Chinesischer Publizist: Chinas Führer sollten die Vergangenheit klarstellen

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Yao Jianfu in Budapest im Oktober 2012.Foto: Lea Zhou / The Epoch Times
Von 1. November 2012

 

Auf einer Tagung in Budapest sprach Lea Zhou, die Chefredakteurin der chinesischen Epoch Times Europe, mit dem bekannten chinesischen Publizisten Professor Yao Jianfu. Im Mai dieses Jahres gab Yao in Hongkong ein vielbeachtetes Buch heraus: „Conversations with Chen Xitong“. Chen Xitong war im Juni 1989 Bürgermeister von Peking und jetzt der erste der alternden chinesischen Politiker, der öffentlich das Tiananmen-Massaker bedauerte.

Professor Yao arbeitete im Forschungszentrum des chinesischen Staatsrats für die ländliche Entwicklung. Er war Mitglied des Think-Tank des ehemaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas, Zhao Ziyang und seines politischen Sekretärs Bao Tong.

Professor Yao wurde zur „Jahreskonferenz des internationalen Forums für die Förderung der Demokratie in China und Asien“ im Oktober in Budapest eingeladen.

Epoch Times: Herr Professor Yao, die derzeitige Führungsmannschaft der Kommunistischen Partei Chinas wird nach dem 18. Parteitag in den Ruhestand gehen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung Chinas in den letzten 10 Jahren?

Yao Jianfu: In den letzten 10 Jahren hat sich Chinas Wirtschaft rasant entwickelt, mit einem jährlichen Wachstum von etwa 10 Prozent. Das Einkommen der Bevölkerung, vor allem von den Intellektuellen, hat sich deutlich erhöht; die Steuern für die Bauern sind gesunken; der Lebensstandard hat sich deutlich verbessert. Eine weitere Errungenschaft ist der Beitritt zur WTO, China ist damit mit der Welt verbunden.

Epoch Times: Was ist Ihrer Meinung nach die Hauptursache für das rasche Wachstum des chinesischen BIP?

Wanderarbeiter in Hefei, Provinz Anhui.Wanderarbeiter in Hefei, Provinz Anhui.Foto: STR/AFP/Getty Images

Yao Jianfu: Die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft entstand vor allem aus dem Beitrag der chinesischen Bauern. Das zeigt sich in zwei Aspekten: der erste ist der Landbesitz. Ich habe in Ningbo (in der Provinz Zhe Jiang) eine Untersuchung durchgeführt. Die lokale Regierung leistet den Bauern eine Entschädigung von 10.000 Yuan pro Hektar Land, aber die Regierung verkauft an die Immobilienentwickler einen Hektar Land zu mit einem Preis von 500.000 Yuan, die Differenz zwischen den beiden Preise liegt bei 490.000 Yuan. Von diesem Profit bekommt die lokale Regierung 60 Prozent und die Immobilienfirma 40 Prozent. Dieser Rechnung zufolge bedeuten 100 Millionen Hektar Landbesitz einen Gewinn von 49 Billionen, das ist eine enorme Menge an Einnahmen für die Regierung.

Der zweite Betrag der Bauern entstand durch die Arbeit der aus ländlichen Regionen stammenden Wanderarbeiter. Laut den Daten des ehemaligen Leiters des Instituts für Sozialwissen der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaft Lu Xueyi, belief sich das jährliche BIP pro Kopf vor 10 Jahren auf 20.500 Yuan, das Einkommen der Bauern betrug 10.000 Yuan, ein Unterschied von 10.500 Yuan. Wie viel ergibt das bei 200 Millionen Wanderarbeitern? Drei Billionen Yuan. Das schafft eben die wirtschaftliche Basis, die den Export von billigen Industrieprodukten, die soziale Stabilität und den Versorgungsbedarf der städtischen Bevölkerung gewährleistet. Die Wanderarbeiter leisten eine Mehrarbeit.

Ich fragte einen Professor an der Zentralen Parteischule, ob das eine Art „Mehrarbeit“ ist. Er gestand. Ich fragte ihn weiter, ob das auch als „Mehrwert“ gesehen werden kann. Er sagte nein. Ich fragte, warum? Er sagte, dass es in sozialistischen Ländern keinen „Mehrwert“ gebe. In anderen Worten, dies ist ein Wert, den die Wanderarbeiter mit ihrer „Mehrarbeit“ geschöpft haben, der aber nicht „Mehrwert“ genannt werden kann. Drei Billionen Yuan in einem Jahr, in 10 Jahren sind das dann 30 Billionen Yuan.

Ich halte diese beiden Punkte für den entscheidenden Faktor für das Wirtschaftswachstum Chinas in den letzten 10 Jahren. In der Tat, unverblümt gesagt, hat sich die Wirtschaft Chinas durch die Ausbeutung der Bauern entwickelt.

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Das Land sollte Eigenturm der Bauern sein. Aber Tatsache ist, dass die lokale Regierung den Wert des Landes pro Hektar von 10.000 Yuan auf 500.000 Yuan vermehrt hat und die Bauern haben von dem Mehrwert nichts bekommen. Wenn die Bauern auf eigenem bewohntem Landbesitz ihr ursprüngliches Wohnhaus zu mehrstöckigen Häusern umbauen und sie an arme städtische Einwohner vermieten oder verkaufen wollen, das ist wiederum illegal. Warum dürfen die Stadteinwohner keine Eigentumswohnung auf dem Land kaufen, aber umgekehrt dürfen die Bauern in der Stadt kaufen. Den Bauern wird es nicht erlaubt, ihr Haus zum Zweck der Vermietung umzubauen. Dadurch wird das Haus dem auf eigenen Land des Bauern zu illegalem Eigentum umgewandelt. All diese Dinge verursachen eine Menge Probleme.

Wanderarbeiter in Peking.Wanderarbeiter in Peking.Foto: Liu Jin/AFP/Getty Images

Hinter diesem Problem versteckt sich auch ein soziales Problem, welches wert ist, es zu untersuchen und zu erforschen. Nur 20 Prozent der Bauern leben mit Ehegatten in der Stadt, während 80 Prozent vom Ehegatten getrennt wohnen. Das ist eben der Grund, warum jedes Jahr vor dem Neujahrsfest eine hohe Welle bei der Heimreise durch die Wanderarbeiter entsteht. Es ist zwar vorstellbar, wenn die Ehepaare ein Jahr oder drei Jahre, fünf Jahre, sogar zehn Jahre getrennt leben. Aber was passiert bei 10 Jahren, 20 Jahren oder 30 Jahren? Ist das nicht allzu unmenschlich?

Darüber hinaus gibt es noch ein neues Problem: In den Städten anderer Staaten „dürfen“ Armenviertel entstehen. Die Armen sind zwar arm, aber die Familien leben zusammen. Aber der ehemalige Parteichef Jiang Zemin sagte, dass wir als ein sozialistisches Land keine Slums haben dürfen. Ohne Armenviertel ist es aber für die Wanderarbeiter unmöglich, mit der gesamten Familie in den Städten unter einem Dach zu leben.

Wenn die Familien so Jahrzehnte lang getrennt sind, wie ist das neue Problem zu lösen? Laut den Untersuchungen der Sozialwissenschaftlerin Li Yinhe in der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaft sind 10 Prozent der Wanderarbeiter homosexuell; über 10 Prozent besuchen Prostituierte; besteht darin nicht eine potenzielle Gefahr für die hohe Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten und AIDS? Würde die Erkrankung an sexuell übertragbaren Krankheiten und AIDS ein paar Jahre später nicht in exponentieller Linie steigen? Wenn das passieren würde, könnten die Kosten dafür sehr hoch sein, um dieses Problem zu lösen. Darüber hinaus kann das auch zu schweren sozialen und ethischen Problemen führen.

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In China besteht jetzt schon ein Ungleichgewicht der Geschlechter, es gibt 30 Millionen „Überschuss“ an Männern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass in Zukunft die Frauen auf dem Land lieber arme Männer in der Stadt anstatt ländliche Männer heiraten. Also, Dutzende von Millionen an überschüssigen Männern werden sich wahrscheinlich in ländlichen Gebieten konzentrieren, das führt zu vielfachen potenziellen Gefahren wie sexueller Kriminalität und psychischem Missstand gegen die Gesellschaft. Die wirtschaftliche Entwicklung bringt gleichzeitig potenzielle gesellschaftliche Konflikte und Probleme hervor, die eines Tages explodieren könnten. Dürfen sie in dieser Generation der absoluten Herrscher nicht ausbrechen, werden sie bestimmt auf die künftigen Generationen verschoben.

Natürlich ist das ökologische Problem noch viel schwerwiegender. Wir sehen hier in Budapest noch die blaue Donau. In China sind die Flüsse verseucht. Welche Auswirkungen wird dies auf die zukünftigen Generationen bringen? Sie werden unvermeidlich ihre Gesundheit und ihr Leben beeinflussen.

Tapferer Transportunternehmer in Peking.Tapferer Transportunternehmer in Peking.Foto: Liu Jin/AFP/Getty Images

Jetzt vor dem 18. Parteitag wird in China die Hymne von den 10 Prozent Wirtschaftswachstum gesungen. Es wird gepriesen, dass China zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt geworden ist. Ich denke aber, man soll auch darauf die Aufmerksamkeit lenken, was für potenzielle Konflikte und Probleme die jetzigen Führer ihren Nachfolgern hinterlassen, und was für gravierende soziale Konsequenzen entstehen werden, wenn diese Konflikte und Probleme ausbrechen.

Es ist immer notwendig, von beiden Seiten her die Vergangenheit zu betrachten. Während man die helle Seite sieht, soll man auch einsehen, dass die Dunkelheit kommt, wenn die Sonne untergegangen ist. Egal ob der baldige Machtübergang reibungslos oder weniger glatt sein wird, werden nicht zwangsläufig auch die Probleme und Belastungen parallel auf die nächste Generation der Führung übergehen? Wir hoffen, dass die neuen Führer diesen Widersprüchen und Problemen ins Auge schauen können, und die Bedürfnisse der Menschen tatsächlich erfüllen. Dass sie die Menschen als Fundament erhalten und freundlich zu dem Volk sein mögen.

Epoch Times: Sie haben vorhin gesagt, der Landverkauf und der Beitrag der Wanderarbeiter sei der eigentliche Grund für Chinas BIP-Wachstum. Jetzt kommt die Krise um die Ackerflächen in China immer mehr in den Vordergrund. Die lokalen Regierungen bauen Entwicklungs-Zonen auf, dadurch wird eine große Menge von Ackerland der Bauern besetzt. Auf dem Land wird immer mehr Ackerland aufgegeben, die Ackerflächen sind stark reduziert und eine große Zahl von Bauern gehen in die Stadt um zu arbeiten. Wenn eines Tages China den Status der Welt-Fabrik verlieren würde, wird eine große Zahl von Wanderarbeitern arbeitslos. Was können und werden sie tun, wenn sie ihre Lebensgrundlage, nämlich ihren Landbesitz, verloren haben?

Yao Jianfu: Dies ist ein sehr ernstes Problem. Diese Leute werden wahrscheinlich die treibende Kraft für eine neue Kulturrevolution werden. Sie sind der Totengräber, den die Kommunistische Partei selbst hergestellt hat. Die Wanderarbeiter machen zwar jetzt noch keinen Aufstand, weil sie im Moment noch Jobs haben. Aber sobald sie keinen Ausweg mehr sehen, werden sie rebellieren.

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Epoch Times: Am 8. November beginnt der 18. Parteitag. In der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas verlief die höchste Machtübergabe schon oft weniger friedlich. Vor 10 Jahren verlief die Übergabe zwischen Jiang Zemin und Hu Jintao relativ reibungslos, aber jetzt erscheint die Sache mit vielen wellenartigen Bewegungen zu verlaufen. Was denken Sie, woran es liegt?

Yao Jianfu: In der Geschichte der KPCh, seit der Niederschlagung der „Vierer Bande“ bis zur Entmachtung von Hu Yaobang und Zhao ZiYang, ging die Übergabe der Macht in Wirklichkeit noch nie ruhig. Es erschien die Übergabe von Jiang Zemin auf Hu Jintao zwar relativ reibungslos, aber in der Tat hatte Jiang Zemin danach immer noch die Hauptmacht. Daher ist der diesmalige Machtübergang sehr wichtig. Wenn der ruhig verlaufen könnte, wäre es schön. Auf jeden Fall hat der Vorfall von Bo Xilai einen Schatten über den Parteitag gelegt. Das spiegelt eben wider, dass die Kommunistische Partei Chinas bei der Reform des politischen Systems noch eine Menge Arbeit zu leisten hat.

Seitdem Mao Zedong an der Macht war, herrschte in China die Macht der einzelnen Führer. Mao und Deng Xiaoping waren in ihrer Ära Einzelführer. Nicht nur Jiang Zemin, sondern auch Hu Jintao wurden schließlich von Deng Xiaoping bestimmt, beide sind Produkte der „strongman politic“. Jetzt ist die „strongman politic“ vorbei, daher ist es meiner Meinung nach ganz normal und nicht überraschend, dass in dieser Zeit eine Person wie Bo XiLai vorkommt und die Machtübergabe stört. Wenn diese Sache letztendlich ruhig vorbei gehen könnte, dann wäre das für die KPCh ein Glück in den tausenden Unglücken.

Epoch Times: Keine „Starkermann-Politik“ bedeutet, dass die Macht sich auf die verschiedenen Personen verteilt. Wie beurteilen Sie das?

Yao Jianfu: Eine Machtverteilung kann möglicherweise den Einfluss des Diktators beschränken. Ich halte das für eine gute Sache. Das bedeutet, dass keiner allein entscheiden kann. Obwohl nicht jeder eine gleiche Stimme hat, wird die Entscheidung jedoch nach der endgültigen Anzahl der Stimmen getroffen. Das ist mindestens besser als das Vorherige, dass nur eine Person den Ton anschlagen konnte.

Zum Beispiel wollte Mao aus eigener Idee den Großen Sprung durchführen, niemand wagte, gegen ihn zu sprechen. Sobald Peng Dehuai an ihn einen Brief geschrieben hatte, wurde er aus der Führungsspitze gekickt. Später führte Mao die Kulturrevolution durch. Dabei deutete er darauf hin, dass er nur mit einem kleinen Finger Liu Shaoqi [Anm.d. Liu war derzeit der stellvertretende Staatschef Chinas] niederschlagen könne. Wieder wagte niemand, sich ihm zu widersetzen. Schließlich brachte Mao das ganze Land in eine langfristige Katastrophe. Ich denke, dass solche Möglichkeiten in Zukunft weniger werden, daher ist die Machtverteilung vorteilhaft.

Kinder von Wanderarbeitern sind illegal in der Stadt. Juni 2012.Kinder von Wanderarbeitern sind illegal in der Stadt. Juni 2012.Foto: STR/AFP/GettyImages

Epoch Times: Glauben Sie, dass Xi Jinping der chinesische Gorbatschow wird?

Yao Jianfu: Xi Jinping ist definitiv nicht der chinesische Gorbatschow. Nach der Machtübernahme wird Xi auf keinen Fall sofort die „4. Juni-Bewegung“ von 1989 rehabilitieren. Ganz einfach wird er sich weiter an „die vier grundlegenden Prinzipien“ der Partei halten, wie kann er sonst der Nachfolger sein? Was er übernimmt, ist ja eben die Macht, die Mao errungen hat. Er kann auf diese Macht nicht verzichten. Somit kann man nicht zu viel oder etwas Unrealistisches von ihm erwarten. Er ist der Nachfolger des Vertreters der Kommunistischen Partei.

Wenn das, was die Kommunistische Partei begangen hat, umgedreht würde, könnte sie auch nicht mehr zu existieren. Wir können auf ihn warten, ihm einige Zeit lassen, um die Fehler der älteren Generation zu korrigieren, um erneut zu starten. Er sollte für die Geschichte seinen Beitrag bringen, anstatt sich von den Lasten der älteren Generation hinunterdrücken zu lassen und keinen Schritt nach vorne zu unternehmen.

Epoch Times: Die Zeit wartet aber nicht auf die Menschen, schließlich sind die Geduld und Tragfähigkeit der Bürger begrenzt. Was denken Sie, wie viel Zeit bleibt Xi Jingping noch übrig?

Yao Jianfu: Ist nicht jede Regierungsperiode nur fünf Jahre? Daher sollte er die Zeit voll nutzen.

Das Gespräch führte Lea Zhou.

 




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