demnach gegen einen Polizeibeamten geben, der auf den Jugendlichen mit seiner Maschinenpistole geschossen hatte, gegen drei weitere Beamte, davon zwei Polizistinnen, wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt (Pfefferspray und zweimal Taser), sowie gegen den die Anordnungen gebenden Einsatzleiter wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung im Amt.

Landtagsbericht des Justizministeriums

Das Schreiben erfolgte im Rahmen der Unterrichtung der Mitglieder des Innenausschusses und des Rechtsausschusses des Landtags durch das Justizministerium.

Zum aktuellen Sachstand des Vorfalls heißt es unter anderem: Gegen einen Dortmunder Polizeikommissar werde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge eingeleitet. Dieser habe am Nachmittag des 8. August einem 16-Jährigen aus dem Senegal mehrere Schussverletzungen zugefügt, die schließlich zum Tod des Jugendlichen geführt hatten. In einem ergänzenden und angehängten Bericht des Leitenden Oberstaatsanwalts in Dortmund wurde darauf hingewiesen, dass der Schusswaffeneinsatz auch „unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Totschlags“ geprüft werde.

Der 16-Jährige, der nach seiner Einreise nach Deutschland in Rheinland-Pfalz wohnte, kam etwa Mitte Juli nach Dortmund. Am Wochenende vor dem Vorfall sei der Jugendliche in eine psychiatrische Klinik zugeführt worden, weil er Suizidabsichten geäußert habe. Zu einer stationären Aufnahme sei es aber nicht gekommen. Am Montag, 8. August, kam er zurück in die Jugendhilfeeinrichtung.

Nachmittags verständigte ein Betreuer die Polizei und gab an, dass der 16-Jährige im Innenhof sitze und sich ein Messer vor den Bauch halte – „vermutlich wegen suizidaler Absichten“. Eine Betreuerin habe vergeblich versucht, den Jugendlichen zum Weglegen des Messers zu überreden.

Als die acht uniformierten und vier zivilen Polizisten vor Ort ankamen, sprach ein Beamter den Jugendlichen auf Deutsch, Englisch, Portugiesisch und Spanisch an, um ihn ebenfalls zum Weglegen des Messers zu überreden, so der Bericht. In dem angehängten Bericht des Leitenden Oberstaatsanwalts an das Justizministerium wurde jedoch angegeben, dass die Ermittlungen nicht ergeben hätten, dass der Jugendliche tatsächlich zum Weglegen des Messers aufgefordert worden sei. Eine Ansprache des 16-Jährigen ließ sich „lediglich in deutscher und spanischer Sprache feststellen“, wobei darauf verwiesen wurde, dass der Jugendliche Französisch, Spanisch und eine afrikanische Sprache gesprochen habe.

Polizeieinsatz am 8. August: Reizgas und Strom ohne Wirkung

Nach erfolgloser Ansprache, so der Ministeriumsbericht weiter, sei der Jugendliche im Innenhof mit dem Messer gegen den Bauch gerichtet hocken geblieben. Dann erfolgte der zuvor geplante und vom Einsatzleiter angeordnete Zugriffsversuch der Polizisten: Eine Beamtin besprühte den 16-Jährigen mit Pfefferspray. Daraufhin sprang der Jugendliche auf und bewegte sich den Angaben nach in Richtung der Polizeibeamten, die zuvor fünf bis sechs Meter von ihm entfernt standen. Eine weitere Polizistin und ein Polizeibeamter schossen jeweils einen Taser ab und trafen den Jugendlichen demnach an Handgelenk und im Intimbereich, so der Ministeriumsbericht.

Der angefügte Bericht des Oberstaatsanwalts erklärte hierzu: Die Auswertung der Taser habe ergeben, dass beim ersten Schuss kein Stromkreis hergestellt werden konnte, da „lediglich eine von zwei Pfeilelektroden [wahrscheinlich an der Schläfe] traf“. Im Zusammenhang mit dem Ministeriumsbericht könnte dies auf eine Schutzhaltung des Unterarms vor dem Gesicht hindeuten.

Der zweite Schuss soll nur etwa fünf Sekunden einen geschlossenen Stromkreis hergestellt haben, waren aber offenbar zu nah beieinander „[wahrscheinlich eine am Glied und eine im Unterbauch]“. Daher hätten die beiden Pfeilelektroden „keine genügende Spreizung“ zueinander erreicht, um eine „neuromuskuläre Handlungsunfähigkeit herbeizuführen“. Die Wahrscheinlichkeit einer Schmerzwirkung werde jedoch angenommen.

Weder Pfefferspray noch Stromstöße zeigten daher eine erkennbare Wirkung. Nun bewegte sich der 16-Jährige weiter in Richtung der Polizisten. Dabei habe er das Messer vor dem Bauch gehalten, mit der Spitze nach oben gerichtet, so der Ministeriumsbericht. Im Oberstaatsanwaltsbericht heißt es dazu, dass aufgrund unterschiedlicher Zeugenangaben bislang nicht abschließend geklärt sei, wie genau der Jugendliche das Messer geführte habe oder ob und wie weit er sich noch fortbewegt habe.

Tödliches Finale

Schließlich kam es zum letztendlich tödlichen Schusswaffeneinsatz mit einer Automatikwaffe der Polizei:

Als er etwa zwei bis drei Meter von PK […] entfernt war, gab dieser mit der von ihm geführten Maschinenpistole MP5 mehrere Schüsse auf den Verstorbenen ab, wobei der Verstorbene von fünf Schüssen getroffen wurde, und zwar im Kopf, in der Schulter vorne, im Unterarm, im Bauch und in der Schulter hinten.“ (Bericht des Justizministeriums)

Im Bericht des Oberstaatsanwalts wird die Anzahl der treffenden Projektile von fünf auf vier korrigiert: „Ein Projektil durchschlug einen Körperteil und trat an anderer Stelle in den Körper erneut ein.“ Dabei handelte es sich vermutlich um den Treffer in den – vielleicht zum Schutz angehobenen – Unterarm, der offenbar durchschossen wurde.

Der bereits anwesende Rettungsdienst übernahm die Erstversorgung, bis der später alarmierte Notarzt hinzukam. Trotz Notoperation im Krankenhaus verstarb der Jugendliche nur Stunden später.

In dem Bericht wird zudem angemerkt, dass es keine Videoaufnahmen des Geschehens gebe, weil die Bodycams der Polizisten nicht eingeschaltet gewesen seien. Allerdings, so berichtet „Ruhr 24“, habe man eine Tonaufnahmen des Geschehens, wie Oberstaatsanwalt Carsten Dombert am Freitag, 2. September, gesagt habe. Der Betreuer, der die Polizei zu Hilfe gerufen hatte, blieb demnach die ganze Zeit über in der Leitung und war in der Nähe des Geschehens zugegen. Derzeit werte das Bundeskriminalamt (BKA) die Aufnahme noch aus und man warte auf das Gutachten.

Politisierter Polizeieinsatz

Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange erklärte bereits wenige Tage nach dem Vorfall: „Ich habe großes Vertrauen in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Dortmund und bitte um Verständnis, dass sich die Dortmunder Polizei im laufenden Verfahren nicht zu Einzelheiten des Einsatzgeschehens äußern kann.“ Lange meinte noch, dass es ihm wichtig sei, zu betonen, „dass die Dortmunder Polizei für Vielfalt, Toleranz und Demokratie steht“.

Der Polizeipräsident appellierte zudem, den Ermittlungsbehörden die Möglichkeit zu geben, den Vorfall im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gründlich und lückenlos aufzuarbeiten – ohne Vorverurteilung und voreilige Bewertungen. Dies würden sowohl die Angehörigen des 16-jährigen vermeintlichen Waisen, die Öffentlichkeit als auch die am Einsatz beteiligten Polizisten verdienen.

Politische Aktivisten wähnen Rassenmord

Für die Ermittlungen zu dem Polizeieinsatz in Dortmund wurde aus Neutralitätsgründen das am Vorfall unbeteiligte Polizeipräsidium Recklinghausen betraut. Die Beamten dort richteten dazu bereits eine Mordkommission ein. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte gegenüber der „Bild“ zu dem Fall: „Dass sich die Ermittlungen jetzt auch auf vier weitere Beamte beziehen und sich der Tatverdacht gegen den Schützen möglicherweise verschärfen könnte, schafft eine neue Lage. Das zeigt auch, dass hier genau hingeschaut wird. Staatsanwaltschaft und Polizei klären sauber auf, ich habe Vertrauen in das rechtsstaatliche Verfahren.“

Dennoch fordert eine Petition des Vereins „Entschieden gegen Rassismus und Diskriminierung e.V.“ zusammen mit „Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und anderen Akteur*innen“ eine unabhängige Untersuchungskommission zur „Tötung von Mouhamed D.“, der als „unbegleitete minderjährige Person mit Fluchtgeschichte“ dargestellt wird.

In der Petition wird angesichts des tödlichen Ausgangs gefragt, warum die vielen Polizisten den Jugendlichen nicht mit stich- und schusssicherer Kleidung hätten überwältigen oder ihn „durch nichttödliche Schüsse kampfunfähig“ hätten machen können. Dann wird ein schwerwiegender Verdacht erhoben, „dass beim Tod des sechzehnjährigen Mouhamed D. unprofessionell gehandelt und der Jugendliche ohne Not oder gar aus rassistischen Motiven getötet worden sein könnte“.

Daher brauche es eine vom Landtag NRW beauftragte und autorisierte unabhängige Untersuchungskommission zum Tod des Jugendlichen. Wie sich diese Kommission zusammensetzen soll, da haben die Petenten auch schon eine Vorstellung: „Personen aus Migrant*innen-Selbst-Organisationen, Selbstorganisationen geflüchteter Personen und Schwarzer Menschen, sowie rassismuskritische und unabhängige Kriminolog*innen, Soziolog*innen, Jurist*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Gewerkschafter*innen und Polizist*innen“.

Insider: gezielter Beinschuss bei diesem Polizeieinsatz „völlig illusorisch“

Das Newsportal „Ruhr 24“ sprach über den Polizeieinsatz mit einem Insider, der anonym bleiben wollte. Der langjährige Selbstverteidigungsexperte, der eigenen Angaben nach unter anderem auch Polizisten unterrichtet, gab der Annahme eine Absage, dass der nun unter Verdacht stehende Polizeibeamte den Jugendlichen mit einem gezielten Schuss ins Bein hätte kampfunfähig machen können. Es sei demnach „unwahrscheinlicher als ein Lottogewinn“, hätte der Polizist auf das Bein des auf ihn zukommenden Jugendlichen zielen und auch noch treffen können. Dies hätte dann schon zu Beginn des Einsatzes geschehen müssen, als sich der Jugendliche noch nicht auf die Polizisten zubewegt hatte. Ein solches Vorgehen habe aber nichts mehr mit Deeskalation zu tun.

Der Bericht verweist dazu auch auf den Umstand, dass der Polizist aus einer Entfernung von etwa drei Metern die Schüsse auf den Jugendlichen abgegeben habe. Der Experte empfand es als „unerlässlich“, dass der Polizist mehrere Schüsse abgegeben hatte. Er habe in dieser Situation keine Zeit dafür gehabt, die Wirkung der vorherigen Schüsse zu überprüfen: „Die Vorstellung, in solch einer Zeitspanne nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen, ist absolut abwegig.“ Ein Polizist müsse bereits vorher die Entscheidung zu schießen treffen. Er könne dann bei einer plötzlichen Handlung des Gegenübers nur noch gemäß der bereits getroffenen Entscheidung reagieren, heißt es weiter.

Überführung in den Senegal

Zu den mutmaßlichen Hintergründen des getöteten Jugendlichen schreibt die „Westfalenpost“, dass Mouhamed D. zusammen mit seinem jüngeren Bruder über das Mittelmeer nach Europa kommen wollte. Allerdings soll der Bruder des 16-Jährigen bei der vermutlich von Schleppern organisierten Überfahrt ums Leben gekommen sein. Soviel konnte der Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann dem Blatt nach herausfinden. Auch habe Stüdemann herausgefunden, dass der Vater der Brüder schon länger tot sei und die beiden nach dem Tod der Mutter die Reise nach Europa angetreten hätten.

Recherchen der „Bild“ förderten hingegen andere Erkenntnisse zum familiären Hintergrund von Mouhamed D. zutage. Kurz vor der Beerdigung in Dortmund meldete sich demnach plötzlich die senegalesische Botschaft und erklärte, dass Verwandte des Jungen die Überführung des Leichnams wünschten.

Demnach soll der bei den Behörden zuvor als Waisenjunge geführte Jugendliche noch Eltern im Senegal haben. Laut „Bild“ habe Astou Ndiaye, eine Cousine von Mouhamed D., erklärt: „Sein Vater, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern leben alle und es geht ihnen gut“, so die Frau, die als Bürgermeisterin in Mouhameds Heimatgemeinde Ndiaffate fungiert.

Der Sarg wurde nach einer Trauerfeier am 12. August in der Abu Bakr Moschee in Dortmund, bei der auch Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) anwesend war, in den Senegal überführt. Die Kosten übernahm die Stadt Dortmund. Einen Tag nach der Überführung fand am 18. August die Beerdigung in Ndiaffate statt.



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