Was „Aschenputtel“ lehrt: Trauer, Wertlosigkeit, negative Projektionen überwinden – psychologische Deutung des Märchens
Märchen sind wirkmächtige Erzählungen, die uns mit existenziellen Fragen konfrontieren, die archetypisch sind, also für uns als Menschen universale Gültigkeit besitzen. Und sie geben Antworten auf diese Fragen, wenn wir einen tiefen Zugang zu ihnen finden. Die tiefenpsychologische Deutung kann dabei helfen, diese Weisheit bewusst zu machen.
Dieser Artikel gibt eine Analyse des Märchens Aschenputtel aus tiefenpsychologischer Perspektive und will damit die Weisheiten, die in diesem Märchen stecken, zugänglicher machen. Das Märchen beschreibt zusammengefasst eine Initiationsgeschichte eines jugendlichen Mädchens zur reifen Frau. Das Kernthema – so viel sei vorweggenommen – ist der Konflikt um den eigenen Wert beziehungsweise psychologisch den Selbstwert des Mädchens. Diesen muss sie erkennen und erproben, um zu reifen und wirklich beziehungsfähig zu werden.
Eine Familie in der Krise
Zu Beginn des Märchens haben wir eine Familie in einer Krisensituation: Die Mutter des Aschenputtels stirbt. Die Tochter kommt mit ihrer Trauer nicht zurecht, bleibt in ihr stecken. Der Vater seinerseits scheint seine Trauer zu kompensieren: Er heiratet kurz drauf wieder, und die neue Frau bringt zwei Stieftöchter mit in die Ehe. Ganz modern beschreibt die Ausgangssituation des Märchens also eine Patchworkfamilie.
Aus Sicht des Aschenputtels ist diese neue Familie aber eine zusätzliche Kränkung, ja regelrechte Traumatisierung: Der Vater ist zwar liebevoll, aber schwach und scheint gar nicht zu bemerken, wie sehr die neue Frau versucht, das erste Kind ihres Mannes an den Rand zu drängen. Auch die Stiefschwestern sind „schön und weiß von Angesicht, aber garstig und schwarz von Herzen“.
Psychologisch gesprochen, kommt es zu einer Entwertung des Aschenputtels sowie zu Geschwisterrivalität in der neuen Familienkonstellation. Sie muss die Arbeit einer Küchenmagd verrichten, alle schweren Hausarbeiten tun, und schlafen darf sie fortan nur noch bei der Asche am Herd.
Eine besondere familiäre Schikane – mit Gewinn
Die Entwertung wird zusätzlich durch den Schmutz symbolisiert, in den das Aschenputtel gebracht wird. Heraus sticht dabei eine besondere Schikane, welche die Stiefschwestern dem Aschenputtel auferlegen. Sie muss Erbsen und Linsen aus der Asche lesen und sortieren.
Das verstärkt zwar einerseits die Entwertung, hat aber symbolisch noch eine tiefere Weisheit zu vermitteln: Aschenputtel kann dem Leidhaften ihrer Lebenssituation zwar nicht entrinnen, aber sie ist auch gezwungen, genau hinzusehen und aus der Asche – dem Schmutz – das Wertvolle nicht nur herauszulesen, sondern auch noch zu differenzieren. Diese Differenzierung der Wahrnehmung ist ein wichtiger Anstoß für die Entwicklung des Mädchens.
Es ist kaum zu glauben, dass der Vater den Rivalitäten und Entwertungen gegenüber so blind ist, unter welchen das Aschenputtel zu leiden hat. Hier zeigt sich ein Vorgang, der durchaus in Familien mit ähnlicher Konstellation manchmal so vorkommt: Der Vater hat beispielsweise nach einer Trennung eine neue Partnerin und vernachlässigt die Kinder, kümmert sich mehr um seine Stiefkinder als um seine leiblichen oder gründet mit der neuen Partnerin eine Familie und vernachlässigt die Kinder aus der früheren Beziehung.
Die Väter sind in der Regel dabei nicht böswillig, sondern befürchten unbewusst, ihre aktuelle Partnerschaft zu gefährden, wenn sie sich vermeintlich zu sehr in der „alten“ Familie engagieren. Der Vater des Aschenputtels ist, wie viele andere Väter auch, psychisch nicht ausreichend stark, um sowohl Verantwortung für die „alte“ als auch die „neue“ Familie zu übernehmen.
Der wichtige Haselzweig
Trotz dieser Schwäche bringt der Vater des Aschenputtels aber die Entwicklung des Märchens ins Rollen: Er fragt zwar erst die Stieftöchter, was er ihnen vom Markt mitbringen könnte. Aber er fragt dann auch seine leibliche Tochter, was sie sich wünsche. Die Antwort des Aschenputtels ist kryptisch: Sie weiß nicht, was sie sich wünschen soll, aber er solle ihr den ersten Zweig, der ihm auf dem Heimweg an den Hut stoße, mitbringen.
Damit wird angezeigt, dass das Aschenputtel nicht aus ihrem bewussten Wünschen heraus antwortet, sondern aus ihrem Inneren, aus ihrer Intuition. Sie überlässt sich gewissermaßen dem Guten des Unbewussten. Man könnte ihr auch unterstellen, dass sie aus Resignation und Entwertung heraus geantwortet hat, sicherlich. Trotzdem schafft ihr Wunsch Raum für eine Wandlung ihres Lebens. Und tatsächlich wird die Dynamik des Märchens durch diese schicksalhafte Intervention des Vaters ins Rollen gebracht.
Der Haselzweig ist dabei ebenfalls eine symbolische Betrachtung wert. Der Haselstrauch ist sehr fruchtbar und trägt bis zu 50 Jahre lang Nüsse. In der nordischen Mythologie ist die Hasel dem Donnergott Thor zugeordnet, also dem Bedeutungskreis von Himmelsgottheiten. Der Renaissance-Arzt und Astrologe Nicholas Culpeper ordnet der Hasel den Planeten Merkur zu. Wir haben es insgesamt also mit dem Symbolkreis des Männlichen und des Geistigen zu tun.
Bewusstmachung von Einseitigkeiten ist heilsam
Diese Symbolik wirkt ausgleichend auf die innere Dynamik des Aschenputtels, da sie im Weiblich-Mütterlichen sowie durch die Trauer auch in einem emotionalen Krampf gefangen geblieben ist. Der Impuls gleicht damit die derzeitige psychische Konstellation des Mädchens aus, er schafft eine neue Balance und wirkt dadurch für ihre Entwicklung befreiend. Diese Erfahrung lässt sich auch in der tiefenpsychologischen Psychotherapie immer wieder machen, dass das Bewusstmachen und das Ausgleichen psychischer Konflikte und Einseitigkeiten heilsam wirken.
Diese Ausbalancierung und Integration wird sogleich noch weiter verstärkt, denn das Aschenputtel pflanzt den Zweig ausgerechnet auf das Grab der Mutter und begießt ihn mit ihren Tränen. Damit integriert sie symbolisch Weibliches und Emotionales (Mutter, Trauer) sowie Männliches und Geistiges (Hasel). Außerdem wird Tod (Grab) mit Leben (Hasel) in Verbindung gebracht, denn aus dem auf dem Grab gepflanzten Zweig wächst ein fruchtbarer Haselstrauch.
Damit ist der innere Wandlungsprozess des Mädchens, Weibliches und Männliches zu integrieren und sich von Tod und Trauer ins Leben zu entwickeln, bereits vorweggenommen. Alles fließt, alles wandelt sich; aus Trauer wird Freude, aus Einsamkeit die glückliche Heirat des Aschenputtels – auch eine Weisheit dieses Märchens. Und natürlich wird in dieser Coming-of-Age-Geschichte aus dem Mädchen eine reife und selbstbewusste Frau.
Die Entdeckung einer neuen Identität
Die in der geradezu magischen Pflanzung des Mädchens vorweggenommene Wandlung ist aber bisher nur ein Entwurf – der Beginn eines inneren Entwicklungsprozesses. Er muss sich noch im Verlauf der Handlung verwirklichen und manifestieren.
Fortan weint und betet das Aschenputtel unter diesem Baum auf dem Grab der Mutter. Sie beginnt also einen bewussten Trauerprozess sowie psychoanalytisch betrachtet: Sie ist in der Regression. Der Baum ist zugleich die symbolische Weltachse, die Himmel und Erde verbindet und psychisch für die innere Mitte des Mädchens stehen könnte. Sie findet im aktiven Trauern also zu sich selbst. Dies ist immens wichtig für die Entdeckung und Absicherung ihrer Weiblichkeit, Attraktivität und ihres Selbstwertgefühls im Laufe des Märchens. Im aktiven Betrauern der Mutter wandelt sich außerdem ihre kindliche Fixierung an die Bindung zur Mutter. Sie beginnt, sich emotional abzulösen, eine Entwicklungsaufgabe des Jugendalters.
Die neue Lebendigkeit, die dem Aschenputtel aus ihrem eigenen Inneren zuströmt, symbolisiert sich im Vögelchen, das sich im Baum niederlässt und die Fähigkeit hat, herabzuwerfen, was das Mädchen sich wünscht. Psychologisch können wir das als die neu gewonnene Fähigkeit verstehen, Impulse aus ihrem Inneren aufzugreifen und in der Welt zu verwirklichen.
Die ersten Wünsche
Neu ist auch, dass die Protagonistin – im Gegensatz zum Anfang der Geschichte – Wünsche entwickelt, die sie ins Leben und unter die Menschen führen. Sie möchte zum Tanz, der als Brautschau dient, gehen. Auch das ist ein Zeichen der zunehmend besser bewältigten Trauer und Ablösung aus der Mutterbindung. Sie geht nun auch außen aktiv Schritte, die sie in ihrer Entwicklung zur Frau und Königin voranbringen.
Drei Tage soll der Ball dauern, und das Aschenputtel, inzwischen altersgemäß eine junge Frau, möchte an diesem Ausdruck des Lebens teilnehmen. Ganz konfliktvermeidend macht sie den Stiefschwestern die Haare und weint dabei, weil sie auch gerne gegangen wäre. Sie wagt sogar, die Stiefmutter zu bitten, sie mitzunehmen. Die Stiefmutter entwertet sie wieder als schmutzig und ohne angemessene Kleidung, eröffnet ihr aber auf sadistische Weise eine Hoffnung, dass sie doch mitgehen könne, wenn sie binnen zwei Stunden die guten von den schlechten Linsen aus der Asche lese.
Wir können davon ausgehen, dass die Stiefmutter genau weiß, dass sie eine unmöglich zu lösende Aufgabe stellt. Diese dient der zusätzlichen Demütigung und Entwertung des Aschenputtels. Zugleich ist sie eine Wiederholung vom Anfang des Märchens in gesteigerter Schwierigkeit: Nicht mehr Erbsen von Linsen, sondern gute von schlechten Linsen soll sie unterscheiden und sortieren.
Probehandeln in der neuen Persönlichkeit
Hier geschieht ein Wunder. Sie wendet sich an die Vögel aus dem Garten und bittet um Hilfe. Die Vögel kommen und folgen dem berühmtesten Satz des Märchens: „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.“ Wir können dies deuten als des Aschenputtels neu gewonnene Fähigkeit, sich nicht mehr entwerten zu lassen und wacker ihre Interessen konsequent zu vertreten.
Die Vögel symbolisieren dabei als Lufttiere, welche den Himmel befliegen können, und damit die rationale Funktion des Geistes. Psychologisch gesehen gelingt es dem Aschenputtel aufgrund seiner bereits geleisteten Differenzierungsarbeit, seinen Selbstwert so zu regulieren, dass es sich nicht entwerten lässt. Sie kann Gutes und Schlechtes nicht nur differenzieren, sondern diese Funktion ist Teil ihrer Psyche geworden, es gelingt ihr daher mühelos mit Unterstützung ihres Unbewussten in Gestalt der Vögel.
Die Stiefmutter weigert sich jedoch, dem Aschenputtel nach erfüllter Herkules-Arbeit ihren Wunsch zu gewähren und steigert abermals die Anforderungen. Doch die innere Kraft des Mädchens bewältigt in Gestalt der hilfreichen Tauben auch diese Aufgabe. An dieser Stelle muss die Stiefmutter Farbe bekennen: „Es hilft dir alles nichts.“ Damit zeigt sie dem Aschenputtel endlich offen ihre Ablehnung.
Das ist auch in psychotherapeutischen Prozessen eine ungeheuerlich schwierige Aufgabe für junge Frauen, die von ihren Müttern (oder Stiefmüttern) abgelehnt werden: anzuerkennen, dass die Ablehnung real ist und das eigene Verhalten dies nicht einseitig ändern kann. Und gleichzeitig seinen eigenen Wert zu erkennen und sich dennoch wertzuschätzen. Aschenputtel gelingt das.
Aschenputtel trifft eigene Entscheidungen
In Anerkennung der Ungerechtigkeit des Diktums der Stiefmutter beschließt das Mädchen, sich darüber hinwegzusetzen. Dies ist ein Signal für die vollzogene Ablösung von der Mutter.
Das Aschenputtel beginnt, eigene Entscheidungen zu treffen. So geht sie zum Baum und bittet: „Bäumchen rüttel dich, Bäumchen schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich.“ Daraufhin wirft der Vogel ihr ein goldenes und silbernes Kleid herab. Aschenputtel geht symbolisch in ihre eigene innere Mitte und versichert sich ihres Selbstwerts sowie ihrer Weiblichkeit und Attraktivität. Solchermaßen innerlich gestärkt kann sie nun selbstbewusst diese Schönheit nach außen tragen – symbolisiert durch das Kleid.
Und sie macht auf dem Ball eine neue Erfahrung: Sie wird als schön auch von außen wahrgenommen. Der Königssohn will nur mit ihr tanzen. Auch dies ist ein wichtiger psychischer Entwicklungsprozess. Wenn in Familien Kinder unter den negativen Zuschreibungen beziehungsweise Projektionen der Eltern und Geschwister stehen, ist die Erfahrung, dass die Außenwelt das ganz anders wahrnehmen kann, immens wichtig, um sich aus den Zuschreibungen lösen und entwickeln zu können.
Aber noch ist Aschenputtel nicht bereit, aus ihrem Probehandeln herauszutreten und die neue Identität als gereifte und beziehungsfähige Frau anzunehmen. Sie entwischt dem Königssohn noch zwei Mal und verbirgt sich. Sie muss sich erst noch an ihr neues Ich gewöhnen.
Tun und Nichttun
Ab dem dritten Tanz kommt es zu einer Akzentverschiebung im Märchen. Der Königssohn wird zum Hauptakteur, der seine Braut finden und erobern muss. Aschenputtel wartet passiv darauf, erwählt zu werden. Sie kämpft auch nicht gegen ihre Stiefschwestern und setzt sich gegen deren Betrugsversuche durch.
Dies entspricht nicht so ganz unseren Vorstellungen einer modernen Heldin. Vermutlich hält sich die Protagonistin hier aber zurück, weil es um etwas anderes geht als um äußeres Handeln. Zunächst treten aber die Stiefschwestern noch mal in den Vordergrund.
Wir können die Stiefschwestern begreifen als alternative Entwicklungsmuster zu dem des Aschenputtels. Die beiden stehen unter der Dominanz der negativen Mutter, welche sie dazu bringt, sich selbst zu verstümmeln, um ihren Ansprüchen zu genügen. Sie lassen sich dazu bringen, das passend machen zu wollen, was wörtlich vorn wie hinten nicht passt.
Entsprechend schädlich ist ihre Entwicklung. Nicht nur sind sie nicht mehr in der Lage zu gehen, also selbstständig zu werden. Sie werden auch noch geblendet. Symbolisch bedeutet das: unbewusst gemacht. Ihnen gelingt die Ablösung nicht, und sie verlieren das Bewusstsein dafür.
Fähig zu einer reifen Beziehung
Erst als beide gescheitert sind, beginnt Aschenputtel, wieder nach außen zu handeln: Sie wäscht sich Gesicht und Hände und zeigt sich in ihrer wahren Gestalt dem Königssohn. Symbolisch legt sie damit ihre alte, kindliche und entwertete Identität ab und nimmt die neue Identität als reife junge Frau an – fähig zu einer reifen erwachsenen Beziehung.
Zusammenfassend lässt sich das Märchen verstehen als ein Prozess der Bewältigung von Trauer und dem Gefühl des eigenen Unwerts. Klinisch gesprochen wird das Aschenputtel von einer krankhaften Trauer und tiefen Selbstwertkrise geheilt und kann die Entwicklung zur reifen jungen Frau erfolgreich bewältigen.
Dabei spielt der Wechsel von Einkehr und Wendung nach außen eine wichtige Rolle. Die Protagonistin versteht, wann sie sich den unbewussten Impulsen überlassen und wann sie handeln muss und beweist dadurch eine gute Intuition, welche ihr bei ihrer Entwicklung entscheidend zur Seite steht.
Johannes Heim ist Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Co-Gründer des Hermes Instituts für private Bildung.
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