Maos Lügen und die größte menschengemachte Katastrophe

Maos „Großer Sprung nach vorn“ verwandelte China in eine Hölle auf Erden. Frank Drikötter erhielt Zugang zu geheimen Parteiarchiven. Pflichtlektüre, wenn man China und sein Regime verstehen will.
Titelbild
Maos Rücksichtslosigkeit im Streben nach einem Profil als großer Revolutionär führte zu einem Weltrekord an menschlichem Leid, wirtschaftlichen Schäden und ökologischen Katastrophen.Foto: Cover Klett-Cotta
Von 22. Februar 2014

„Mao war entzückt. Aus dem ganzen Land trafen Berichte über neue Rekordernten von Baumwolle, Reis, Weizen oder Erdnüssen ein. Der Vorsitzende begann sich zu fragen, was China mit all den überschüssigen Nahrungsmitteln tun sollte.“ (S. 81)

Obgleich Mao Zedong als Gründer der Volksrepublik China noch immer als unantastbar gilt, stehen zwei von ihm maßgeblich zu verantwortbare Fehlentwicklungen durchaus in der Kritik unter den heute lebenden Staatsbürgern und ihren politischen Führern. Aus diesem Grund bewegt sich die Forschung zum „Großen Sprung nach vorn“ (1957 – 1961) und zur „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ (1966 – 1971/76) zwar auf dünnem Eis, es gelingt Wissenschaftlern immerhin, in Archiven fündig zu werden. Mit jeder Veröffentlichung erscheint zugleich das Ausmaß des Schreckens immer größer.

Wichtige Untersuchungen zur Hungersnot in Zusammenhang mit dem „Großen Sprung nach vorn“, wie etwa von Jasper Becker „Hungry Ghosts“ (1998),  Judith Shapiro „Mao’s War against Nature“ (2001) oder Yang Jisheng „Múbei – Grabstein“ (2008) gehen von einer in der Weltgeschichte beispiellosen Zahl Verhungerter aus. Dikötters „Mao’s Great Famine. The History of China’s Most Devastating Catastrophe, 1958–62” liegt nun vier Jahre nach der englischen Erstausgabe in deutscher Sprache vor. Für ihn selbst, der die publizierten Werke kennt, muss das eigene Forschungsergebnis aus zahllosen Archivbesuchen schockierend gewesen sein, da es die bisher bekannten Opferzahlen übertrifft.

Foto: Cover Klett-Cotta

Im Fahrwasser der sowjetischen Propagandamärchen um den Scheinwissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko überzog Mao das inzwischen weitgehend kollektivierte Land unter der Generallinie der Kommunistischen Partei nicht nur mit Terroraktionen, sondern auch mit untauglichen Methoden, wie der Außerkraftsetzung naturwissenschaftlicher Gesetze, um das Diktat der Produktionssteigerung um jeden Preis durchzusetzen.

Für Dikötter steht ein Preis fest: mindestens 45 Millionen Menschen starben an Unterernährung, hungerbedingten Krankheiten, Suiziden oder systematischer Gewalt. Damit liegt er nicht an der Spitze der Berechnungen: „Yu Xiguang, ein unabhängiger Forscher, der mit der Materie vertraut ist, schätzt die Zahl der zusätzlichen Todesfälle infolge des Hungers auf 55 Millionen.“ (S. 13, 387, 430 f.)

Dass sich Mao täuschen ließ und selbst täuschte, hinterließ eine breite Spur von Fehleinschätzungen im Ausland, wie etwa ein Interview mit Helmut Schmidt aus jüngerer Zeit offenbart: „Mao hat die Toten nicht gewollt. Alle die vielen Millionen Hungertoten waren die unvorhergesehene Folge des Großen Sprungs“ (Zeitmagazin vom 13.9.2012). Doch wie Dikötter nachweist, nahm Mao bei jedem Projekt etliche tausend Opfer billigend in Kauf, die dabei ums Leben kamen: „Wu Zhipu behauptet, er könne 30 Milliarden Kubikmeter bewegen. Ich denke, dafür werden 30.000 Menschen sterben. Zeng Xisheng hat erklärt, er werde 20 Milliarden Kubikmeter bewegen, weshalb dort wohl 20.000 sterben werden“ (S. 71).

Diese Rücksichtslosigkeit im Streben nach einem Profil als großer Revolutionär führte zu einem Weltrekord an menschlichem Leid, wirtschaftlichen Schäden und ökologischen Katastrophen. Beginnt man im bäuerlichen Bereich, so  bringen Dikötters Recherchen in Chinas Archiven eine Schreckensmeldung nach der anderen hervor. Allein die Düngung der Felder führte zu aberwitzigen Handlungsweisen. Allein im Kreis Macheng, Provinz Hubei, wurden innerhalb des Jahres 1958 50.000 Wohnhäuser und Ställe abgerissen, um aus den Wänden Lehm oder Ziegelmehl und den Strohdächern die begehrten Stoffe zur Bodenverbesserung zu gewinnen.

Bis zu 40 Prozent des Wohnraumes wurden auf diese Weise zerstört. Die unter Androhung schwerster Sanktionen zu solchen Maßnahmen gezwungenen Bauern brachten zudem die Brühe abgekochter Leichen und Zuckervorräte als organischen Dünger auf den kollektivierten Äckern aus (S. 14, 77 ff., 94 f., 236 f.).

Der Zwang zu weiteren unerprobten Innovationen bei der Bestellung von landwirtschaftlich genutzten Fluren, dem Umschichten des Bodens bis zu einer Tiefe von 30 Zentimetern auf einer Fläche von 8 Millionen Hektar und dem dichten Ausbringen des Saatgutes führte schließlich zu Missernten ungekannten Ausmaßes. Mineralien stiegen in den umgegrabenen Feldern auf und ließen die Oberflächen versalzen, während sich die Pflanzen auf engstem Raum im Wachstum behinderten und abstarben (S. 78 f., 249).

Eine weitere Kapitalvernichtung brachte Maos Vorstellung mit sich, eine Industrialisierung im ländlichen Bereich  durchzuführen, die mit dem Einschmelzen von Metallgegenständen wie Töpfen und Pfannen, Werkzeugen oder Hauszubehör in dörflichen Hochöfen einherging. Möbel, Dachsparren und andere brennbare Materialien wurden hierfür ebenso geopfert, wie Unmengen von Bäumen oder Kohlevorräten. Waldgebiete wie Gärten verwandelten sich analog zu den Agrarflächen zu Ödland. Der wirtschaftliche Erfolg blieb jedoch aus, und wertlose Eisenbarren waren der traurige Output (S. 14, 99 ff., 141 f., 204 ff.)..

Die Folge jener Fehlentwicklungen waren landesweite Hungersnöte, in denen die überlebten, welche Gras, Kräuter, Wurzeln oder gekochtes Leder essen konnten (S. 366), begleitet von Beschaffungskriminalität (S. 267 ff., 280 ff., 290 ff.), Widerstandshandlungen (S. 292 ff.) und Selbstmorden (S. 394 f.). Selbst Kannibalismus war ein Phänomen des Großen Sprungs: „Datum: März 1960. Ort: Kommune Hongtai, Xiaogou. Name der Täterin: Zhu Shuangxi. Status: Arme Bäuerin. (…) Art des Verbrechens: Leichen ausgegraben und verspeist. Grund: Lebenserhaltung.“ (S. 417)

Frank Dikötters gut fundierte Schilderungen führen zu der Frage, warum sich die Betroffenen dies alles gefallen ließen. Die Antwort erschließt sich gleichermaßen aus Zeugenaussagen und Archivquellen: „Ou Desheng, der Parteisekretär einer Kommune in Hunan, verprügelte eigenhändig150 Menschen und tötete vier von ihnen. Neuen Rekruten riet er: „Wenn du ein Parteimitglied sein willst, musst du wissen, wie man Leute schlägt.““(S. 381)

Dieses Werk beantwortet zahlreiche Fragen über die frühen Jahre der Volksrepublik China und ist uneingeschränkt empfehlenswert. Schließlich macht die brilliante Übersetzung des englischen Textes durch Stephan Gebauer Dikötters Werk einer breiten Leserschaft in Deutschland zugänglich. Klett-Cotta hat mit der Aufnahme dieser Arbeit in das Verlagssortiment eine gute Entscheidung getroffen.

Frank Dikötter: Maos Großer Hunger.

Massenmord und Menschenexperiment in China.

Stuttgart (Klett-Cotta) Februar 2014,

ISBN: 978-3-608-94844-8

528 Seiten, 29,95 Euro



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