Austritt mit klarem Kopf

Von 4. April 2005

Sie war 15 Jahre alt. In einem Klassenzimmer einer Mittelschule in Peking stand Xiaolin Wang mit einigen ihrer Schulkameraden. Die rechte Hand im fast militärischen Gruß, allerdings mit geballter Faust, bezeugten sie die Heiligkeit der Zeremonie. Eine Lehrerin, mit der gleichen Geste, sprach ihnen vor: „Ich schwöre,“, die Schüler sprachen nach: „Ich schwöre,“ „mein ganzes Leben der Sache des Kommunismus zu opfern“, fuhr die Lehrerin fort. Die Schüler sprachen wieder nach. Mit dieser „heiligen“ Eintrittszeremonie wurde die fünfzehnjährige Xiaolin unversehens Mitglied in der Kommunistischen Jugend-Liga in China.

 

„Schon als ich in die Liga der Jungen Pioniere eintrat, habe ich so etwas ähnliches geschworen, da war ich erst sieben Jahre alt. Alle fanden das normal, die Kinder, die Lehrer und unsere Eltern, weil sie das Gleiche in ihrer Jugendzeit mitgemacht hatten.“ erinnert sich jetzt Frau Wang, die seit Jahren in Deutschland lebt und seit Abschluss ihres Studiums als freiberufliche Übersetzerin arbeitet.

 

Die vermeintliche Ehre der Mitgliedschaft von Schülern

 

Für einen Schüler in China wird der Eintritt in die kommunistische Jugend-Liga als Ehre betrachtet, anders gesagt, als eine Belohnung für Schüler, die sowohl brav sind als auch gute Noten haben. Frau Wang gehörte zu den relativ guten Schülern, sie durfte mit 15 Jahren in die Liga eintreten: „Ab dem 14. Lebensjahr wurden zuerst die Schüler, die sich immer nach dem richteten, was die Lehrer sagten und auch gute Noten bekamen, für den Eintritt in die Jugend-Liga ausgesucht. Niemand sagte nein. Ich glaube, kaum jemand kam überhaupt auf die Idee, dass man darauf auch nein hätte sagen können. Bis zum Schluss der Mittelschule waren dann außer einigen wenigen sehr schlechten Schülern alle Mitglied der Jugend-Liga geworden.“ Die Auswahl wurde von sogenannten Lehrern getroffen, die nie unterrichteten, sondern in der Schule ausschließlich für die Kommunistische Jugend-Liga arbeiteten.

 

Doch warum die Mitgliedschaft eine Ehre sein sollte und was Kommunismus ist, davon wusste Xiaolin Wang seinerzeit wenig. Sie und ihre Mitschüler hatten auch kaum eine Chance dazu, denn jeder hütete sich davor Negatives über die KP zu sagen, selbst in ihrer eigenen Familie legte der Vater aus Angst die Finger auf die Lippen, wenn einer zuviel sagen wollte. Die Geschichte der Kulturrevolution wurde eher peripher behandelt. Der Geschichts-Unterricht hörte einfach mit dem Jahr 1949 und der Gründung der Volksrepublik China auf. Die Staatspropaganda tat noch das ihrige um alle auf Parteilinie zu bringen. Die Erziehung in der Schule und überhaupt in der ganzen Gesellschaft spiegelte einzig die Linie der Partei wider. „Wir wussten überhaupt nicht, welche Rolle die KPC in der Vergangenheit gespielt hat.“ erkennt inzwischen Frau Wang.

 

Letzter Anstoß zum Partei-Austritt

 

Was sie in einem kommunistischen Land über die Kommunistische Partei Chinas hätte wissen sollen, aber durch Propaganda und Nachrichtensperre nicht wissen konnte, hat sie in den vergangenen Jahren in Deutschland nachgeholt. Die im November vorigen Jahres in der chinesischen Epoch Times veröffentlichen „Neun Kommentare über die Kommunistische Partei“ haben ihr den letzten Anstoß gegeben. Frau Wangs kürzlich ebenfalls in Epoch Times veröffentlichte Erklärung des Austritts aus der Kommunistischen Jugend-Liga bezeichnet sie als „eine Entscheidung mit klarem Kopf“.

 

Die Austrittserklärungen von Frau Wang und weiteren mehr als einer halben Million Chinesen seit Dezember vorigen Jahres belegen eine in der Geschichte der KPC noch nie da gewesene Austrittswelle. Jeden Tag sind es weiterhin 15.000 bis 20.000 Chinesen, die auf einer Webseite ihren Parteiaustritt bekannt geben.

 

Die Löcher in Chinas Großer Mauer der KP dürften der chinesischen Führung inzwischen mehr Sorgen bereiten, als sie zugeben möchte. Jedenfalls ist zu erfahren, dass die Autoren der „Neun Kommentare über die Kommunistische Partei“ wie eine Stecknadel gesucht werden.

 



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