Hochwasser in China: Eine menschengemachte Katastrophe?

Dieser Gastbeitrag ist der Originaltext zum Video: „Hochwasser in China: Eine menschengemachte Katastrophe?“ vom YouTube-Kanal „Leas Einblick“

Das Thema Extremwetter, vor allem Hochwasser, macht in diesem Sommer immer wieder Schlagzeilen. 

In Deutschland starben Menschen nach dem Hochwasser. Schwere Überschwemmungen gab es auch in London und Belgien. 

In der chinesischen Provinzhauptstadt Zhengzhou sind Menschen sogar mitten in der Stadt ertrunken – nicht in einem Fluss oder Wasserkanal, wie man vielleicht denken mag, sondern in der U-Bahn und im Autotunnel – und das in der Hauptverkehrszeit. 

Was sind die Ursachen für die Hochwasserkatastrophe? Extremwetter durch den Klimawandel?

Teilweise ja. Doch bei der Überflutung in Zhengzhou haben durchaus ein paar andere Faktoren eine wesentliche Rolle gespielt. Mehr zu den Gründen der Wasserkatastrophe und der aktuellen Lage in Zhengzhou erfahrt ihr gleich.

Es ist der 7. Tag nach der Hochwasserkatastrophe in Zhengzhou. Die Straßen sind wieder trocken. Es ist wieder die Feierabendstunde. 

Seit der Tragödie mit 14 Toten am 20. Juli ist das Eingangstor der U-Bahn-Station Shakoulu geschlossen. Viele Blumensträuße liegen auf dem Boden. Sie erinnern an die Fahrgäste, die in der U-Bahn ertrunken sind. 

Die Chinesen glauben, dass die Seele eines Verstorbenen sieben Tage nach dem Tod nach Hause zurückkehrt, um sich von den Familienmitgliedern zu verabschieden. Nach diesem Abschied wird sie die Welt endgültig verlassen. Es ist also die letzte Chance für die Lebenden, die Nähe ihrer geliebten Verstorbenen zu spüren. Nach altem Brauch wird häufig ein Schild mit einer entsprechenden Inschrift vor dem Haus angebracht, um sicherzustellen, dass die Seele des Verstorbenen den Weg nach Hause findet.

Ein Foto von einem Mann im blauen Regenmantel kursiert im chinesischen Internet. 

Der Mann saß mit hängendem Kopf vor der U-Bahn-Station, bewegungslos wie eine Statue. Neben ihm stand sein Fahrrad. Daran befestigt, ein Plakat aus Pappe. Darauf stand: „Niuniu, Papa möchte dich immer noch abholen und nach Hause fahren“. Niuniu ist ein beliebter Kosename für Mädchen in China.

Der Starkregen, der eine historische Flut ausgelöst hatte, hat längst aufgehört. Doch der Mann saß da, in seinem blauen Regenmantel, den er vor sieben Tagen trug, als er seine Tochter von der U-Bahn-Station abholen wollte. Er trug wieder den selben Regenmantel, als ob er sicherstellen will, dass ihn die Seele seiner Tochter sofort wieder erkennt und mit ihm zusammen nach Hause fährt. 

Die Tochter dieses Mannes war eine der etwa 500 Fahrgäste, die am 20. Juli vier Stunden lang im U-Bahn-Tunnel feststeckten. 

Vor der Katastrophe hat das örtliche Wetteramt fünf rote Warnungen für Unwetter herausgegeben. Doch die Behörden haben nichts unternommen. Keine Schule und auch keine Betriebe wurden geschlossen. Die U-Bahn fuhr auch weiter, bis die Waggons eines Zuges der Linie 5 im Wasser stecken blieben und nicht mehr weiterfahren konnten. Es war ungefähr 18 Uhr. 

Handy-Aufnahmen von den steckengebliebenen Fahrgästen zeigten, wie das Wasser in den Waggons anstieg. Verängstigt klammerten sich viele an die Haltegriffe in der U-Bahn. Die braune Brühe stand bis zur Schulter mancher Fahrgäste. Die Luft wurde immer dünner, berichteten die Überlebenden. Etwa vier Stunden mussten sie in Todesangst verbringen, bis sie vom Rettungsdienst befreit wurden. Für viele war es da schon zu spät. 

Was war die Ursache für diese Katastrophe? Die chinesischen Behörden sprechen von einer „Jahrtausendflut“, die vom Starkregen ausgelöst wurde. 

In der Tat hat es am Tag der Überflutung extrem stark geregnet. Allerdings trifft das Wort „Jahrtausendflut“ nicht zu. Wetteraufzeichnungen gibt es in China erst seit 1951, also seit 70 Jahren. 

Die Provinz Henan ist ein trockenes Gebiet mit wenig Niederschlag. Doch ein Starkregen im Jahr 1975 setzte schon mal einen Rekord. Dieser Rekordniederschlag führte zu Dammbrüchen bei 62 Stauseen und dem Tod von über 26.000 Menschen. Die gemessene Regenmenge von damals lag bei 830 Millimetern innerhalb von 6 Stunden, also 830 Liter pro Quadratmeter, wobei der Regen größtenteils in den ersten drei Stunden fiel.

Laut Aussagen der chinesischen Behörden erreichte die Regenmenge in Zhengzhou am 20. Juli dieses Jahres, zwischen 16 und 17 Uhr, 202 Millimeter. Das war heftig genug, um das Abwassersystem der Stadt Zhengzhou schwer zu belasten, sodass es zu einer Überschwemmung kam. Allerdings kam noch etwas oben drauf.

Inzwischen ist bekannt, dass genau an diesem Tag Wasser aus einem Stausee abgelassen wurde, der nur weniger Kilometer von der Stadt Zhengzhou entfernt liegt. Die Bürger der Stadt waren nicht informiert. 

Nun die Frage:

Die Wettervorhersage hat doch schon mehrere Tage zuvor Starkregen angesagt. Warum hat die Verwaltung des Stausees so lange mit dem Ablassen des Wassers gewartet?

Dazu muss man wissen: Die Stauseen in China dienen nicht nur der Trinkwasserversorgung, der Regulierung des Wasserstandes im Fluss und dem Hochwasserschutz. Stauanlagen werden auch zur Stromerzeugung genutzt. Dann steht man oft vor dem Problem: Wenn zu viel Wasser abgelassen wird, kann nicht ausreichend Strom erzeugt werden. Strom bringt aber Geld. Wenn zu viel Wasser in einer Stauanlage gespeichert ist, gibt es Überflutungsgefahr. Deshalb fällt es den Beamten sehr schwer, sich zu entscheiden, wann der optimale Zeitpunkt ist, das Wasser bei starkem Regen abzulassen.

Ihr werdet Euch vielleicht fragen: Wenn das Ablassen schon entschieden wurde, warum waren die Bewohner im betroffenen Gebiet nicht rechtzeitig informiert worden?

In China passiert es oft, dass das Wasser von Stauanlagen heimlich abgelassen wird. Warum? Es hängt damit zusammen, dass irgendjemand die Verantwortung für die Entscheidung tragen muss. Wer ist zum Beispiel für den sichtbaren wirtschaftlichen Schaden durch das Ablassen des Wassers verantwortlich, falls es doch nicht zu Hochwasser kommen würde? 

Die Politiker sind nicht vom Volk gewählt. Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um die Bürger vor potenziellen Gefahren zu schützen, steht bei ihnen also nicht im Vordergrund.

Die Leistungen der Beamten in China werden in erster Linie daran gemessen, wie loyal sie gegenüber der Partei sind und wie schnell sie die Parteipolitik umsetzen können. Deshalb wartet jeder auf die Entscheidung seiner Vorgesetzten. Wenn viele so denken, dann dauert der Entscheidungsprozess bei schwierigen Sachen immer länger.

Hinzu kommt ein weiterer, besonders entscheidender Faktor – nämlich: Das Statut der Kommunistischen Partei Chinas schreibt vor, dass nur das Zentralkomitee der Partei befugt ist, Entscheidungen über wichtige politische Fragen von nationaler Bedeutung zu treffen.

Auf der Provinzebene ist es dasselbe: Es ist der Parteisekretär, der das letzte Wort hat. Und dieser Parteisekretär ist nicht unbedingt ein Mann vom Fach. Aber auf diese Weise funktioniert das politische System Chinas. Ohne diesen Systemfehler zu beheben, lässt sich kein gesunder Entscheidungsprozess in China aufbauen – nämlich weniger an die Parteikarriere und mehr an das Wohl des Volkes zu denken.

Ein Sprecher des Chang-Zhuang-Stausees in Zhengzhou gab zu, dass am Tag der Katastrophe große Wassermassen abgelassen wurden – andernfalls wäre der Damm gebrochen. 

Viele Überlebende des überfluteten Jingguang-Autotunnels in der Stadt Zhengzhou sind davon überzeugt, dass die Überflutung des Tunnels doch mit dem Vorgehen des Chang-Zhuang-Stausees zusammenhängt. „Sonst wäre der Tunnel nicht innerhalb von 5 Minuten von einem starken Wasserstrom geflutet worden“, sagte ein Überlebender. 

Der Jingguang-Autotunnel ist etwa vier Kilometer lang und hat insgesamt sechs Fahrspuren in beide Richtungen.

Ein Überlebender sagte einer chinesischen Zeitung, dass es schon einen Stau in dem Tunnel gab, als er nachmittags um 15:30 Uhr dort ankam. Staus sind zur Feierabendstunde recht üblich. Deshalb saßen alle geduldig in den Autos und warteten. 

Videoaufnahmen von Autofahrern zeigen den Stau im Tunnel, bevor er geflutet wurde. Augenzeugen schätzen, dass über 1.000 Fahrzeuge im Tunnel feststeckten.

Als der Tunnel plötzlich von der braunen Brühe gefüllt wurde, hatten diejenigen, die weit von den Ein- und Ausgängen des Tunnels standen, keine Chance zu fliehen.

Dieses Video wurde vor den Bergungsarbeiten aufgenommen.

Der Jingguang-Autotunnel ist ein Aushängeschild der Stadt Zhengzhou.

Erst im Mai hat die Stadt Zhengzhou noch voller Stolz über den sogenannten „intelligenten Tunnel“ berichtet, der durch die digitale Steuerungstechnik angeblich sehen, denken und reden könne. Laut dem Bericht ist der Tunnel mit vielen Sensoren und Videokameras ausgestattet. Die Daten jedes Autos, das durch den Tunnel fährt, werden erfasst. Wenn sich Verkehrsunfälle, Brände oder andere Probleme im Tunnel ereignen, sendet das System automatisch Warnungen an die entsprechenden Stellen. Auf einem riesengroßen Bildschirm im Kontrollzentrum werden alle Daten über jedes Fahrzeug angezeigt. 

Von solch einem intelligenten Überwachungssystem hätte man eigentlich erwarten können, dass die Stadt ganz genau weiß, wie viele Fahrzeuge im Tunnel waren, als das Hochwasser ankam und wie viele Personen in den Autos saßen. Doch dazu gab die Tunnel-Verwaltung keine Angaben. 

Inzwischen sind die Bergungsarbeiten abgeschlossen – sowohl im Autotunnel als auch im U-Bahn-Tunnel. Laut offiziellen Angaben sind sechs Personen im Tunnel ertrunken. 

Wenn man sich jedoch die vielen beschädigten Autos anschaut, fragt man sich: Wo sind die Insassen geblieben? Konnten sie sich wirklich in so kurzer Zeit in Sicherheit bringen? 

Es gibt Fragen über Fragen, die unbeantwortet bleiben.

Die Blumensträuße vor dem Eingang der Shakoulu-Station wurden an diesem 7. Tag nach der Katastrophe auch immer mehr.

Als die Dunkelheit anbrach, stellten die vorbeigehenden Passanten fest, dass die Behörden menschenhohe Schutzwände rund um die Blumensträuße aufgestellt hatten.

In der Nacht wurden die aneinander gebundenen Schutzwände abgebaut. Ein mutiger Bewohner in der Nähe der U-Bahn-Station bekannte sich über WeChat dazu. Man soll „den Heimweg der Seelen der Verstorbenen nicht sperren“, sagte er. 

Am zweiten Morgen hat die Behörde die Schutzwände wieder aufstellen lassen. Dann wurden sie wieder von Bürgern abgerissen.

Man fragt sich, was es da zu verbergen gibt? Hat die Behörde etwa Angst davor, dass die vielen Blumen verraten könnte, dass die tatsächliche Anzahl der Todesopfer höher liege, als offizielle angegeben?

Gründe zum Anzweifeln gibt es genug. In den ersten Tagen nach der Katastrophe gab es gar keine Pressekonferenzen der Stadtverwaltung.

Während der Bergungsarbeiten standen also viele Bewohner der Stadt, die Angehörige und Freunde vermissten, Tag und Nacht auf den Straßen, um möglichst schnell an Informationen über den Stand der Bergungsarbeiten zu kommen.

Ihre Handy-Aufnahmen zeigen, wie die vom Wasser geschädigten Waggons vom Schlepper wegtransportiert worden sind. Mit dabei war auch ein Omnibus. Alle Fenster wurden mit schwarzen Tüchern abgedeckt, so dass niemand den Innenraum sehen konnte. Was gibt es da zu verbergen? Waren etwa doch mehr Leichen darin, als angegeben?

Doch alle Medien haben die Anweisung von oben bekommen, dass sie mehr über die sogenannten positiven Sachen berichten sollen.

Wer gegen die Vorschriften verstößt, bekommt es sofort mit der Polizei zu tun.

Dieses Foto hat ein chinesischer Journalist geschossen. Es zeigt die vielen Blumen, die vor der U-Bahn-Station Shakoulu niedergelegt wurden. Unter dem Druck der Polizei musste der Journalist das Foto löschen. Doch der Polizist wusste nicht, dass der Journalist am Abend das gelöschte Foto wiederhergestellt hat.

Ein anderer chinesischer Journalist wurde von der Polizei abgeführt, nachdem er ein Foto von dem selben Blumenmeer aufgenommen hat, schrieb sein Kollege im Internet.

Ab hier geht es weiter … 

Die Blumen vor der U-Bahn-Station haben viele Menschen angezogen. Unter den Fußgängern befinden sich zahlreiche Sicherheitskräfte in Zivilkleidung. Folgende Videoaufnahme zeigt, wie ein junger Mann, der die Blumen mit einer Drohne filmen wollte, von den Sicherheitskräften zusammengeschlagen wurde. Die Szene ist ziemlich brutal. Bitte überspringt sie, wenn ihr sie nicht sehen wollt.

Der junge Mann wurde zu Boden geworfen. Ein dunkel gekleideter Mann packte seinen Arm und bog ihn nach hinten. Der junge Mann schrie vor Schmerzen. Vor der U-Bahn-Station stand kein Hinweis, dass man die Blumen nicht fotografieren darf. Zum Glück waren einige Passanten herangetreten und haben sich vor den jungen Mann gestellt. 

Das ist der Alltag in China. Niemand kann noch den Unterschied zwischen einer Mafiabande und der kommunistischen Partei Chinas sehen.



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