Akkordeonbau auf Schweizer Art

Für die Herstellung eines Schwyzerörgeli werden 3.500 Teile benötigt. Es ist eine präzise und filigrane Arbeit.
Der Bau eines Akkordeon auf Schweizer Art
Ein Generationenbetrieb: Samuel Reist, Hansruedi Reist und Richard Reist.Foto: Reist AG
Von 15. August 2022

In der Schweiz gibt es einen Klang, der sich von allen anderen unterscheidet und nur selten die Landesgrenzen überschreitet. Nein, ich spreche nicht vom Ticken von Millionen von Uhren oder dem Bimmeln von Kuhglocken, sondern von den musikalischen Tönen, die das Örgeli erzeugt. Das Schwyzerörgeli, wie es richtig heißt, ist eine Art diatonisches Knopfakkordeon, das in der Schweizer Volksmusik verwendet wird. Örgeli ist die Verkleinerungsform des Wortes Orgel. In einem Land mit nur 8,5 Millionen Einwohnern wissen nur noch wenige, wie man das anspruchsvolle Instrument, das aus etwa 3.500 Einzelteilen besteht, baut.

Um mehr über die seltene Handwerkskunst zu erfahren, bin ich ins abgelegene Emmental gereist. Dort ist der renommierte Örgeli-Hersteller Hansruedi Reist vor 35 Jahren seinem Vater Rudolf ins Handwerk gefolgt. Das unscheinbare Schaufenster an der Hauptstraße von Wasen täuscht über die Schätze hinweg, die sich im darunter liegenden Atelier und Keller verbergen. Hier werden jedes Jahr Tausende von winzigen Teilen, die auf langen Tischen ausgebreitet und aus unzähligen Regalen entnommen werden, mit akribischer Präzision zu rund 150 Örgeli zusammengesetzt.

Das Akkordeon wurde in den 1830er-Jahren, kurz nach seiner Erfindung in Wien, in die Schweiz gebracht. Die frühesten Versionen waren typischerweise ein- oder zweireihige diatonische Tasteninstrumente. Ein typisches Schwyzerörgeli hat heute 18 Bassknöpfe, die in zwei Reihen angeordnet sind (eine für Bassnoten und eine für Dur-Akkorde), und 31 Diskantknöpfe, die in drei Reihen angeordnet sind. Der Unterschied zwischen einem normalen Akkordeon und dem Schwyzerörgeli besteht darin, dass die Richtung der Luft, einwärts oder auswärts, zwei verschiedene Töne erzeugt. Der einzigartige Ton wird „Schwyzerton“ genannt, und dieser Klang hat Rudolf Reist schon früh fasziniert.

„Es hat mich schon immer beeindruckt, wie eine so schöne Musik entsteht“, sagt Reist. „Als ich in der dritten Klasse war, habe ich mein erstes Örgeli zerlegt und musste mir die sechs Franken für das Instrument von unserem Knecht leihen.“ Der Bauernsohn erlernte das Instrument, ohne jemals Unterricht zu nehmen, und als er 1966 in finanzielle Not geriet, begann er in seiner Freizeit mit dem Bau von Örgelis.

Ein Akkordeon zur Reparatur

Ein altes Akkordeon, das zur Reparatur gebracht wurde. Foto: Wibke Carter

Alte Akkordeon

Antike Örgelis. Foto: Reist AG

Worauf es ankommt bei einem Akkordeon

Aber wie sollte sich sein Instrument von allen anderen auf dem Markt befindlichen Instrumenten abheben? Rudolf Reist hatte die geniale Idee, die Diskantklappenarme, die den Luftstrom steuern, aus Metall statt aus Holz zu fertigen. Der Unterschied war beträchtlich, denn die Metallteile garantierten eine gleichmäßige Klangwirkung unter feuchten Bedingungen. Ein guter Freund von ihm, ein Lastwagenfahrer, nahm die ersten Reist-Örgelis mit auf seine Reisen, und schon bald wurden die elegante Handwerkskunst und der schöne Klang des Instruments über das Emmental hinaus bekannt.

Die Nachfrage nach den Ögelis war bald groß, und nachdem er 1974 mit Hilfe seiner Frau und seines ältesten Sohnes Fritz sein eigenes Unternehmen gegründet hatte, gelang es Rudolf, im ersten Jahr 35 Instrumente zu bauen, im darauffolgenden Jahr waren es bereits 70. In den späten 1970er-Jahren war die Warteliste auf sechs Jahre angewachsen. Ursprünglich dauerte der Bau eines Örgelis etwa 250 Stunden, heute sind es nur noch etwa 150 Stunden, da einige Stücke maschinell hergestellt werden können.

„Jedes Instrument ist einzigartig und individuell“, sagt Hansruedi Reist, der 1986 sein eigenes Geschäft gründete, um sich um die „Sondermodelle“ zu kümmern, an denen sein Vater und sein älterer Bruder nicht arbeiten wollten.

„Unsere Kunden müssen immer noch etwa zwei Jahre auf ihr Örgeli warten, aber wenn sie es einmal haben, behalten sie es meist für immer“, sagt er.

Das älteste existierende Örgeli ist mehr als 130 Jahre alt und immer noch spielbar.

Einige Stücke werden nicht nur in der Schweiz verkauft, sondern auch nach Kanada, in die Vereinigten Staaten und nach Südkorea exportiert, wo die Schweizer Volksmusik erstaunlich beliebt ist. „Wir haben einmal einen jungen Mann empfangen, der aus Seoul angereist war, um sein Örgeli abzuholen. Und als er es ausprobierte, spielte er wunderbar. Das ganze Team war verblüfft“, lacht Hansruedi.

Ein so individuell gestaltetes Instrument zu besitzen, hat natürlich auch seinen Preis. Die günstigsten Örgelis beginnen bei etwa 3.600 Euro, die teuersten können bis zu 14.000 Euro kosten. Die Kunden können aus verschiedenen Komponenten wählen, beispielsweise Größe, Farbe, Holz, Knöpfe, Ornamente und Klang.

Die heutigen Örgelis sind viel komplexer, aber auch leichter und hübscher, da sie in den letzten Jahrzehnten bei Frauen immer beliebter geworden sind. Örgelis behalten ihren Wert nicht nur, weil Hansruedi Reist sie zurückkauft, um sie an neue Interessenten weiterzugeben, sondern auch, weil es sich um Qualitätsprodukte handelt, die bei regelmäßiger Pflege lange halten. Manchmal findet der gebürtige Emmentaler Stücke, die sein Vater gebaut hat, oder es gelangen noch ältere Stücke in seine Antiquitätensammlung.

Mitarbeiter Roland Gerber bei der Arbeit. Foto: Wibke Carter

Stimmung der Metalltonplatte. Foto: Wibke Carter

Der Produktionsprozess

Die Geschichte eines Örgeli beginnt schon einige Jahre vor seiner Herstellung, denn der wichtigste Rohstoff ist Holz. Hansruedi Reist streift durch die Wälder auf der Suche nach perfekt gemaserten Bäumen, meist Ahorn oder Fichte. Das gefräste Holz wird 10 Jahre lang gelagert, dann werden kleinere Teile zugeschnitten und in Lagern mit einer Luftfeuchtigkeit von 55 Prozent und einer Temperatur von 64 bis 68 Grad aufbewahrt. Sobald die vorgeschnittenen Holzteile vollständig getrocknet sind, beginnt die sechsmonatige Produktion des Instruments mit der Feinabstimmung in der Schreinerei. Die Teile werden poliert, die Motive werden gelasert und die Löcher für die Ventile und Knöpfe gebohrt.

In dieser Phase des Produktionsprozesses werden viele Teile geklebt und vormontiert. Sobald alle Klangzungen aus Metall mit Platten und Lederstücken für die Belüftungsöffnungen montiert sind, beginnt die Stimmphase in einem speziellen Raum, bis der perfekte Klang erreicht ist. Dieser recht mühsame Prozess wird gleichmäßig zwischen den Mitgliedern des Reist-Teams aufgeteilt. Und schließlich kann das ganze Örgeli zusammengebaut werden, was sich einfacher anhört, als es ist, denn viele Einzelteile sind spezifisch für das jeweilige Instrument und dürfen nicht beliebig ausgetauscht werden.

„Den Beruf des Akkordeonbauers gibt es leider nicht mehr“, sagt Mitarbeiter Roland Gerber, der seit fast 20 Jahren bei Reist arbeitet.

„Es dauert ca. 1,5 Jahre, bis man ein Örgeli selber bauen kann und es wird nie langweilig. Es gibt immer den Ehrgeiz, beim nächsten Mal ein besseres Akkordeon zu bauen“, sagt er.

1989 vollendete Hansruedi die Erfindung seines „Turbo-Örgeli“, gefolgt von den Modellen „One“, „Junior“ und „Light“. Das Modell „Little“ ist das kleinste erhältliche Schwyzerörgeli. Es bietet den vollen Tonumfang eines normalen Instruments und passt trotzdem in einen Rucksack.

Hansruedi Reist hat nicht vor, kürzerzutreten oder keine Verbesserungen mehr an seinen geliebten Örgelis vorzunehmen. Dennoch fiel ihm eine Last von den Schultern, als seine beiden Zwillingssöhne Samuel und Richard vor ein paar Jahren in den Betrieb eintraten, um die Familientradition fortzuführen. Und da Rudolf jeden zweiten Tag in der Werkstatt vorbeischaut, um „ein bisschen Aufsicht, einen lustigen Witz oder etwas Feinschliff zu machen“, wie er sagt, werden drei Generationen der Familie Reist den Klang des Emmentals noch viele Jahre in die Welt hinaustragen.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Making an Accordion, the Swiss Way“ (deutsche Bearbeitung kr)

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 57, vom 13. August 2022.



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