Um 3 Uhr morgens am 4. Juni 1989 in Peking

Die Luft war eisig - Alle haben geweint. So wie viele andere hatte auch ich ein starkes Vorgefühl, dass etwas sehr Schlimmes in der Nacht passieren würde.
Titelbild
4. Juni 1989 Peking – "Sie haben wirklich geschossen!" (www.64memo.com)
Von 31. Mai 2005

Am Abend des 3. Juni 1989 versammelten sich sehr viele Studenten in der Pädagogischen Universität in Peking. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass in der Nacht auf dem Platz des Himmlischen Frieden – dem Tiananmen – etwas Schlimmes passieren würde. Die Soldaten, die am Rand der Stadt stationiert waren, würden in die Menge der Studenten auf dem Platz hinein fahren. Die studentische Organisation rief die Studenten auf, den Tiananmen zu schützen. Viele Studenten, die diesem Aufruf folgen wollten, schrieben vorher ihr Testament. Die Atmosphäre war sehr angespannt.

So wie viele andere hatte auch ich ein starkes Vorgefühl, dass etwas sehr Schlimmes in der Nacht passieren würde. Aber ich wollte gar nicht daran denken und es nicht glauben, da ich immer noch die Hoffung hatte, dass der Staat nicht die eigenen Bürger, friedliche Studenten mit Waffen bekämpfen würde.

Nachts gegen 3 Uhr gab es im Campus Alarm. Meine Freundin und ich waren sofort wach, aber wir wussten plötzlich nicht mehr, was wir tun sollten. Wir versuchten ruhig zu werden. Auf einen Stoffstreifen, den wir als Stirnband benutzen wollten, schrieben wir das, wie wir dachten, historische Datum – 3:00 Uhr am 4. Juni 1989 -.

Gleich am Haupttor der Uni erzählte uns ein Student mit einem demolierten Fahrrad weinend, was auf dem Tiananmen passiert war. Er war so verzweifelt und wiederholte immerzu: „Blut fließt in Strömen, Blut fließt in Strömen. Die Panzer fahren so schnell auf den Platz, die meisten Studenten haben keine Chance wegzulaufen. Die Soldaten schießen wie verrückt. Sie schießen auch auf die Rettungstruppe vom Roten Kreuz. Die Körper von manchen Studenten sind zerlöchert wie Bienenwaben. Ich hatte Glück und konnte fliehen. Mein Fahrrad wurde von mehreren Schüsse getroffen…“

Die Luft war eisig. Alle haben geweint. Sofort wurden kleine Gruppen gebildet, alle hatten nur den Gedanken, diese Nachricht sofort an alle Bürger weiterzugeben. Ich ging mit einer Gruppe von etwa acht Studenten los. Wir liefen in Richtung Peking Qinghe und wollten zuerst die dort stationierten Soldaten informieren. Wir hofften, sie würden nun endlich verstehen, in welch eine bösartige Aufgabe sie verstrickt waren.

Die Soldaten – abgestumpft und ahnungslos

In Peking Muxudi standen Panzer und Armeewagen, mehrere Kilometer lang. Sie waren voll besetzt mit Soldaten. Wir gingen vor die Panzer und riefen den Soldaten zu, was auf dem Tiananmen passiert war. Obwohl ich vor Tränen kaum sprechen konnte, ging ich zu den Soldaten und versuchte mit ihnen zu reden. Aber sie zeigten keinerlei Reaktion. Sie schienen alle ahnungslos zu sein.

Ich dachte, sie wurden alle von der Regierung getäuscht, da die Propaganda in den Medien von einem konterrevolutionären Putsch gesprochen hatte, der niedergeschlagen werden müsste. Ihre Abgestumpftheit und Ahnungslosigkeit machte mich tief betroffen, das war eben die Wirkung der anhaltenden Täuschung durch die Propaganda.

Wir liefen den ganzen Tag durch die Stadt und egal, wo wir waren, sprachen wir in der Öffentlichkeit über das Massaker. In der „Peking Qinghe Textilfabrik“ gingen wir in die Fabrikhallen und erzählten den Arbeitern von den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Wir versuchten, sie zum Aufstand gegen das Massaker aufzurufen. Sie waren schockiert, aber sehr ängstlich.

Die Menschen konnten es nicht fassen. Unterwegs sahen wir ein kleines Kind auf einem langsam fahrenden Wagen, sein Körper zeigte ein großes Loch. Das Kind war tot. Die Mutter weinte laut. Aber im Radio wurde ununterbrochen wiederholt, dass viele Soldaten von Aufrührern angegriffen und sogar verbrannt worden seien, auch viele Armeewagen seien von den Aufrührern verbrannt worden. Mit der Unterstützung der heldenhaften Soldaten sei der Putsch endlich niedergeschlagen worden. Das sei ein großer Sieg. Die naiven Studenten seien von einer kleinen Gruppe, die China umstürzen wollte, ausgenutzt worden.

Ich konnte dieser Propaganda nicht glauben, da ich anderes gesehen hatte, da ich selber an der Bewegung teilgenommen hatte. Ich und alle anderen wünschten nur, dass sich die Geschicke unseres Landes zum Guten wenden würden. Die Studenten, die Bürger von Peking waren immer friedlich und gewaltlos. Wie könnten sie gegen bewaffnete Soldaten in Panzern und Wagen kämpfen? Die Medien verbreiteten nur Lügen.

Die Propaganda grub sich in die Köpfe ein

Der Platz des Himmlischen Friedens wurde sofort nach dem Massaker gründlich gesäubert und abgesperrt. Auch viele andere Straßen wurden gesperrt, der öffentliche Verkehr war teilweise lahmgelegt. Den Studenten, die aus anderen Städten nach Peking gekommen waren, wurde über Radio mitgeteilt, sie sollten sofort das Vertretungsbüro ihrer jeweiligen Universität in Peking kontaktieren und um Hilfe bitten, um zu ihrer Uni zurückzukehren.

Meine Mitbewohnerin und ich wussten nicht, was wir machen sollten. Aus Angst und Unwissen gingen wir doch zu dem Vertretungsbüro unserer Uni in Peking. Der stellvertretende Vorsitzende des Partei-Komitees unserer Uni leitete dort persönlich die Arbeit. Jeder wurde von ihm nach Namen, Fakultät und dem Grund, warum man nach Peking gekommen war, befragt. Meine Mitbewohnerin und ich gaben nicht unsere wahren Namen an. Wir wurden von einem Universitäts-Mitarbeiter zum Bahnhof begleitet und durften ohne Ticket in den Zug nach Hangzhou einsteigen, wo wir studierten.

Nach langem Streik wurden die Vorlesungen wieder aufgenommen. Alle Studenten unserer Uni, die nach Peking gefahren waren, wurden mehrmals zu Gesprächen bestellt. Jeder sollte seine persönlichen Erlebnisse in Peking und seine eigenen Gedanken über den sogenannten Putsch aufschreiben. Wir waren nicht der Meinung, dass die studentische Bewegung ein Putsch war. Aber wir mussten es so schreiben, sonst wären wir nicht durchgekommen.

Selbst im Studentenwohnheim wagten wir nur offen über das Thema sprechen, nachdem das Licht ausgeschaltet und alle anderen ins Bett gegangen waren. Die tagtäglich ununterbrochen auf uns einströmende Propaganda hat nach und nach ihre Wirkung auch bei uns getan. Wie schnell hatten wir fast alles vergessen, wie und mit welchem Wunsch wir die Demonstration angefangen hatten. Die offizielle Meinung grub sich langsam in unsere Köpfe ein. Ich selbst machte dabei keine Ausnahme.

Ich fing auch an, an der ganzen Sache zu zweifeln: „Wurden wir – naive Studenten – von einer kleinen Gruppe ausgenutzt, die so an die Macht kommen wollte? Wollten sie das Land umstürzen?“ Ich konnte nicht mehr klar denken. Erst nachdem ich eine Weile in Deutschland war, wurde mir wieder klar, wie die Propaganda mich und uns alle getäuscht hat.



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