Augenzeuge des Massakers vom 4. Juni 1989 aus Hongkong: „Ich lebe, um die Wahrheit zu erzählen“
„Ihr Hongkonger, ihr habt schon genug für uns getan. Du musst lebend zurückkehren, um der Welt über dies alles zu erzählen“, erinnert sich Menschenrechtsanwalt Kenneth Lam an die bedeutenden Worte einiger Pekinger Studenten an ihn. Lam war auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor 31 Jahren dabei, als die chinesische Regierung Soldaten und Panzer schickte, um die pro-demokratische Studentenbewegung niederzuschlagen.
Pekinger Studenten haben ihn und seine Landsleute vor den Soldaten geschützt, damit sie nach Hongkong zurückkehren und der Welt über die wahre Geschehnisse in Peking berichten können.
Diese Worte haben ihn seitdem immer wieder motiviert, jedes Jahr zu dieser Zeit an den Kundgebungen und Mahnwachen in Hongkong teilzunehmen. Diese gedenken der Ereignisse in Peking.
Mahnwache zum 4. Juni ist Tradition in Hongkong
2020 ist das erste Mal, dass die Mahnwache in Hongkong abgesagt wurde. Das mache ihn ganz traurig, berichtet Lam im Interview mit Epoch Times Hongkong. Die Mahnwachen in Hongkonger Victoria Park zum 4. Juni sind schon zur Tradition geworden. Letztes Jahr nahmen über 180.000 Menschen daran teil.
Obwohl sie dieses Jahr nicht stattfinden kann, wollte Lam mit der Tradition nicht brechen und fand einen anderen Weg des Gedenkens. Der Menschenrechtsanwalt ging am Abend des 3. Juni mit seinem Freund Chan Ching-wah zum chinesischen Verbindungsbüro in Hongkong, um im Schein der Kerzenlichter an die Opfer des Massakers zu gedenken. Chan war ebenfalls beim Massaker in Peking vor 31 Jahren anwesend. Er hat Fotos und Videos auf dem Platz des Himmlischen Friedens gemacht und nach seiner Rückkehr in Hongkong veröffentlicht.
Chan und Lam entzündeten am Mittwoch (3. Juni) vor dem Verbindungsbüro Kerzen und verbrannten Papier. Das ist eine traditionelle Art des Gedenkens im chinesischen Kulturraum. Man verbrennt Papier, unechte Geldscheine oder man schreibt einen Brief – diese verbrennt man, damit die Verstorbenen sie bekommen und lesen können.
1989 war Kenneth Lam 21 Jahre alt und Student der Chinese University of Hong Kong an der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre. Er leitete damals die Studentenvereinigung in Hongkong und sammelte gemeinsam mit anderen Studenten für die Pekinger Studentenbewegung Geld- und Materialspenden. Anschließend reisten sie nach Peking. Studenten aus ganz China hatten in Peking schon einige Monate vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens dauerhaft protestiert und waren in Hungerstreik gegangen. Lam sagte der Bewegung in Peking seine Unterstützung zu und blieb dort.
Lam erlebte die Gewalt der Soldaten – Panzer überfuhren Menschen
Der Menschenrechtsanwalt erinnert sich daran, dass am 3. Juni gegen 23 Uhr der erste Panzer auf den Platz fuhr und zwar relativ schnell. Die Studenten und Arbeiter waren wütend und versuchten, den Panzer zu stoppen. Aber der Panzer fuhr einfach über die Menschen, ohne anzuhalten.
Lam erzählt im Interview, dass immer mehr Panzer und Soldaten auf den Platz kamen. Gegen 2 Uhr morgens am 4. Juni marschierten sehr viele Soldaten von der westlichen Seite des Platzes in Richtung Osten. Während des Marsches schossen sie in die Menschenmenge auf dem Platz. Als der Soldatenzug das Bild vom Mao Zedong passierte, kam ein Bus und wollte die Soldaten aufhalten. Lam war Zeuge, wie einige Soldaten den Bus anhielten und hineinstürmten. Sie zerrten den Busfahrer heraus und schlugen mit ihren Waffen auf ihn ein, bis er sich nicht mehr bewegte.
Einige Arbeiter versuchten, die Soldaten zu stoppen, und einer von ihnen warf eine Flasche nach den Soldaten. Lam hörte einen Schuss und der Arbeiter fiel zu Boden. Er eilte mit anderen Studenten zu dem Mann, um ihn zur nächsten Rettungsstation am Rande des Platzes zu tragen. Dem Mann wurde in den Rücken geschossen. Lam erinnert sich daran, dass er viel Blut verlor. Das Blut floss aus ihm „wie aus dem Wasserhahn“. Als sie die Rettungsstation erreichten, war der Mann schon leblos.
Das hat ihn zutiefst erschüttert: „Das war für mich das erste Mal, dass ich auf dem Platz mit eigenen Augen gesehen habe, dass Soldaten Bürger und Studenten erschießen – das hat mich sehr bedrückt“, erzählt Lam der Reporterin der Hongkonger Epoch Times.
Pekinger Studenten beschützten die Hongkonger: „Du musst lebend zurückkehren, um der Welt über dies alles zu erzählen“
Lam blieb aber trotz alldem auf dem Platz des Himmlischen Friedens, um den Studenten in Peking zu helfen. Um 4 Uhr morgens saß er auf den höchsten Stufen der Treppe vor dem Volksheldendenkmal auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Plötzlich stürmten fünf bis sechs Soldaten auf ihn und andere Studenten zu und bedrohten sie mit Waffen. Er dachte damals, dass sein Leben zu Ende sei, aber die Studenten aus Peking trennten sie von den Soldaten und schoben sie weg.
Sie sagten zu Lam: „Ihr Hongkonger, ihr habt schon genug für uns getan. Du musst lebend zurückkehren, um der Welt über dies alles zu erzählen.“ Seitdem hat er zahlreiche Interviews über seine Erlebnisse auf dem Platz vor 31 Jahren gegeben. Er nimmt an allen Gedenkveranstaltungen in Hongkong teil. Der mittlerweile 52-Jährige möchte die Welt an das Massaker erinnern.
Peking 1989 – Hongkong 2019
Lam erzählt der Reporterin, dass er die Stimmung in Hongkong seit Mai dieses Jahres so ähnlich findet wie in Peking vor 31 Jahren.
Am 22. Mai haben die Hongkonger erfahren, dass der Volkskongress in Peking das nationale Sicherheitsgesetz für Hongkong verabschieden will. Es soll „Abspaltung“, „Subversion“, „Terrorismus“ und die „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ unter Strafe stellen und den offenen Einsatz der festlandchinesischen Sicherheitsbehörden in Hongkong ermöglichen. Dies ruft Wut und Empörung bei den Hongkongern hervor, so Lam.
Er lud an dem Tag seinen Freund Chan Ching-wah ein, eine kleine Mahnwache vor dem chinesischen Verbindungsbüro in Hongkong abzuhalten – über 100 Polizisten bewachten die beiden. An dem Tag eigentlich sein 52. Geburtstag, aber es war ihm nicht zum Feiern zumute. Lam beschreibt, dass er wütend und zugleich traurig über die Entwicklungen in Hongkong ist.
Seine Generation erlebte es, wie Chinas Regierung mit Großbritannien eine gemeinsame Vereinbarung über „Ein Land, zwei Systeme“ traf. Er hat das Versprechen beider Nationen erlebt und selbst daran geglaubt, berichtet er Epoch Times.
KPCh brach ihr Versprechen schon nach 23 Jahren
Alles nur leere Versprechungen wie Lam mittlerweile feststellen musste. An dem Sicherheitsgesetz sehe man, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) alle Versprechen gegenüber Hongkong zunichte gemacht hat – sie hat sich an kein Versprechen gehalten.
Die ältere Generation, so Lam weiter, warnte die Jüngeren vor der Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit der KPCh. Lam war aber damals zu jung, um die Wahrheit zu erkennen. Er habe noch davon geträumt, dass die KPCh sich an die Vereinbarung mit Großbritannien für 50 Jahre halten würde.
Aber die KPCh hat schon nach 23 Jahren ihr Versprechen gebrochen und die Hongkong zugesprochenen Freiheiten aberkannt. Deswegen findet Lam es so wichtig, dass man sich dagegen laut ausspricht.
Lam sagt im Interview, dass er sich auch Sorgen um seine eigene Sicherheit mache. Als Rechtsanwalt vertrat er viele Mandanten gegen Behördenentscheidungen. Aber durch das neue Sicherheitsgesetz kann man die Regierung nicht mehr herausfordern, sonst wird man sofort wie ein Straftäter behandelt.
Die zwei Seiten der Menschlichkeit
Der Anwalt sieht eine neue Zeit anbrechen: In Hongkong durfte man bisher immer eine andere Stimme vertreten, die Stimme des Gewissens muss aber nun zum ersten Mal stumm bleiben.
Gemeinsamkeiten zwischen den Studentenbewegungen von Peking im Jahre 1989 und von Hongkong 2019 sieht er zur Genüge – vor allem in der Menschlichkeit, die ihre schöne oder hässliche Seite zeigen kann.
Zum einen sieht er die schöne Seite der Menschlichkeit in den selbstlosen Handlungen der Studenten. Sie würden ihr Leben für eine bessere Zukunft der Nation opfern. Dies war der Fall vor 31 Jahren in Peking und auch im letzten Jahr in Hongkong, sagt Lam.
Aber nicht nur die Studenten, auch die Bürger, teilweise einfache Arbeiter, versuchten, die Militärwagen in Peking zu stoppen. Manche von ihnen legten sich sogar auf den Boden und riskierten damit ihr Leben.
2019 in Hongkong haben sich Studenten, ja sogar Schüler, opfern wollen – alles für die Freiheit Hongkongs. Dies war die glänzende, schöne Seite der Menschlichkeit, wie Lam beschreibt. Das zog die Aufmerksamkeit der internationalen Gesellschaft auf sich und die Kontrolle durch das Regime konnte hier nicht wirken.
Zum anderen sah er aber bei beiden Ereignissen die hässliche Seite der Menschlichkeit. Vor 31 Jahren setzten die Studenten große Hoffnungen auf Deng Xiaoping, dass er ihre Sache unterstützen würde. Der damalige KP-Führer im Hintergrund hat sich allerdings für die hässliche Seite entschieden und sich den Soldaten statt den Studenten zugewandt.
Die Unterdrückung durch die KPCh wird immer stärker
Danach sah man, wie sich viele KP-Funktionäre hinter die Regierung stellten. Manche von ihnen sagen immer noch, dass vor 31 Jahren gar keine Schüsse auf dem Platz gefallen sind. Lam sieht darin die hässliche Seite der Menschlichkeit.
Einige von den damaligen Funktionären sagen sogar, dass die Unterdrückung der Studenten nötig war, damit man sich danach der Wirtschaft verschreiben konnte. „Das ist unverschämt“, sagt Lam im Interview. In den Handlungen der KP-Funktionäre sieht Lam Parallelen zu Hongkong, wobei manche Wirtschaftsvertreter die Polizeigewalt und die Regierung unterstützen.
„Ich finde, die Unterdrückung durch die KPCh und die Kontrolle werden immer stärker. Als Mensch hat man die Wahl: Will man die hässliche oder die schöne Seite der Menschlichkeit? Es ist nur eine Entscheidung im Denken.“ Lam ist überzeugt, dass solche totalitäre Systeme die schöne Seite der Menschlichkeit nicht zerstören können. Man wird sich eher von den Menschen trennen, die die hässliche Seite zeigen.
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