„Das Komplott des Dalai Lama, um China zu spalten und zu demütigen“

China behauptet, es hätte „reichlich Beweise“ dafür, daß der Dalai Lama die Unruhen in Tibet angestiftet und inszeniert habe, doch keiner dieser Beweise ist bislang veröffentlicht worden.
Titelbild
Protestierender Tibeter in London erschien als „politischer Gefangener“. (Andrew Stuart/AFP/Getty Images)

April 2008 – Folter braucht Zeit bis sie Ergebnisse liefert, doch die Ergebnisse sind vorhersagbar. Früher oder später werden wir gebrochene Tibeter sehen, die öffentlich bekennen, bei einem üblen Komplott mitgewirkt zu haben, das der Dalai Lama geplant habe. China wird bekommen, was es will, selbst wenn es noch viele weitere Tibeter geben wird, die lieber sterben werden als Anschuldigungen gegen den Dalai Lama zu erheben, den sie als die Verkörperung des höchsten Ausdrucks von Mitgefühl ansehen.

Viele sterben jetzt, – ihre Glieder gewaltsam gebrochen – in ihren Gefängniszellen. Legitimiert wird diese Gewalt durch den von der Kommunistischen Partei ausgerufenen „Volkskrieg“ und den „Kampf auf Leben und Tod“ gegen den bösartigen Dalai Lama und sein geheimes Netzwerk. Sie sterben im Wissen, daß die Welt, zumindest vorübergehend, der Unterjochung Tibets Aufmerksamkeit schenkt – und das in einer Weise, wie es in den Jahrzehnten des geduldigen, gewaltlosen Widerstandes niemals erreicht wurde. Erst der selbstmörderische Protest der Tibeter, der Waffengewalt Chinas hoffnungslos unterlegen, hat weltweit Aufsehen erregt.

Die Proteste auf den Straßen wurden niedergeschlagen, Demonstranten haben sich zu Hunderten „ergeben, doch immer noch brechen überall in den 150 Bezirken, die nominal unter tibetischer Selbstverwaltung stehen und von denen sich die Hälfte außerhalb der „Autonomen“ Region Tibet befindet, Proteste aus. Der erste Akt dieser Tragödie ist vielleicht schon vorbei, nun patrouillieren Anti-Aufruhr-Einheiten der bewaffneten Volkspolizei mit Panzern in den Straßen.

Nun beginnt der zweite Akt, in den Gefängnissen, weit entfernt von den bemühten Blicken diplomatischer Delegationen und ausländischer Journalisten. Hier tun die Folterer, was Folterer überall tun: aus den Häftlingen das herauspressen und zu Papier bringen, was das Regime längst als die böse Wahrheit festgelegt hat. Wer Tausende von Interviews gelesen hat von Menschen, die Folter überlebt haben – so wie Elaine Scarry (The Body in Pain: The making and unmaking of the world, 1985) – stellt große Gemeinsamkeiten unter den Folterern fest, ob sie nun griechische oder argentinische Obristen, Vernehmungsbeamte in Abu Ghraib oder „Umdenk-Apparatschiks“ der Kommunistischen Partei Chinas sind.

Wann und wo es auch sein mag, in den Gefängniszellen tun Folterer immer zwei Dinge: eines im Hinblick auf die Öffentlichkeit und das andere im Hinblick auf die Gruppe oder Klasse, die dämonisiert wird. Für die Außenwelt dienen die durch Folter erpressten Geständnisse als dokumentierter Beweis dafür, daß das Regime im Recht war, so hart gegen seine Feinde vorzugehen. Für das geknechtete Volk, das den Mund nicht auftun darf, ist die Lektion, die jene vermitteln, die irgendwann einmal in ihre Mitte zurückkehren, daß jeder Widerstand sinnlos ist und einzig bis ins Innerste gebrochene Menschen hervorbringt, lebendige Gespenster in unserer Welt, wandelnde Symbole der absoluten Macht des Regimes, seinen Willen durchzusetzen.

Diese beiden Dinge beruhen auf einer einzigen Methode, die allen Folterknechten auf der ganzen Welt gemeinsam ist. Sie soll den Menschen brechen, nicht nur seine Knochen brechen und seine Organe zerstören, sondern auch die in unserem tiefsten Inneren wirkenden Prinzipien und Überzeugungen, die unser Menschsein ausmachen. Die Aufgabe des Folternden besteht darin, herauszufinden, welches die innersten, kostbarsten und höchsten Werte des gefolterten Menschen sind, um das, was diese Person ausmacht, zerstören zu können.

Hierbei stehen dem Folterer verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Die Methoden und die Ergebnisse der Folter mögen weltweit in etwa dieselben sein, doch die kulturellen Unterschiede erfordern unterschiedliche Methoden, um das Innerste und Kostbarste eines Menschen unwiederbringlich zu zerstören.

Chinesische Folterer haben Methoden entwickelt, die speziell darauf angelegt sind, Tibeter zu brechen. Diese Methoden sind besonders wirksam gegenüber denjenigen, die Proteste angeführt haben, den Mönchen und Nonnen gegenüber, die bereits die Bindung an ihre Verwandten und Heimatdörfer aufgegeben und den Pfad der Reinigung ihres Geistes eingeschlagen haben, um jedermann, ob Freund oder Feind, ob Wohltäter oder Übeltäter, mit Gleichmut und Mitgefühl zu begegnen. Den Geist von Vorlieben und Voreingenommenheit, von Anhaftung und Gewohnheiten zu reinigen, ist für die meisten ein harter Prozess. Dabei hilft es ihnen, tiefes Vertrauen zu jenen Vorbildern zu entwickeln, die beispielhaft für das zu erreichende Ziel stehen. Manche dieser Vorbilder sind imaginäre Gottheiten, die im Geist visualisiert und dann bewusst wieder aufgelöst werden. Andere sind lebende Mentoren wie die großen Lamas, deren Qualitäten und Fähigkeiten von all jenen geprüft und wahrgenommen werden können, die mit ihnen zusammen sind. Mönche und Nonnen empfinden tiefe Hingabe zu ihren Lehrern und den Lehrern ihrer Lehrer, von denen keiner so tief verehrt wird wie der Dalai Lama. Er ist das ultimative Vorbild.

Chinas Folterer haben erkannt, daß sie, wenn sie einen tibetischen Mönch oder eine Nonne zwingen können, ein Bild des Dalai Lama zu entheiligen – sei es, darauf zu spucken oder es mit den Füßen zu zertrampeln -, das Wesen dieses Menschen zerstören und so das Ziel der Folter erreichen können. Den Dalai Lama öffentlich zu verurteilen, ist ein fundamentaler Verstoß gegen die Gelübde, die diese Mönche und Nonnen abgelegt haben, Gelübde, nach denen die Diffamierung seines Lehrers als verwerflicher bezeichnet wird als das Töten eines Elternteils.

Für diese aufrichtig religiösen Menschen, die den Weg zum vollen Erwachen ihres menschlichen Potentials eingeschlagen haben, macht es keinen Unterschied, daß der Dalai Lama selbst schon lange und immer wieder gesagt hat, daß es nicht wichtig sei, wenn Mönche und Nonnen ihn unter Zwang denunzieren müssten. Er erklärte, dies setze weder ihn herab noch jene, die gezwungen würden, gegen alles zu verstoßen, was ihnen lieb und teuer sei. Er hat das wieder und wieder gesagt – und doch bricht es immer noch die Herzen und Gemüter der Tibeter.

Und es erzwingt Geständnisse. Bald wird China seinen Beweis haben, und das Komplott des Dalai Lama wird enthüllt werden. Tibeter werden vor die Kameras treten und sensationelle Details einer breit angelegten Verschwörung enthüllen, die all das schwächen, zerstören und untergraben sollte, wofür China steht. China wird dann gefunden haben, was zu finden es entschlossen war. Und das chinesische Volk, durch die staatliche Propaganda darin bestärkt, die Tibeter zu hassen, wird glauben, was es sieht.

In der Parteiführung ist eine Alternative undenkbar. Chinas kommunistische Führer, die abgeschottet hinter den Mauern eines alten kaiserlicher Palastes in Beijing leben, können die Wahrheit, die erschreckender wäre als ein vom Dalai Lama jenseits des Himalaja angezetteltes Komplott, nicht zulassen: daß fünf Jahrzehnte chinesischer Besetzung Tibets sich als kontraproduktiv und selbstzerstörerisch erweisen.

Noch schwieriger wäre es für sie, die Möglichkeit einzuräumen, daß der Aufstand überall in Tibet spontan entstanden ist als Ausbruch einer tief empfundenen Verbitterung über die jahrzehntelange Verachtung durch eine Herrenrasse, die sich selbst als Verkörperung all dessen ansieht, was Zivilisation ist.

Während China nun damit prahlt, daß „die Zahl der Unruhestifter, die sich der Polizei freiwillig gestellt haben, auf 183 angestiegen ist“, oder daß „381 Personen im Bezirk Aba in der Provinz Sichuan sich der Polizei gestellt haben“, sind diese Zahlen sowohl ein Triumph als auch eine Peinlichkeit. Die offiziellen Medien beeilten sich hinzuzufügen, die Mehrheit derer, die sich freiwillig gestellt hätten, seien „irregeleitet oder gezwungen worden sich zu beteiligen“, denn sonst könnte der Eindruck entstehen, daß alle Tibeter das rassistische Benehmen selbst der gewöhnlichen Chinesen, die Tibeter als schmutzig und rückständig verachten, ablehnen. China weiß im Voraus, daß die meisten Demonstranten unschuldige Fehlgeleitete sind, ebenso wie es schon im Voraus weiß, daß die Anführer der Proteste auf Befehl des Dalai Lama gehandelt haben. Nun muss die Folter nur noch die Beweise erbringen. Kein Wunder, wenn der Dalai Lama von kulturellem Völkermord spricht.

Diese Tragödie wird noch weitere Akte haben, bevor Chinas Führung aufwacht, wie sie es letztendlich wird tun müssen, denn früher oder später wachen wir alle aus unseren Illusionen auf. Am Ende werden die Chinesen die Tibeter als Mitmenschen anerkennen, die es verdient haben, als ebenbürtig angesehen zu werden.

Aus tibetischer Sicht muss die Tragödie schließlich so enden, daß allen endlich die Realität bewusst wird – ein glückliches Ende, wenn den blinden und grausamen Verursachern von so viel Leid die Augen dafür aufgehen, was sie getan haben. So enden alle tibetischen Opern: ganz gleich, wie lang das Leiden dauert, das die Unschuldigen ertragen müssen. Das Ende ist also gewiss, doch wie viel mehr Akte der Grausamkeit, der Folter, wie viele Denunzierungen und wie viel vom Staat geförderter rassistischer Wahn der Chinesen gegen die Tibeter stehen vorher noch an? Das kann niemand sagen.

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Gabriel Lafitte ist Berater für den Bereich Umwelt & Entwicklung der tibetischen Exilregierung, die ihren Sitz in Indien hat. Im Jahre 1999 wurde er von den Tibetern gebeten, ein Projekt der Weltbank zu bewerten, das in den tibetischen Gebieten der Provinz Qinghai durch die Ansiedlung von Zehntausenden von Nichttibetern die Armut dort beseitigen und die Nomaden aus ihrem Lebensraum vertreiben sollte. Am Ort des Weltbank-Projekts wurde er festgenommen und von der Sicherheitspolizei eine Woche lang intensiv verhört und danach ausgewiesen. Er kehrte kürzlich nach China zurück, um einen Plan für eine vom Staat gesponserte Konferenz über Armut vorzulegen, bei der es um die Verbesserung des Lebensstandards der Tibeter durch Kreuzung der einheimischen Schafsrasse mit australischen Schafen für Teppichwolle geht. Gabriel Lafitte arbeitete mit an zwei gerade veröffentlichten Berichten über die Ursache für die Hoffnungslosigkeit der Tibeter.

www.tibet.net/en/diir/pubs/edi/tib2007/content.html

www.savetibet.org/documents/document.php?id=245

Mit freundlicher Genehmigung der Heinrich Böll Stiftung

Quelle: http://www.boell.de/weltweit/asien/asia-2635.html



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