China: Ausraubung des Volkes durch die Nomenklatura

Ein Kommentar von Liu Xiaobo*
Titelbild
Liu Xiaobo - ein beispielhafter Kämpfer gegen die Medienzensur in China. (Foto: Reporter ohne Grenzen)
Von 24. November 2006

Der Fall des Chen Liangyu hat kürzlich große Aufmerksamkeit in China und auch international erregt. Das lag nicht nur daran, dass Chen Liangyu seit elf Jahren der höchste Funktionär ist, der scheinbar wegen Korruption stürzte, tatsächlich aber einem Machtkampf in der obersten Parteiebene zum Opfer fiel. Trotzdem geht es bei diesem Fall um immerhin vier Milliarden veruntreute Yuan [400 Millionen Euro] aus dem Shanghaier Pensionsfonds. Es ist Geld der zwölf Millionen Shanghaier, mit dem sie ihr Leben absichern wollten. Jetzt ist es freilich zum Grundstock des plötzlich sehr reich gewordenen Chefs der Happiness Co. geworden, des Herrn Zhang Rongkun [Dschang Jung-kun] (Fotos rechts unten) sowie einiger anderer Herren.

Für den Pensionsfonds verantwortlich waren Chen Liangyu, Zhu Junyi [Dschu Djün-yi] und weitere Beamte. Die ganze Geschichte zeigt uns, wie die Funktionär-business-Kollaboration der gierigen Hände sich längst nicht mehr nur auf die Plünderung des Staatseigentums beschränkt, sondern inzwischen zum Raub der Rücklagen des Volkes übergegangen ist.

Seit Jahren ist die korrupte Ausplünderung von Versicherungsfonds (Kranken-, Renten-, Arbeitslosenversicherung, housing fund [Zwangsabgabe von Beschäftigten, angeblich zum Ansparen für Wohnungskauf, -renovierung etc., eine Art Zwangs-Bausparkasse also], AIDS-Fonds etc.) zu einer allgemeinen Erscheinung im Land geworden, die sich keineswegs nur auf Shanghai beschränkt. Einige Beispiele, die in die Öffentlichkeit drangen:

Chen Pingsong, Mitarbeiter des Xiao Jiang-Pensionsfonds im Kreis Ping Yang, Provinz Zhejiang, veruntreute 1,1 Millionen Yuan aus dem Fonds. Teils zahlte er damit Schulden zurück, teils verzockte er es, kaufte Lotterielose usw. Zwölf Monate lang tat er das, dann erst flog der Betrug auf. Im ganzen Land sind auf diese Weise bislang ca. 16 Milliarden Yuan [1,6 Milliarden Euro]
veruntreut worden, wie die offzielle [staatliche] Nachrichtenagentur Neues China am 9. Mai aus
der Stadt Nanchang berichtete.

Sieben Mitarbeiter des Kreises De An, Provinz Jiangsu, darunter der Leiter des Pensionsfonds, Jin Zonggen, fälschten die Kassenbücher und veruntreuten in Kollaboration mit der Versicherungseinheit öffentliche Gelder (vgl. Wirtschafts-Referenz, 30. März 2006).

Der korrupte Funktionär Li Shubiao aus Chenzhou, Provinz Hunan, veruntreute in 44 Fällen insgesamt 100 Millionen Yuan [10 Mio. Euro] des dortigen housing fund. Das Geld verspielte er in Macao. (vgl. Meldung der Agentur Neues China aus Changsha, 16. Mai 2005). 300 Millionen Yuan [30 Mio. Euro] entnahm der Geschäftsführer Fan Jianhua [baut China auf] aus dem ihm unterstehenden housing fund und verschwand damit auf Nimmerwiedersehen (vgl. Hong konger Handels blatt, 22. Januar 2005).

Von den 10 Millionen Yuan Bestechungsgeld, die Yang Songquan, Parteisekretär des AIDSKatastrophen-Kreises Shang Cai, eingestrichen hatte, kam ein beträchtlicher Teil aus dem Verhütet AIDS Fonds (vgl. Pekinger Abendzeitung, 14. August 2006).

Am 26. März hatte New Express berichtet, dass im Rentenfonds der Stadt Kanton ein Loch von sechs Milliarden Yuan klaffe und außerdem 890 Millionen Yuan für Bestechungszwecke zweckentfremdet worden seien und wohl nicht mehr wiederbeschafft werden könnten.

Weitere Fälle: In Puyang, Provinz Henan reduzierten Mitarbeiter des Büros für Arbeitsschutz die Rentenabgaben der Betriebe um 8,7 Milliarden Yuan [870 Mio. Euro] und beschafften dafür sechs Limousinen; in Acheng, Provinz Heilongjiang, verlieh die Rentenkasse 91 Millionen Yuan an Unternehmen; in Wenzhou, Provinz Zhejiang, nahm sich die Rechnungsführung des Rentenfonds 60 Millionen Yuan, um damit Vorzugsaktien zu kaufen; im Kreis Qingshen, Stadt Meishan, Provinz Sichuan, zweigte die Regierung 124 Millionen Yuan aus der Pensionskasse ab; in einem Kreis der Stadt Yiyang, Provinz Hunan, waren es 690.000 Yuan. (Alle Fälle aus einer Zusammenstellung der Agentur Neues China, Changchun, 21. August 2006).

Der Rundfunksender Freies Asien berichtete am 3. Oktober, dass 7.000 Angestellte des Shekou Distrikts der Stadt Shenzhen eine gemeinsame Eingabe unterzeichnet hätten. Darin enthüllten sie der Regierung in Peking den Skandal, dass ihrer Pensionskasse aufgrund von Korruption sage und schreibe 180 Milliarden Yuan fehlten.Der Neureich-Machthaber Wu Yonghong [ewig rot] aus der Provinz Fujian bediente sich ebenfalls im Pensionsfonds, um undurchsichtigen Finanzmachenschaften nachzugehen. Dazu nutzte er seine Position als Vizevorstand der MF Securities, die ihm die Firma China Kai Li zugeschanzt hatte. In enger Kolaboration mit Beamten, unter Einsatz von Prostituierten und durch Aktionärsbetrug plünderte er sich acht Milliarden Yuan [800 Mio. Euro] zusammen. 1,6 Milliarden davon kamen aus dem Pensionsfonds der Beijing Pharmaceutical Group [gilt in China als Top-Firma] und sind wohl für immer verloren (Bericht in 21st Century Business Herald, 16. Februar 2004).

Während die Mächtigen und Reichen die Rentenkassen ausräubern, kann sich das Volk keine Arztbesuche mehr leisten, das Schulgeld für die Kinder nicht mehr zahlen oder die Wohnung unterhalten. Kaum irgendwo auf der Welt ist die Last der sozialen Sicherung so groß wie bei uns in China. Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit und die rasche Alterung der Gesellschaft, die geringe soziale Absicherung, die riesigen offenen Rechnungen der Vergangenheit, der Mangel an Kapital, das alles formt die das Auge schlagenden sozialen Probleme in diesem Land. Das Institut für Soziale Sicherung, das zum Instituts für Öffentliche Verwaltung der Universität des Chinesischen Volkes [Peking] gehört, hat in seinem Spezial-Report „Die verdeckten Schulden aus dem Transfer von Staatseigentum und Pensionsrückzahlungen“ vorgerechnet, dass die verdeckten Schulden der sozialen Sicherung in China sich auf 8.000 Milliarden Yuan [800 Mrd. Euro, mehr als ein Drittel des aktuellen Bruttoinlandsproduktes] belaufen.

Feng Jianshen, Vizevorsitzender des Vorstands des Chinesischen Pensionsfonds, wies jetzt auf folgendes hin:

Von den die drei großen Bereichen der chinesischen Sozialversicherung (Renten-, Arbeitslosigkeit- und Krankenversicherung) deckt gegenwärtig nur die Arbeitslosenversicherung ihren Grundbedarf ab. Dies freilich nur, weil sie ausschließlich für Mitarbeiter regulärer Einheiten zahlt. Diejenigen aber, die wirklich Geld brauchten, kommen für Leistungen gar nicht in Frage. In der Rentenkasse sind derzeit 155 Millionen Menschen versichert – also nur 60 Prozent der in den Städten Beschäftigten; Experten meinen hingegen, dieser Anteil betrage sogar nur 50 Prozent. Und dennoch, obwohl die Abdeckung so gering ist, fehlen der Kasse jährlich Dutzende Milliarden Yuan. Berechnete man die Rentenversicherten aber auf die Gesamtbevölkerung, so deckte die Versicherung nur noch 20 Prozent der Chinesen ab. Die Bauern, die Bauern-Arbeiter [beliebter deutscher Euphemismus: Wanderarbeiter] und die in nicht registrierten Arbeitsverhältnissen Beschäftigten fallen hier gänzlich durchs Rost. Die Krankenversicherung deckt noch weniger ab. Die Zahlen des Arbeits- und Sozialministeriums zeigen, dass Ende 2003 nur 20 Prozent der städtischen und nur 10 Prozent der Landbevölkerung (über die Kooperative medizinische Versorgung) versichert waren.

Wenn nun angesichts dieses ohnehin eklatanten Mangels an Sicherung für das Volk durch die Konspiration von Nomenklatura und business das bisschen Vorhandene auch noch in den Geldsack einer Gruppe Mächtiger und Reicher fließt, die damit Korrumpieren und Veruntreuen, ungesicherte Kredite vergeben, sich Darlehen nehmen, um in irgendwas zu investieren, dann profitiert davon nur diese kleine Gruppe. Die Kosten hingegen trägt die Bevölkerung, die in die Versicherungen einzählen.

Ohne institutionellen Rückhalt, ohne Überwachung durch die Presse und das Recht wird das von der Nomenklatura kontrollierte Versicherungskapital umso größeren Risiken ausgesetzt sein je größer es ist. Ohne grundlegende System-Reform wird es deshalb niemals möglich sein, die Ausbreitung der Korruption und die Verkommenheit der Funktionäre grundlegend zu stoppen – selbst wenn die Anti-Korruptionskampagne vielleicht einmal sogar ein Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros erwischen sollte.

8. Oktober 2006, geschrieben zu Hause

*Liu Xiaobo(49), ehemaliger Philosophieprofessor an der Universität Peking hat ein Ziel: Die chinesische Presse muss ein Gegengewicht zu der Allmacht der chinesischen Kommunistischen Partei werden. Deshalb kämpft er ohne Unterlass für die Freiheit der Presse und für die Freilassung inhaftierter Journalisten und Dissidenten. Er veröffentlicht seine Aufrufe im Internet, in Zeitungen aus Hong Kong und in der chinesischen Diaspora. Dabei setzt Liu immer wieder seine Freiheit aufs Spiel.

Mit freundlicher Genehmigung von Sju Tsai – Die Welt der Chinesen (www.xiucai.oai.de)

Der deutsche Sinologe Dr. Jörg-Meinhard Rudolph ist Herausgeber des seit dem Jahr 2002 erscheinenden China-Newsletters Xiucai (sprich: Sju Tsai), der sich fast ausschließlich auf chinesische Quellen stützt.



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