„Es sind Chinas Hardliner, die die Nation spal­ten, nicht ich“

Besuch beim Dalai Lama in Indien. Kurz vor seinem 74. Geburtstag begrüßte er den Reporter, den er seit 20 Jahren kennt, freundlich und mit kräftigem Handschlag. Trotz der anhaltenden Proteste und Verurteilungen sieht der Dalai Lama im Interview „Zeichen für Hoffnung“ und spricht von einem „erstarkten tibetischen Geist“.
Titelbild
(Andreas Hilmer)
Epoch Times18. August 2009

Er ist der sanfteste Freiheitskämpfer der Welt mit dem höchsten Ansehen und dem geringsten Erfolg, sagen nicht wenige. Inzwischen steht er auch im eigenen Volk häufig unter Druck. Denn er hält an seinem Mittleren Weg der Aussöhnung mit China fest. Er will trotz der Aufstände und dem harten Kurs Pekings keine Unabhängigkeit für sein Land, sondern Seite an Seite mit Chinesen leben.

Als sein Volk rebellierte, mahnte er zur Gewaltlosigkeit. Als ihn Peking scharf attackierte, verlor er dennoch nicht seine Mission, Tibet mit China zu versöhnen. Der Dalai Lama kämpft rund um den Erdball für echte Autonomie und gegen Separatismus. Oft auch gegen sein eigenes Volk, das die Unterdrückung nicht mehr klaglos hinnimmt.

Es ist viel passiert mit Tibet – wie würden Sie im Rückblick die Vorfälle 2008 in Tibet bezeichnen: War es ein Aufstand, eine Revolution? War es auch mehr Gewalt, als Sie unterstützen?

Dalai Lama: Es war ein Aufstand! Eine Rebellion – von Frust getrieben. Das hat doch jeder gesehen! Und vor allem: Es waren zunächst friedliche Demonstrationen. Das ist mir sehr wichtig zu sagen. Die Welt sollte bitte wissen: Am 10. März am Nachmittag – ich hatte da gerade eine Erkältung und hatte Vorträge abgesagt – da bekam ich plötzlich einen Anruf aus Lhasa, der sagte, dass sich dort viele Menschen aufmachen, um zu demonstrieren. Ganz ehrlich: Da hatte ich sofort große Angst, dass etwas Schlimmes passiert. Denn beim Aufstand vor meiner Flucht 1959 fing das ja genau so an damals – und es endete in einem Blutbad. Also, zurück zu den Ereignissen vom März 2008: Ganze drei Tage haben die chinesischen Soldaten den friedlichen Protesten einfach nur zugesehen, als würden sie sich quasi „vorbereiten“. Ich hab auch gehört, dass parallel zu den Demonstrationen ganze Gruppen von Tibetern, die keiner kannte, mit Trucks in die Stadt gebracht wurden. Und die waren es, so hörte ich, die später zündelten und losschlugen. Und erst als das passierte, als es einen Anlass gab, da urplötzlich schlugen jene Soldaten, die tagelang nichts unternommen hatten, den Aufstand brutal nieder. Also, es ist mir wichtig zu sagen: Am Anfang waren es wirklich gewaltfreie Demonstrationen – und sie entstanden aus purem Frust. Ein Bauer, der später fliehen konnte, sagte mir wörtlich: Das alles ist das Ergebnis aus über Generationen angesammeltem Leid.

Wie ist denn die aktuelle Situation in Tibet? Was hören Sie?

Dalai Lama: Es ist schlimm! Wissen Sie: In manchen Gebieten kommt auf fünf Tibeter ein chinesischer Soldat. In Lhasa sind Tibeter schon lange in der Minderheit. Das ist doch Besatzung. Mein uraltes Land, so formuliere ich hier ganz bewusst, meine Nation, hat das Todesurteil erhalten. Es durchwandert den Tod! Das ist sehr sehr ernst.

Gibt es denn aus Ihrer Sicht noch immer Hoffnung?

Dalai Lama: Ja. Auch die sehe ich. Ich habe in den vergangenen Monaten hunderte chinesische Intellektuelle auf meinen Reisen empfangen, manche kamen sogar aus China selbst. Und die erklären neuerdings: Wir kannten Tibet vorher gar nicht und wir dachten immer, Tibeter sind einfach anti-chinesisch. Aber jetzt wissen diese Intellektuellen mehr darüber, was Tibeter wirklich wollen, sie informieren sich besser. Tibet hat dadurch noch mehr und vor allem wahrhaftigere Aufmerksamkeit erhalten.  Ich glaube, es gab rund 500 Artikel in China selbst, die uns unterstützten und sogar teilweise sagten „Tibet hat auch seine Rechte“ und Ähnliches.  Es gibt noch andere Entwicklungen, die gut sind: Tibeter sagten mir natürlich, die Situation im Land ist erstmal durch die Aufstände furchtbar bedrückend geworden. Aber der tibetische Geist, der ist durch den Aufstand erstarkt, er ist hellwach. Und er ist in allen Teilen Tibets, gerade in abgelegenen Regionen, viel stärker geworden. Wenn man das alles gegeneinander abwägen würde: Ich glaube – bei allem Gram – es hat mehr positive Einflüsse für eine Lösung.

Autor Andreas Hilmer (r.) mit dem Dalai Lama im indischen Dharamsala. (Andreas Hilmer)
Autor Andreas Hilmer (r.) mit dem Dalai Lama im indischen Dharamsala. (Andreas Hilmer)

Sie haben die chinesische Führung in letzter Zeit oft auch mit starken Worten kritisiert. Sie sprachen sogar von „kulturellem Völkermord“. Was ist denn die Hauptgefahr in Tibet heute?

Dalai Lama: Früher hieß es von chinesischer Seite immer, neben der Angst vor Abspaltung sei vor allem der starke buddhistische Glaube eine Gefahr. Daher auch die Kontrollen der Klöster und die Umerziehungsversuche. Jetzt aber versuchen sie ganz bewusst, die Sprache abzuschaffen: Tibetisch ist in Tibet nicht mehr notwendig, haben die ganz offen gesagt! In manchen Gebieten wollen chinesische Behörden das Tibetische ganz aus der Schule verbannen. Es gibt sogar Papiere, die das belegen. Im täglichen Leben von Lhasa ist die tibetische Sprache schon nicht mehr notwendig, da Restaurants, Geschäfte und das alles in chinesischer Hand sind. Auch deshalb spreche ich bewusst von „kulturellem Völkermord“. Ob das immer absichtlich passiert oder nicht – das weiß ich nicht. Aber kultureller Völkermord findet statt, das ist klar belegt.

Es gab im vergangenen Jahr einen Moment, da hörte man, der Dalai Lama denkt an „Rücktritt“. War das ein Missverständnis? Sie sagten nach den Aufständen 2008 sehr emotional: „Der Dalai Lama hat aufgegeben“ – wie war das gemeint?

Dalai Lama: Also, ich bin ja noch da. Aber seit 2001 haben wir Tibeter eine gewählte Führung hier im Exil. Und so habe ich seit der Zeit immer wieder klar gestellt: „Ich bin semi-retired“, also schon halb-pensioniert, bin im „Halbruhestand“. Als letztes Jahr dann die Krise kam in Tibet, haben wir versucht, uns so bald wie möglich mit Chinas Führung zusammen zu setzen – auch wenn die immer abfällig betonen, es seien nur informelle Treffen, bei denen es um die Zukunft des Dalai Lama geht. Wir Tibeter waren damals voller Hoffnung, aus der großen Krise endlich eine Lösung für Tibet zu erreichen. Dann aber hat mir unsere Verhandlungsdelegation berichtet, wie abweisend und negativ die Gespräche in China verliefen. Wissen Sie: Eines meiner Ziele war ja immer, positive Veränderungen für die Menschen in Tibet zu erreichen. Und das ist nun erstmal vollständig gescheitert. Das muss ich einsehen. Und da ist es meine moralische Verantwortung, auch ein Versagen einzugestehen und dies erstmal zu akzeptieren. Dann, beim nächsten Treffen mit Chinas Führung etwas später wurde unser ausführliches Memorandum für eine Lösung, das wir extra ausgearbeitet hatten, komplett abgelehnt! Abgelehnt in seiner Ganzheit. Das war sehr deprimierend.

Und da dachten Sie daran, sich zurück zu ziehen?

Dalai Lama: Darauf hin habe ich dann ein Sondertreffen aller tibetischer Gruppen für Herbst 2008 einberufen, an dem ich selbst aber bewusst nicht teilgenommen habe. Mir ging es nach diesem Scheitern um mehr Offenheit und um den Austausch wirklich aller Meinungen und neuer Ideen. Seien sie auch noch so abwegig. Ich blieb also dem Sondertreffen fern, damit nicht alle – wie so oft – einfach meiner Meinung folgen. Ich wollte wirklich freie Meinungen der tibetischen Gesellschaft zum Tibet-Konflikt ermöglichen, ich wollte die wahren Gefühle hören. Auch der tibetischen Führung habe ich gesagt, dies Treffen soll bitte komplett ohne uns alle stattfinden, denn wir Entscheidungsträger sollten das nicht beeinflussen. Wir sollten vielmehr schauen, wo uns das tibetische Volk überhaupt noch unterstützt und welchen Weg es gehen will. Was auch immer da herauskommt – dem müssen wir folgen. Dann kam jedoch heraus, dass die Mehrheit weiter meinen Mittleren Weg gehen wollte. Ich sollte sie weiter führen.

Und deshalb sind Sie weiter in der moralischen Verantwortung?

Dalai Lama: Zusammengefasst: Nach den letzten Treffen in Peking musste ich einfach unser Scheitern bei der chinesischen Regierung zugeben. Mein Weg war dort gescheitert. Und nun sollte ganz offen und ohne Vorbedingungen das Volk entscheiden, wie es weiter geht. Das war mit „Aufgabe“ und mit „Rücktritt“ gemeint.

Die Forderung nach Unabhängigkeit für Tibet wurde viel zu früh aufgegeben, das sagen inzwischen immer mehr junge Tibeter im Exil. Sie selbst bestehen weiter auf einer Autonomie, aber im Staatsverbund mit China.

Dalai Lama: Mein realistischer Ansatz ist: Wenn wir Tibeter die kommunistische Führung weiter an die in ihrer eigenen chinesischen Verfassung niedergeschriebenen Rechte für Minderheiten erinnern, dann hat Chinas Führung eigentlich weniger Möglichkeiten, das von Ihnen selbst so bestimmte Recht langfristig zu untersagen. Und deshalb fordern wir auch in unserem Memorandum an China nicht mehr als das.

Aber man unterstellt Ihnen doch immer wieder eine „geheime Agenda“ hinter Ihrer Kompromissbereitschaft. Warum eigentlich?

Dalai Lama: Eines steht fest: Chinas Führung weiß schon lange sehr genau, dass wir keine Unabhängigkeit mehr wollen. Es gab vor Jahren sogar mal ein Einverständnis, wo es von denen wörtlich hieß: „Die Seite des Dalai Lama will keine Unabhängigkeit mehr“! Doch kurz danach haben sie wieder angefangen, uns, also mir, Separatismus und Abspaltungsbestrebungen zu unterstellen. Die Chinesen haben plötzlich wieder zu ihrer alten Strategie gewechselt. Die sieht wie folgt aus: Es ist für Chinas Regierung besser, den Dalai Lama vor dem Volk immer als bösen Separatisten und Spalter des Landes hinzustellen. Intern haben sie mich längst verstanden, sie wissen genau, dass ich kein Separatist bin! Aber nach außen hilft es ihnen einfach besser, mich weiter als Gefahr darzustellen. Deshalb habe ich auch im vergangenen Jahr noch deutlich gesagt: Mein Glaube an die chinesische Regierung wird dünner und dünner. Mein großes Vertrauen in das chinesische Volk aber hat sich nicht verändert.

Was wäre dann ein zukünftiger Weg für Tibeter?

Dalai Lama: Es geht sehr um die Meinung der Öffentlichkeit, um das chinesische Volk. Genau deshalb müssen wir Tibeter und auch unsere Unterstützer weltweit uns mehr an die Bürger Chinas wenden. Auch wenn das natürlich direkt sehr schwer ist. Wenn wir also keine Unabhängigkeit fordern, sondern nur auf unsere in Chinas eigener Verfassung verbrieften Rechte bestehen, dann werden uns langfristig auch immer mehr Chinesen verstehen und unterstützen. Wenn wir aber – wie viele junge Tibeter aus zu viel Emotion heraus – offen die Unabhängigkeit fordern, dann ist es doch für China leichter, uns zu diffamieren. Und dann gehen auch die Intellektuellen, die wir so dringend brauchen, auf Distanz. Natürlich wäre es am besten, wenn uns alle Schichten in China unterstützen. Solange das aber nicht gelingt, da ist es doch besser, zumindest eine Gruppe auf unserer Seite zu haben, als gar keine.

China ist eine Großmacht, dort geht es den Menschen doch immer besser – und auch im einst rückständigen Tibet wird investiert.

Dalai Lama: Sicher. Aber auch die Tibeter dort verdienen mehr Wohlstand. So leben Tibeter ja schon teilweise sehr wohlhabend im Exil, in New York und in Indien. Auch ihnen geht es stark um Euro und Dollar für ihre Familien. Aber auch in Tibet selbst wollen Tibeter teilhaben und besser leben. Und wenn uns China mehr Autonomie lässt, dann können wir zum einen unsere Kultur besser erhalten, die Natur und die Religion schützen, und damit geht’s auch den Tibetern gleich besser. Und zum anderen: dann bleiben die Tibeter in Tibet auch ruhig. Wohlstand schafft doch Harmonie. Darüber sollten die Chinesen auch mal nachdenken, was ein solches Verhalten auch für sie für Vorteile brächte.

Und wenn das nicht geschieht, und weiter auf Stärke und Ausgrenzung gesetzt wird?

Dalai Lama: Wenn Chinas Regierung das Streben nach tibetischer Identität und nach Entwicklung unterdrückt, dann kommen bei jungen Tibetern immer zu viele Emotionen hoch, und das führt dann unweigerlich wieder zu Problemen. Natürlich will jeder gern Unabhängigkeit für sich, für sein Land – klar! Und jeder will schnellen Reichtum. Aber auch wir Tibeter sollten immer auch realistisch denken. Dann bekommen wir auch mehr Unterstützung vom chinesischen Volk. Und ehrlich: Wenn wir Tibeter einmal objektiv nachdenken, dann ist es eventuell. auch für uns gut, in Chinas Staatenverbund zu leben. Es kann auch unseren Interessen sehr helfen. Nur eines ist auch klar: Wenn Chinas Führung mit dieser Politik der Unterdrückung so weiter macht, dann sollte man wirklich einmal genau schauen und fragen, wer hier das Problem und der Spalter ist?

„Es sind Chinas Hardliner, die die Nation spalten – nicht ich.“

Wenn China so weitermacht, dann ist es doch wirklich die chinesische Regierung, die uns Tibeter – ob wir wollen oder nicht – immer weiter Richtung Abspaltung und Separatismus-Ideen treibt. Wer uns dort hindrängt, der ist der wahre Spalter!

Woher kommt eigentlich dieses ewige Misstrauen der chinesischen Seite Ihnen gegenüber – egal was passiert, was Sie auch sagen und tun: grundsätzlich, so hört man, ist der Dalai Lama schuld.

Dalai Lama: Tja, ich bin wohl eben ein Teufel, und nun, wo Sie als Reporter sich mit mir hier treffen, hat sich der Teufel schon wieder fortgepflanzt. Wie ein Virus. Nun sind es schon wieder mehr Teufel – und es werden immer mehr – wo ich auch hinkomme, wen ich auch treffe (er lacht lange).

Aber im Ernst: Ich glaube nicht, dass es wirklich Misstrauen auf Seiten Chinas ist, nein, nein! Die greifen mich absichtlich immer an, und sie unterstellen mir gegen besseres Wissen immer neue Dinge. Denn nur ein böser Dalai Lama nützt ihnen für ihre Tibetpolitik.

Besorgt: Der Dalai Lama, 74 Jahre alt, sorgt sich weiterhin vor allem um die Situation in Tibet selbst. Im aktuellen Gespräch in Indien und auch beim jüngsten Besuch in Deutschland vor ein paar Wochen betont er, wie entscheidend es für die Zukunft ist, das chinesische Volk für seine Lösung zu gewinnen. Auch wenn sein Mittlerer Weg bei der Regierung gescheitert ist, er setzt viel Hoffnung in die Bürger Chinas. (Rüdiger Findeisen)
Besorgt: Der Dalai Lama, 74 Jahre alt, sorgt sich weiterhin vor allem um die Situation in Tibet selbst. Im aktuellen Gespräch in Indien und auch beim jüngsten Besuch in Deutschland vor ein paar Wochen betont er, wie entscheidend es für die Zukunft ist, das chinesische Volk für seine Lösung zu gewinnen. Auch wenn sein Mittlerer Weg bei der Regierung gescheitert ist, er setzt viel Hoffnung in die Bürger Chinas. (Rüdiger Findeisen)

Und das wird bis zum Ende immer so weiter gehen?

Dalai Lama: Ich hab sogar mal gehört, dass die chinesische Führung schon länger der Meinung ist: Lasst den Dalai Lama doch außerhalb Tibets sterben! Denn: Sollten wir ihn – warum auch immer – zurückkommen lassen in seine Heimat, dann gerät die Situation in Tibet außer Kontrolle. Deshalb sollte er einfach nicht nach China kommen dürfen. Mal abwarten.

Sie wollten ja letztens sogar eine Pilgerreise nach China machen – ganz privat.

Dalai Lama: Ja, das hat meine Delegation tatsächlich mal offiziell angefragt. Die Idee war nur eine buddhistische Pilgerreise. Und nicht nach Tibet. Nur nach China, zu heiligen Bergen dort. Und meine Idee war eine Reise ganz und gar ohne politische Agenda. Doch da haben die Offiziellen wörtlich gesagt: Aktivitäten, die ein Dalai Lama macht, können niemals unpolitisch sein. Jede Aktivität ist sofort immer Politik. Als ich das hörte, da hab ich aufgegeben. Völlig aufgegeben. Unter den Umständen ist doch nichts möglich. Wie soll ich da weiter vorgehen? Eigentlich ist mein Verhältnis zur chinesischen Regierung ja ganz okay, dachte ich – und das sogar, obwohl mein Volk doch leidet. Ich bin eben immer ein freier Sprecher für die Tibeter, und deshalb sollten alle meine Aktivitäten aus dem Exil auch so angelegt sein, dass ich versuche, die Wünsche der Tibeter zu erfüllen. Aber so, wie es jetzt aussieht: unmöglich. Wirklich unmöglich.

Der Dialog ist ja erstmal abgerissen. Soll denn mit der chinesischen Regierung überhaupt weiter verhandelt werden?

Dalai Lama: Na ja die haben ja alle unsere Papiere, das große Memorandum, komplett abgelehnt grad. Aber ich hab zu den Chinesen und vor allem zur Weltgemeinschaft auch gesagt: bitte fahrt doch zumindest mal nach Tibet und untersucht doch bitte dort. Schaut Euch um. Hört Euch um. Ich bin dankbar, dass gerade eine Gruppe Politiker vom deutschen Menschenrechtsausschuss für ein paar Tage in Tibet war (Anm.: im Mai 2009), und auch Holländer waren dort. Und die haben dann alle gesagt: Wir durften leider nicht frei herumschauen. Da ist doch was falsch, meine ich. Das ist nicht gut. Was ist denn dort in Tibet, was China der Welt nicht zeigen will? China hat also viele Probleme, sein totalitäres System funktioniert doch nicht. Allein schon für das eigene Interesse – mal abseits von Tibet – sollten die Chinesen dringend etwas tun und etwas ändern. Ihre sozialistische Wirtschaft? Ist doch vorbei! Nun also folgen sie dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell. Und immer alles für ihr eigenes Interesse und Wohlergehen. Und: Das ist doch auch besser! Dennoch bleiben viele Chinesen im Dunkeln. Ausgeblendet. Das ist unmöglich. Es ist auch moralisch falsch. Und ganz praktisch gesehen ist es auch ein Fehler, wenn man so dringend Harmonie will.

In ein paar Jahren müssen die sich einfach öffnen. Diese engstirnige Politik führt zu keinem Erfolg. In der Zwischenzeit ist die westliche Welt, die freie Welt, immer besorgter und fragt nach, und das mag China auch nicht. Fremde Parlamente setzen sich immer mehr auch für Tibet ein. Sogar Frau Merkel, ihr „Frauen-Präsident“ – übrigens eine sehr starke, resolute Frau mit Prinzipien – die tut das! Wunderbar. Das ist sehr hilfreich. All dies – von chinesischen Intellektuellen bis zu Staatsführern – unterstützt sehr. Kurzfristig mag diese Unterstützung nicht sichtbar Erfolge zeigen und missverstanden werden. Aber das alles hat ganz sicher Einfluss auf die Gedanken und Gefühle der chinesischen Führung und der Öffentlichkeit dort.

Es gibt ja dieses Bild, der Dalai Lama zieht den Karren Richtung Demokratie, und hinten hängt ganz Tibet dran, und manche bremsen sogar, dieser Eindruck entsteht. Wie demokratisch ist denn Tibets Exilgesellschaft?

Dalai Lama: Wir geben uns Mühe. Was unsere Bemühungen angeht, die tibetische Gesellschaft demokratischer zu machen, das ist alles inzwischen sogar auch für chinesische Intellektuelle sehr attraktiv. Die kommen extra hierher und studieren, wie wir das mit der Demokratie machen. Da wollen Chinesen von uns sogar lernen. Witzigerweise will sich die chinesische Führung aber noch immer meist an mir als Person abarbeiten, anstatt einmal mit unserer Exilführung zu sprechen. Inzwischen sehen das auch westliche Regierungen und sagen den Chinesen immer: Also los, redet doch mal mit den gewählten Vertretern Tibets, und habt nicht immer Angst vor denen. Unsere gewählten Führer sind wahrscheinlich sogar viel radikaler als ich – aber deshalb haben die Chinesen wohl auch so große Angst. Die sollten miteinander reden. Tja. Und so lange da nichts passiert, muss immer wieder ich in den Ring…

Obwohl Sie das ja eigentlich nicht mehr wollen, allein das Volk vertreten. Aber Sie müssen es? Fühlen Sie sich eigentlich als Politiker?

Dalai Lama: Tja, was soll ich sagen. China findet, ich bin an allem Schuld, und der Westen sagt, der Dalai Lama ist bei Tibet eben die Hauptfigur. Was soll ich also tun? Mein neues Mantra ist ja seit 2001: Ich bin nicht zuständig, ich bin doch pensioniert, ich bin doch schon fast weg … Aber alles landet trotzdem immer hier. So ist das eben.

Als die jungen Tibeter im vergangenen Jahr offen reden und neue Wege beschließen sollten, da zeigten ja auch alle – auch aus Respekt – wieder auf den Dalai Lama. Sind Sie für Tibets Zukunft Lösung und Problem zugleich?

Dalai Lama: Na ja, so würde ich es nicht sagen. Aber ja: Die Tibeter sagen gern, ich solle mich noch mehr einbringen – und das bitte bis zu meinem Tod! Das heißt dann aber, dass ich dann einfach schneller sterbe (lacht). Wenn die Tibeter wirklich Mitgefühl mit mir hätten – dann lasst mich doch langsam aus dem Dienst scheiden, und dann würde ich auch länger leben (lautes langes Lachen)!

Hatten Sie eigentlich je Zweifel daran, dass Ihr Weg für Tibet der Richtige ist? Haben Sie mal gehadert?

Dalai Lama: Niiiiiie. Nie hatte ich Zweifel. Höchstens einmal aus egoistischen Gründen, da habe ich gedacht: Anders wäre es sicher einfacher gewesen! Aber nur für mich. Das war dann nur Egoismus! Viele machen ja Fehler, aber bestehen drauf, dass es dennoch richtig ist, was sie machen. Bush zum Beispiel machte das gern. Aber alle meine großen Entscheidungen seit meinem 16. Lebensjahr, als ich Verantwortung übernahm, waren richtig. Die Flucht aus Tibet. Die Demokratisierung der Gesellschaft. Die Aufgabe der Unabhängigkeitsforderung. Die Gespräche mit China. Das sind bis heute alles richtige Wege. Sie als Freund sollten Folgendes wissen: Ich verrate Ihnen jetzt mal das Geheimnis der richtigen Entscheidungsfindung: zunächst benutze ich immer meine eigene Intelligenz. Dann frage ich enge Freunde. Auch das Orakel befrage ich immer. Dann bin ich noch nicht überzeugt, folge nicht unbedingt dem, was da herauskommt. Ich gehe noch tiefer und überlege alle Wege. Ich bete. Ich frage Buddha. Dann fälle ich meine Entscheidung. Und wenn es dann falsch ist – tja, dann ist vielleicht auch Buddha schuld (lacht!). Also: Kleine Fehler mache ich oft – aber die großen Entscheidungen waren richtig: der Mittlere Weg, die Aussöhnung mit China – ich glaube noch immer, es ist der richtige Weg. Warten Sie noch 5 Jahre oder 10 Jahre. Wenn es dann noch keinen Erfolg gibt, dann können sie sagen: Der Dalai Lama hat einen Riesenfehler gemacht. Er ist schuld (er lacht lange…).

Das Interview führte Andreas Hilmer.

Erschienen in The Epoch Times Deutschland Nr. 31/09

(Andreas Hilmer)
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