Umdenken angesagt: Chinas Gesellschaft ist keine marschierende Masse

Über mehrere Jahre hinweg befragten Forscher der Universität Stanford Menschen in China. Sie wollten herausfinden, inwieweit sie hinter der Ideologie der Kommunistischen Partei Chinas stehen. Die Ergebnisse deuten auf ein Volk hin, dass sich nach Freiheit sehnt und die Propaganda der Partei längst durchschaut hat. Für die westliche Politik sind diese Erkenntnisse von großer Bedeutung für den Umgang mit dem kommunistischen Regime.
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Hankou-Bahnhof, Wuhan, Januar 2020.Foto: Getty Images
Von 22. Februar 2022

Die westliche Politik geht bezüglich des Umgangs mit Chinas Regime im Allgemeinen davon aus, dass die chinesische Gesellschaft größtenteils hinter der Politik des Pekinger Regimes steht. Man weiß, dass die Kommunistische Partei Chinas unermüdlich die unter ihrer Kontrolle befindlichen Medien dazu missbraucht, ihre Propaganda zu verbreiten. Auch die regulären staatlichen Organe werden zur Durchsetzung ihrer sozialistischen Agenda herangezogen. Doch neue Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass die chinesische Gesellschaft weit weniger den Parolen der Partei glaubt, als bisher gedacht. Mehr noch, der Wunsch nach Freiheiten und echter Marktwirtschaft scheint größer denn je.

Eine neue Sicht auf Chinas Gesellschaft

Zwei Professorinnen der amerikanischen Universität Stanford in Kalifornien widerlegten in jahrelanger Forschung zu Chinas Gesellschaft den roten Mythos, dass die Chinesen weitgehend von der Propagandamaschine der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) geprägt sind oder es nicht wagen würden, ihre unabhängigen Ansichten mit anderen zu teilen. Diese vereinfachende Sichtweise der chinesischen Gesellschaft sei jedoch falsch. Über Jahre hinweg befragten Jennifer Pan und ihrer Kollegin Yiqing Xu Menschen in China unter schwierigen Bedingungen.

Pan und Xus Forschungen wurden in einer Zusammenarbeit zwischen dem „Stanford Center on China’s Economy and Institutions“ und der Washingtoner Denkfabrik „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) mit dem Ziel verarbeitet, „die Lücke zwischen quantitativer akademischer Spitzenforschung und der politischen Gemeinschaft Washingtons zu schließen“, erklärt das CSIS im Vorspann eines umfangreichen Features zu den Forschungen der Stanford-Professorinnen.

Man kam zu dem Schluss, dass die Erkenntnisse von Pan und Xu entscheidende Auswirkungen auf die amerikanische Politik gegenüber China haben könnten, weil die öffentliche Meinung in China wohl doch weniger eng mit der KPC-Propaganda verbunden ist, als allgemein angenommen wird. Wie CSIS herausstellte, könnte daher ein besseres Verständnis der Rolle der öffentlichen Meinung in China und der ideologischen Ansichten der Bevölkerung einen Einblick in einige Triebkräfte und Einschränkungen der chinesischen Politikgestaltung geben – vor allem, was den Blick auf die Mittelschicht und die Unternehmer in China betrifft.

Amerikanische Politiker gingen derzeit eher davon aus, dass Chinas Führer Xi Jinping und die KPC von der öffentlichen Meinung in China nicht herausgefordert würden, schreibt CSIS. Viele Studien zu China würden den Angaben nach davon ausgehen, dass die Unterstützung für das Regime und die Zufriedenheit relativ hoch seien, insbesondere in der Mittelschicht und bei den Unternehmern. Doch die Forschungen von Pan und Xu kamen zu anderen Ergebnissen.

Führer Xi – Herrscher der Unterschicht?

Zwar hat die öffentliche Meinung in einer Diktatur wie China weniger Einfluss auf die Politikgestaltung, wie etwa in Demokratien, jedoch verweist CSIS auf den Umstand, dass die Unterstützung der höheren Gesellschaftssicht „wichtig für das Überleben des Regimes“ sei. Auch sei die „Stimme der Mittelschicht“ im Allgemeinen einflussreicher bei der Gestaltung der Politik als die der Bürger der Unterschicht.

Xu und Pan hatten im Vergleich von Befragungen zwischen 2012 und 2019 herausgefunden, dass die kommunistische Ideologie in China über die Zeit hinweg stabil mit dem Einkommens- und Bildungsniveau zusammenhängt. Befragte mit höherem Einkommen und höherem Bildungsniveau vertraten demnach eher freiheitliche und marktfreundliche Ansichten als jene mit einem niedrigeren Einkommen und niedrigerem Bildungsniveau. Auch die vom kommunistischen Regime angeheizte aggressive Form von chinesischem Nationalismus ist demnach eher in den niedrigen Gesellschaftsschichten vertreten.

Die „schweigende Mehrheit“ in Opposition

Auch angesichts des harten Vorgehens von Xi Jinping gegen die Privatwirtschaft zeigten sich die meisten Befragten kritisch. Die favorisierte Meinung dazu war, dass der Staat die Unterstützung für die staatlichen Unternehmen reduzieren und die Steuern für die privaten Unternehmen senken sollte. „Mit anderen Worten, die Befragten wünschen sich gleiche Wettbewerbsbedingungen, bei denen die Marktleistung und nicht die öffentliche Hand den Erfolg eines Unternehmens bestimmt“, fasste CSIS diesen Punkt zusammen.

In Richtlinienexperimenten fanden Pan und Xu zudem heraus, dass die meisten Befragten auch die freie Meinungsäußerung über die von der Regierung viel gepriesene und eingeforderte soziale Stabilität stellten. Viele glaubten sogar nicht mehr daran, dass solche Freiheiten die Stabilität zwangsläufig untergraben würden. Laut CSIS werfe dies Fragen über die „Popularität der aktuellen repressiven Politik“ auf.

Bei all diesen Betrachtungen wird deutlich, dass Xi und seine Partei auf ihrem Weg bereits weite Teile der Bevölkerung verloren haben. Laut CSIS würden die Daten der Forscher darauf hindeuten, dass das Regime „mit ausgeprägten ideologischen Ansichten in der Bevölkerung“ konfrontiert sei und die Parteilinie „auf erheblichen, wenn auch leisen, öffentlichen Widerstand stößt“. Mittlerweile sei es eine „schweigende Mehrheit“, die sich Wirtschaftsreformen und politische Freiheiten erhofft.

Schlechter Einfluss auf Chinas Studenten

Doch wie sieht es mit den zukünftigen höheren Gesellschaftsschichten Chinas aus, den heutigen Studenten? Statistiken nach studierten im Schuljahr 2019/2020 über 370.000 chinesische Studenten in den USA. Um Näheres über die ideologische Beeinflussung chinesischer Studenten herauszufinden, führten Pan und Xu mehrere Umfragen in China und in den USA durch.

Bei den Befragungen von chinesischen Studenten an drei führenden chinesischen Universitäten und an 60 US-Institutionen fanden die Forscher heraus, dass jene, die zum Studieren in die USA gegangen waren, im Durchschnitt politisch freier und marktfreundlicher eingestellt waren. Auch hingen sie dem chinesischen KP-Nationalismus weniger stark an. Bei den direkt im Einflussbereich der Partei befindlichen Studenten an Chinas Spitzenuniversitäten war dies eher umgekehrt.

CSIS sieht darin einen Hinweis darauf, dass möglicherweise freier eingestellte chinesische Studenten lieber in den USA als in China studieren oder aber dass sie von ihren Familien dazu ermutigt wurden, weil diese die Politik der KPC weniger unterstützen und ihren Kindern andere Perspektiven und Möglichkeiten bieten wollen.

Allerdings gibt es bei den chinesischen Studenten in den USA auch ein Problem. Vermehrt wurden Vorwürfe bezüglich des Diebstahls von geistigem Eigentum laut. Auch sollen laut CSIS „einige chinesische Studentenorganisationen auf Geheiß der Partei handeln und die Redefreiheit an amerikanischen Universitäten bedrohen“.

In beiden Fällen, beim Studium in China und auch beim Studium in den USA, wurde deutlich, dass als ausschlaggebende Kraft für extreme Einstellungen oder Handlungen der negative Einfluss der Kommunistischen Partei zugrunde liegt.

Anmerkung d. Red: Über Jahre hinweg nutzten Pan und Xu eine Vielzahl von Kanälen und Methoden bei ihren Befragungen der Bevölkerung Chinas. Da Umfragen in einem autoritären Umfeld wie China äußerst schwierig sind, fragten die Stanford-Professorinnen Jennifer Pan und Xu die Menschen dort nicht nach direkten Bewertungen des politischen Systems. Um das Problem der Selbstzensur zu umgehen, stellten sie stattdessen politikspezifische Fragen zu bestimmten Themenbereichen – auch zum Schutz der Befragten.



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