Vereinzelt, getrennt, beherrscht

Solidarität durch Nichtstun, Solidarität durch Selbstschutz – was könnte sich schöner anfühlen? Wie totalitäre Strukturen in individualistischen Gesellschaften entstehen und was der moderne Staat damit zu tun hat.
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Die Individuen werden durch die weitgehend gekappten Beziehungen untereinander zu einer unorganisierten, leicht regier- und steuerbaren Masse von Personen, die mehr oder weniger allesamt vom Staat abhängig sind.Foto: iStock
Von 26. Januar 2022
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Laut Duden bedeutet „Solidarität“ das unbedingte Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele. Es kommt vom lateinischen „solidus“, was so viel heißt wie dicht, fest, stark, echt oder völlig. Wenn im Zusammenhang mit der Corona-Krise von Solidarität gesprochen wird, die wir unseren alten und kranken Mitmenschen schuldig sind, nimmt das Wort jedoch eine etwas überraschende Bedeutung an. Das „unbedingte Zusammenhalten“, das von uns gefordert wird, bedeutet nämlich nicht, dass wir dicht und fest beieinanderstehen sollen. Laut Regierung und Medien ist darunter stattdessen etwas anderes zu verstehen:

Isolierung des Einzelnen als Solidarität?

Solidarität heißt, seinen Mitmenschen nicht näher als 1,50 Metern zu kommen; Solidarität heißt, seinen Mitmenschen die Hand nicht mehr zu geben; Solidarität heißt, seine einsame Oma nicht mehr zu besuchen; Solidarität heißt, auf Menschenansammlungen und insbesondere auf Demonstrationen zu verzichten; Solidarität heißt, am besten gleich ganz zu Hause zu bleiben und den Kontakt zu anderen auf ein Minimum zu reduzieren; Solidarität heißt, sich eine Impfung verpassen zu lassen, die eigentlich nur einen selber schützt (wenn überhaupt). Kurz: Solidarität bedeutet im derzeitigen Sprachgebrauch, sich auf sich selbst zurückzuziehen und die Beziehungen zu anderen Menschen möglichst zu kappen.

Natürlich ist mir klar, dass man mit den Kontaktbeschränkungen vorgeblich dabei mithilft, die Weitergabe des Virus zu verhindern. So jedenfalls soll das Wort „Solidarität“ in der Corona-Krise verstanden werden. Trotzdem hört sich der Maßnahmenkatalog eigenartigerweise genau wie das Gegenteil von Solidarität an. Es klingt viel eher wie der Versuch, die Isolierung des einzelnen par ordre du mufti herbeizuführen und zu verstärken.

Es ist die im Rahmen der Corona-Krise von der Regierung erzwungene Vereinzelung und Isolierung der Menschen, die ich im Folgenden kurz einordnen und kommentieren möchte.[1] Vielen Beobachtern, gerade auch im liberalen Lager, ist die individualisierende Seite des Staates nämlich kaum bewusst und ihre Bedeutung unverständlich. Wer sich hauptsächlich mit der Rolle des Staates bei den sozialistischen und kollektivistischen Tendenzen in unserer Gesellschaft befasst, für den liegt der Gedanke ziemlich fern, dass der Staat ausgerechnet ein Katalysator der Individualisierung sein könnte.

Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich vorwegschicken, dass es nur allzu verständlich ist, wenn die Angst vor sozialistischen Tendenzen in unserem Land immer größer wird. Der Steuerzahlergedenktag fiel im Jahr 2021 auf den 13. Juli. Mehr als die Hälfte des Jahres haben die deutschen Bürger im Schnitt also nicht für sich selbst gearbeitet, sondern für diverse Staatszwecke, insbesondere natürlich für die Umverteilung der Einkommen. Hinzu kommt eine ständig wachsende Bürokratie auf allen staatlichen Ebenen sowie – ganz besonders spürbar und auffällig seit 2020 – äußerst weitgehende Einschränkungen der Wirtschaft, der Kultur und selbst des Privatlebens durch diverse Verordnungen des Bundes und der Länder.

Maximale Individualisierung

Die gängige Deutung jedoch, wonach mit dem Staat auch der Kollektivismus auf dem Vormarsch sei, wohingegen der Individualismus dem Staat als ein Feind gegenüberstehe, sozusagen als ein Gegenmittel gegen den Kollektivismus, greift meines Erachtens zu kurz. Wer sich umsieht, wird schnell feststellen, dass wir trotz steigenden Staatsanteils und ständigen Staatsinterventionen in der wahrscheinlich individualistischsten Welt leben, die es je gab. Ein vielsagendes Beispiel (unter unzähligen) lieferte der bekannte deutsche Moderator Thomas Gottschalk, als er im September 2019 zu Gast in der Talkshow von Markus Lanz war und dort über seine zuvor gescheiterte Ehe sprach. In diesem Zusammenhang sagte er den folgenden, durchaus bemerkenswerten Satz: „Ich rechne, ich denke, ich versuche und ich habe eben einfach einen Entschluss gefällt, der für viele nicht nachvollziehbar ist, und dann sage ich: Ist mir egal, Hauptsache für mich ist er nachvollziehbar.“

Bemerkenswert ist der Satz natürlich nicht so sehr für seinen Inhalt, als für die Reaktion, die er hervorrief: Das Studiopublikum brach spontan in einen zustimmenden Applaus aus.

Hatte Gottschalk etwas ganz besonders Kluges oder Tiefgründiges gesagt? Wohl kaum. Der Grund für den spontanen Applaus war ein anderer. Er hatte schlicht und ergreifend die Weltanschauung bedient, die sich in unserer Gesellschaft mittlerweile derart ausgebreitet hat, dass sie von fast allen unhinterfragt akzeptiert und bejubelt wird. Um genau zu sein, Gottschalk hat die Scheidung von seiner Frau individualistisch begründet, nach dem Motto: „Ich will es so und damit ist es auch gut und richtig.“

Gemäß dem Individualismus ist jeder Mensch ein Zweck an sich. Jeder hat das Recht, sich selber zu definieren, sich seine eigenen Werte auszusuchen und seine Lebensentscheidungen unabhängig von anderen zu treffen. Niemand anderes darf dem Einzelnen da reinreden oder ihm am Ende sogar fremde, nicht selber gewählte Werte aufdrängen. So, wie man sich über Geschmack nicht streiten kann, lässt sich demnach auch über Werte und Lebensentscheidungen nicht streiten. Das sind alles Dinge, die nur das betroffene Individuum etwas angehen.

Es ist nun von zentraler Bedeutung zu verstehen, dass der moderne Staat keineswegs ein Gegner des so verstandenen Individualismus ist. Im Gegenteil, der Staat ist der größte Garant und Durchsetzer des Individualismus, den man sich nur vorstellen kann. Der liberale Sozialphilosoph Bertrand de Jouvenel (1903-1987) weist in seinem sehr empfehlenswerten Buch über das Staatswachstum darauf hin, dass der Staat eben gerade nicht auf Kosten der Individuen und ihrer Freiheit wächst, sondern als deren zumindest scheinbarer Verbündeter:

„Die Ausdehnung seiner [gemeint: der Staat] Macht scheint dem Individuum weit weniger als kontinuierlicher Angriff auf seine Freiheiten, sondern eher als Bemühung, die es unterdrückenden Kräfte zu zerstören. Es scheint, als ob der Fortschritt des Staates auch den Fortschritt des [E]inzelnen herbeiführe. Hier liegt die Hauptursache für die ständige Komplizenschaft zwischen Untertan und Staat, hier stoßen wir auf das Geheimnis seines Wachstums.“ [2]

Wer den modernen Staat fürchtet oder gar bekämpft, weil er die Freiheit des Einzelnen bedrohe, der hat allenfalls indirekt Recht. Denn warum sollte der Staat den Einzelnen fundamental einschränken? Der Staat hat doch vom Individuum und seiner Entscheidungsfreiheit zunächst einmal rein gar nichts zu befürchten. Dass ich bei Edeka mittlerweile zwischen 100 Sorten von Gummibärlis wählen darf, schadet dem Staat nicht im Geringsten. Im Gegenteil, die Freiheit der Verbraucher, sich in den Konsumtempeln der Gegenwart auszutoben und ihre Bedürfnisse bestmöglich zu befriedigen, ist vielmehr entschieden im Interesse der Regierung. Wer satt ist, geht nicht gerne auf die Barrikaden.

Staat drängt sich in den Vordergrund

Es ist daher sehr erhellend, sich die staatliche Politik einmal im Hinblick auf ihre individualisierende Wirkung anzuschauen. Am Besten ist hierfür die sogenannte Sozialpolitik geeignet, da staatliche Umverteilung ja eigentlich eher in dem Verdacht steht, die Gesellschaft in die Richtung von Sozialismus und Kollektivismus zu drängen. Diese Interpretation muss jedoch dringend hinterfragt werden. Staatliche Sozialpolitik hat als direkte Folge keineswegs die Fesselung der Individuen und ihre Ausrichtung auf einen kollektiven Zweck.

Vielmehr verdrängt sie die Sozialverbände – die Kollektive, könnte man auch sagen – die zuvor für die sozialen Belange der Menschen zuständig waren. Solange es keine staatliche Sozialhilfe gab, war jede Form von Armen- und Versehrtenhilfe von tatsächlich gelebter Solidarität innerhalb der Sozialverbände abhängig. Das setzte allgemein akzeptierte Sitten sowie ein gut funktionierendes Band zwischen den einzelnen Mitgliedern der betroffenen Familien, Sippen, Kirchengemeinden, Dörfer und Städte voraus.

Der Einzelne war in der Not auf die ihn einschließenden oder umgebenden Sozialverbände angewiesen und diese Sozialverbände wurden wiederum von den einzelnen Mitgliedern getragen. Außerhalb dieser Verbände war der Einzelne verwundbar und im Falle der Not aufgeschmissen. Einen allgemeinen Anspruch auf Hartz IV gab es damals noch nicht. Allenfalls auf die Mildtätigkeit der Kirche konnte er noch hoffen.

Indem sich der Staat das Recht oder die Pflicht zur sozialen Sicherung aneignete, setzte er an die Stelle der zahlreichen und manchmal komplizierten, wechselseitigen Beziehungen innerhalb der Sozialverbände tendenziell eine einzige Beziehung, nämlich die zwischen dem Staat einerseits und dem Individuum andererseits.

Wie das Beispiel der Sozialpolitik zeigt, dehnt sich der Staat nicht auf Kosten des Individuums aus, sondern auf Kosten der Verbände, die sich zwischen dem Individuum und dem Staat befinden. Mit anderen Worten, die Staatsaufgaben und der Staat wachsen, indem der Staat die Gesellschaft individualisiert. Er erzeugt somit auch kein Kollektiv. Vielmehr zerstört er alle Kollektive, welche die einzelnen Menschen traditionell aneinanderbinden, indem er sie funktionslos macht.

Aus Sicht der Individuen kann das im Übrigen sehr wohl eine Befreiung sein. Das ist ein Aspekt, auf den auch Bertrand de Jouvenel im obigen Zitat aufmerksam macht. Denn selbstverständlich sind Familien und andere Verbände keine perfekten Häfen der Freiheit, aber anders als der moderne Staat verfügen sie zumeist nicht über ein niedergeschriebenes und durchsetzbares Recht, auf das sich der Einzelne berufen könnte, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Insofern ist der Staat eine Anlaufstelle für alle, die in der traditionellen Gesellschaft benachteiligt werden oder sich wenigstens so fühlen.

Indirekte, gefährliche Bedrohung

Es versteht sich von selbst, dass das bisher Gesagte nicht dahingehend zu interpretieren ist, dass der Staat keine Bedrohung mehr für den Einzelnen darstelle, wenn er sich zu dessen „Komplizen“ macht. Das Gegenteil ist der Fall. Nur ist diese Bedrohung des Einzelnen durch den Staat indirekter Natur und vielleicht gerade deswegen so gefährlich. Diese Bedrohung gilt es zu verstehen. Wäre die Gefahr des staatlichen Totalitarismus leicht und für jedermann schon von weitem zu erkennen und von vorneherein offensichtlich gegen das Interesse jedes Einzelnen gerichtet, würden sich Libertäre und andere warnende Stimmen nicht durchgehend in einer Minderheitenposition befinden.

Als Verbündeter des einzelnen Individuums gegenüber den überkommenen Institutionen und Sozialverbänden und deren Regeln und Sitten hat der Staat leichtes Spiel damit, seine Maßnahmen als freiheitsstiftend zu rechtfertigen. Paradoxerweise nutzt der Staat die als Abwehrrechte gegen ihn gedachten Grund- und Menschenrechte dazu, die eigene Handlungssphäre und damit die eigene Macht stetig auszubauen.

Es ist eine grundlegende und wirkungsvolle Strategie von Politikern, die Ausdehnung der Staatstätigkeit mit der Notwendigkeit zu rechtfertigen, individuelle Rechte zu gewährleisten oder zu schützen. Die Sozialpolitik wurde oben bereits als Beispiel genannt. Selbst der Kampf der Sozialisten war und ist fast immer ein Kampf gegen die Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen – ein Kampf also für individuelle Grund- und Menschenrechte. Die Sozialisten lehnen das Privateigentum ab, weil es aus ihrer Sicht eine Institution ist, durch die eine Klasse der Menschheit in Unterdrückung und Unfreiheit leben muss, wohingegen die unterdrückende Klasse ein arbeits- und müheloses Einkommen erhält.

Die Abschaffung des Privateigentums ist für Sozialisten ein Akt, durch den der Staat Freiheit für alle erzeugt. Auch die im 20. Jahrhundert entstandene linke Identitätspolitik und der Einsatz für Minderheitenrechte sind, wie der weltbekannte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama[3] schreibt, als eine Fortsetzung dieses Kampfes gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen zu verstehen. Das Individuum soll nun nicht mehr von der Ausbeutung durch Kapitalisten befreit werden, sondern von fragwürdigen Klassifizierungen und Vorurteilen durch die Mehrheitsgesellschaft. Die Mehrheit benachteilige und entwürdige Angehörige von Minderheiten nämlich dadurch, dass sie diese nicht als Individuen behandle, sondern als Träger von bestimmten Eigenschaften, die der jeweiligen Minderheit nachgesagt werden.

Staat will eine leicht regulierbare Masse

Der Staat befreit Minderheiten von dem Anpassungsdruck, der durch die Mehrheitsgesellschaft auf sie ausgeübt wird. (Fast) jeder, der sich als Individuum ungerecht behandelt und in seiner Freiheit eingeschränkt fühlt, hat im Staat einen Ansprechpartner. Indem der Staat Minderheiten fördert und Diskriminierungen kriminalisiert, verfolgt er individualistische Ziele.

Das Problem und die Gefahr bestehen nun darin, dass der moderne Staat durch seine vordergründig individualistische Politik eine Summe von vereinzelten und weitgehend isolierten Wählern und Konsumenten erzeugt, die zahlreiche, vom Staat geschützte und garantierte individuelle Freiheiten besitzen und die damit alle seine Verbündeten sind.

Die Individuen werden durch die weitgehend gekappten Beziehungen untereinander zu einer unorganisierten, leicht regier- und steuerbaren Masse von Personen, die mehr oder weniger allesamt vom Staat abhängig sind.

Natürlich spricht man in diesem Zusammenhang nicht von Abhängigkeit, sondern von Rechten, welche die Bürger haben. Ein Recht auf Sozialhilfe, ein Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ein Recht auf Rente, ein Recht auf Subventionen, ein Recht auf Elterngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag und Corona-Auszeit. Recht wird dem Bürger zuteil, wenn und soweit er sich an den Staat wendet. Anders kann und soll er sich Recht nicht verschaffen. Insofern ist der Staat für die Masse der Individuen der einzige Ansprechpartner von Belang, der einzige, auf den er nicht verzichten kann.

Genau aus diesem Grund hat eine individualisierte und abhängige Masse kaum noch eine Möglichkeit, sich gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen, oder wenn sie es tut, dann nur unter Führung eines potenziell gefährlichen Demagogen, der die Massen unter seiner Führung vereint und den Staat dann eben für seine eigenen Zwecke in Anspruch nimmt. In jedem Falle hat eine Masse aus isolierten einzelnen einem entstehenden Totalitarismus nur wenig entgegenzusetzen.

Für den liberal-konservativen Soziologen Robert Nisbet (1913-1996), den ich hier ebenfalls empfehlen möchte, war die Existenz einer zerriebenen, individualisierten Masse nach dem 1. Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise vielmehr eine wesentliche Voraussetzung und der beste Nährboden für den Nationalsozialismus. Es liege im entschiedenen Interesse totalitärer Staaten, die Individualisierung und Vermassung aufrechtzuerhalten und zu verstärken: „Das totalitäre System wird, wenn nötig, Gewalt und Terror einsetzen, um organisierte Minderheiten zu zerstören – wie zum Beispiel widerspenstige Gewerkschaften, Kirchen, ethnische Gruppen – aber zur Masse der Individuen, die übrig bleibt, wenn diese sozialen Beziehungen zerstört sind, wird es sich völlig anders verhalten.“[4]

Die vereinzelten Individuen, so Nisbet weiter, müssten nämlich nicht bekämpft werden, sondern seien durch die Mittel der Massenbeeinflussung und Indoktrination leicht zu steuern.

Organisation von Individuen verhindern

Wenn wir uns die im Rahmen der Corona-Maßnahmen verordnete Pseudosolidarität und ihre weitgehende Akzeptanz im Volk unter dem Aspekt des Individualismus anschauen, ergibt sich daraus ein schlüssiges Bild. Erstens ist es, wie wir gesehen haben, eine wesentliche Folge moderner Staatspolitik, die Organisation der Individuen untereinander und die Errichtung sozialer Verbände zu verhindern oder zu erschweren.

Der Coronavirus war offenbar ein willkommener Anlass, Maßnahmen in dieser Richtung massiv zu intensivieren. Teilweise waren fast sämtliche Treffen von Bürgern untereinander verboten. Unter diesen Umständen war es kaum möglich, sich zusammenzuschließen und zu organisieren. Zahlreiche Vereine haben in dieser Zeit ihre Aktivitäten dementsprechend komplett eingestellt. Es lassen sich kaum Maßnahmen denken, die geeigneter gewesen wären, die Individualisierung der Bürger voranzutreiben.

Zweitens werden die Maßnahmen zumeist individualistisch begründet. Es gehe darum, Menschenleben zu schützen, insbesondere das Leben der Alten und Kranken, also der Risikogruppen. Dass die Begründung eigentlich sogar individualistisch sein muss, wird klar, wenn man sich überlegt, wie eine kollektivistische Begründung aussehen würde.

Wäre es denkbar, dass Herr Lauterbach Maßnahmen damit begründet, die Lebenskraft des deutschen Volkes als Schicksalsgemeinschaft zu gewährleisten? Die Frage zu stellen heißt, sie zu beantworten. Eine Rechtfertigung ist immer nur mit dem Schutz der Summe aller oder vieler Einzelpersonen möglich.

Solidarität durch Nichtstun?

Drittens aber spielt es der individualistischen Grundeinstellung der meisten Menschen in die Hände, wenn sie Solidarität dadurch zeigen können, dass sie die Kontakte mit anderen einschränken und sich auf sich selbst und ihre vier Wände zurückziehen. Solidarität durch Nichtstun, Solidarität durch Selbstschutz – was könnte sich schöner anfühlen?

Es nimmt daher nicht wunder, dass sich die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen lange Zeit eher in Grenzen hielten. Insofern schlägt sich in der leichten Beeinflussbarkeit der meisten Staatsbürger in dieser Angelegenheit bereits nieder, was zuvor schon an Individualisierung und Vermassung erreicht wurde.

Und es macht außerdem deutlich, an welcher Stelle man ansetzen muss, um ein Abgleiten des modernen Staates in das, was die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen eine „totalitäre Ideologie“ nennt, zu verhindern.

Was nottut, ist nicht eine Förderung des Individualismus als vermeintlichen Gegners des Staates und seiner Ausdehnung, sondern die Fähigkeit der Bürger, sich für eine gemeinsame Sache dauerhaft zusammenzuschließen. Nur so kann auf friedlichem Wege ein Druck aufgebaut werden, der groß genug ist, den Staat erfolgreich an seine verfassungsmäßigen Aufgaben und Grenzen zu erinnern.

Insofern stimmen die derzeitigen Demonstrationen in zahlreichen deutschen Städten vorsichtig optimistisch. Bürger, die sich nur für ihr eigenes Schicksal und ihre Selbstverwirklichung interessieren, sind jedenfalls wenig hilfreich, sind vielmehr die besten Verbündeten einer abgleitenden Regierung.

Dr. Eduard Braun ist Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Clausthal.

Quellen:

[1] Näheres zum Zusammenhang zwischen Staat, Individualismus und Totalitarismus, allerdings ohne direkten Bezug auf Corona, findet sich in meinem Beitrag „Das Paradox der Freiheit – Der Sozialismus als individualistische Weltanschauung“, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 71, 2020, S. 90-118. Hier als Diskussionspapier.

[2] Jouvenel, Bertrand de: Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachstums. Freiburg im Breisgau: Verlag Rombach, 1972, S. 159

[3] Fukuyama, Francis: Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2018, S. 106

[4] Nisbet, Robert: The Quest for Community. A Study in the Ethics of Order and Freedom. San Francisco: Institute for Contemporary Studies, 1990, S. 171 ff.



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