„Anmaßung“: Russland-Experte Alexander Rahr und sein „Schrei eines Verzweifelten“

„Das vorliegende Buch ist der Schrei eines Verzweifelten: Rettet die deutsch-russischen Beziehungen! Gerade darum ist es wichtig, den russischen Blick auf Deutschland ernsthaft zu prüfen.“ Das schreibt der Autor und Russland-Experte Alexander Rahr über sein neues Werk „Anmaßung“.
Titelbild
Längst in der modernen Zeit angekommen: Moskau.Foto: iStock
Von 20. April 2021

In seiner Einführung beschreibt Alexander Rahr die Motivation, seine Verzweiflung, mit der er sein neues Buch mit dem Titel „ANMAßUNG“ verfasst hat. Und genau mit dieser optisch verwirrenden Schreibweise erscheint der Titel auf dem Cover und hebt es von strengen politischen Abhandlungen wohltuend ab.

Der Deutsche erscheint den Russen anderen Kulturen gegenüber nicht als wirklich aufgeschlossen, weil er seine als die bessere betrachtet. Das stört den Russen im Umgang mit dem Deutschen am meisten. Diese wiederholten Aussagen über den Hochmut der Deutschen führten offensichtlich zu dem provokanten Buchtitel von der „Anmaßung“ (der Deutschen).

Alexander Rahr: „Der deutsche Leser soll sich durch dieses Buch nicht angegriffen oder beleidigt fühlen. Ziel des Buches ist die Beschreibung der gegenwärtigen Haltung der Russen gegenüber Deutschen. Zweck des Buches ist, die Gefahren des konfliktgeladenen Entfremdungsprozesses für Deutschland darzustellen.“

Wenn ein junger russischer Gesprächspartner gegen das „russische Regime“ ist, gilt er in den Augen eines jungen Deutschen als gut, denn dies stehe im Einklang mit seinen Vorstellungen über das Russland, über das in den deutschen Medien extrem negativ berichtet wird.

Da gehe es dann auch richtig zur Sache, wenn ein Gymnasiast und Kampfsportler sagt: „Die Deutschen sind furchtbar bürokratisch, sie sind pedantisch und zu diszipliniert.
Deutsche verstehen keinen Spaß, rufen sofort die Polizei, wenn kleinste Regeln gebrochen werden. Die Deutschen sind in der Schule Streber. Für die russische Mentalität sind deutsche Mädchen wie Zicken. Sie verstehen unsere Witze nicht und verstehen unseren Humor nicht. Die russischen Mädchen in der Schule sind charakterlich besser drauf und sehen schöner aus, haben mehr Witz. Die deutschen Jungs vertragen nicht so viel Alkohol wie die Russen. Man kann mit denen nicht so über das Leben philosophieren.“

Dass die deutsche Ordnung lästig und penibel ist, aber dass es im Nachhinein schön ist, in einem sauberen Land zu leben, darüber herrsche Konsens bei hiesigen Russen, so Rahr. Trotzdem halten viele es nicht lange in einer rein deutschen Gesellschaft aus, denn, so sagen sie, hier herrschten andere Sitten, andere Bräuche und ein anderer Humor.

Bei Themen wie Sport, Tourismus und Beruf komme man eher zusammen, solange die Deutschen nicht anfangen, den „Lehrerton“ aufzusetzen und so zu tun, als ob sie dazu ein Recht hätten. Russen ist eine solche Arroganz fremd, obwohl Russland sich mit seinen Erfolgen nicht zu verstecken braucht.

Ja: Man will Russland aus der Barbarei in das fortschrittliche und aufgeklärte Europa überführen. Doch nein: Über eine unterschiedliche russische Weltsicht oder die besondere russische Interessenlage zu erfahren, ist in Deutschland für die Wenigsten von Belang“, schreibt Rahr. Außerdem stellt er fest, dass die Dankbarkeit gegenüber Amerika für die Befreiung vom Faschismus, für den Aufbau von Demokratie und den Marschall-Plan noch so groß ist, dass die Westdeutschen den USA alles durchgehen lassen.

Russlands Europa-​Experten spitzen indes ihre Bleistifte, schreibt Rahr weiter. Täglich berichten sie ihren Vorgesetzten über neue politische Turbulenzen in Europa. Sie stellen fest: Deutschland kann Europa verwalten, aber nicht gestalten. Das sollte zu denken geben.

Heute wartet man in Moskau vergeblich darauf, dass die deutsche Wirtschaft sich ihre ehemalige Führungsrolle bei der Gestaltung der Beziehungen zu Russland zurückholt. Zumindest aber erwartet Moskau, dass die deutsche Wirtschaft nun wie ein Löwe kämpft für all die Chancen, Gewinne und Privilegien, die sie in den letzten Jahrzehnten auf dem russischen Markt erhalten hat, stellt Alexander Rahr fest.

In der Einleitung beschreibt sich Rahr: „Er, in einer russischen Emigrantenfamilie in Westdeutschland aufgewachsen, blickt zurück auf über 300 Reisen nach Russland seit dem Berliner Mauerfall und auf viele Jahre Arbeit im Petersburger Dialog, im Deutsch-Russischen Forum, im Russland-Eurasien-Zentrum der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, bei Radio Freies Europa und als Berater des größten russischen Unternehmens, Gazprom. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und des Freundschaftsordens Russlands.“

Der Autor greift geschickt in den Fundus seiner Erfahrungen, seiner Kontakte und seiner Bereitschaft zuzuhören. Er knüpft verschiedene Erlebnisebenen im politischen Kontext hintereinander an Personen und lässt sie zu Worte kommen.

Eingebettet ist das in seine historischen Darstellungen der Beziehungen zwischen Russen und Deutschen auf gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Feldern. Und eben auch die dazugehörigen Befindlichkeiten. Das ist nun erfrischend echt russisch, nicht sentimental, aber geistig und seelisch tragend. Ihn treibt die Sorge, „wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“.

Alexander Rahr schreibt:

Erinnerungen an die Ukraine-Krise 2014 kommen hoch. Damals gerieten deutsche Konzerne, die besonders eng mit Russland verknüpft waren, unter niemals geahnten politischen Druck. Manager wurden von der Bundesregierung und Vertretern der US-​Regierung aufgefordert, ihre Teilnahme an russischen Wirtschaftsforen abzusagen. Merkel sprach von der Priorität der Politik über der Wirtschaft. Die Medien taten das ihrige, um den CEOs deutscher Konzerne Angst vor Imageverlust einzujagen. In den Chefetagen deutscher DAX-​Konzerne wurde kapituliert – dem öffentlichen Druck waren sie nicht gewachsen.

In Moskau konnte man den Rückzug der deutschen Wirtschaft kaum nachvollziehen. Von Deutschland, der unangefochtenen Führungsmacht Europas, hatte man sich mehr Eigenständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Russland-​kritischen Staaten Osteuropas versprochen.

Dass dieser besorgte Aufschrei niemals langweilig wird, dafür garantieren die verschiedenen Blickwinkel der befragten Personen, hier die Kapitelüberschriften: Anna, die Coachin; Alevtina, die Konfliktforscherin; Volodja, der wehrhafte Diplomat; Jewgenija, die Meinungsforscherin; Mischa, der standhafte Patriot; Alexei, der Deutschlandversteher; Peter, der interkulturelle Kämpfer.

Das Buch spiegelt aber nicht nur heutige Meinungen wider, sondern greift auch in die historische Entwicklung, sei es in der Wirtschaft oder in der Kultur, zurück. Erstaunlich das Zitat von Dostojewski (1821-1881) über die Deutschen, dem Autor von Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen und Die Brüder Karamasow, entstanden in den 1860er und 1870er Jahren.

„Egal, wie groß der Unterschied zwischen einem gebildeten Deutschen und einem einfachen Deutschen bei Wissen, sozialem Rang und Ausbildung während ihres gemeinsamen Besuches in Russland ist – in Russland angekommen, gleichen sich die Empfindungen aller dieser Deutschen sofort an. Sie vereint ein krankhaftes Gefühl des Misstrauens, eine Furcht einzugestehen, dass sie etwas sehen, was sich radikal von ihren Vorstellungen unterscheidet. Die deutschen Besucher sind vollkommen unfähig dahinterzukommen, dass ein Russe nicht zu einem typischen Deutschen werden kann. Man darf deshalb nicht alles in Russland mit der eigenen Messlatte betrachten. Und abschließend: offenkundig oder verdeckt, aber in jedem Fall besitzt der Deutsche eine überdimensionale Arroganz gegenüber den Russen – das ist die Charakteristik fast jedes deutschen Menschen in seiner Sicht auf Russland.“

Überraschend, wie dieses Urteil nach 150 Jahren immer noch zeitgemäß wirkt, wenn man die Stimmen der Befragten in dem vorliegenden Buch damit vergleicht. Man kann das Buch samt seiner deutlichen Beurteilungen der Gegenwart in den Bereich der nahezu feuilletonistischen Betrachtung politischer Realitäten platzieren.

Alle Wiedererkennungslampen leuchteten beim Namen Gabriele Krone-Schmalz auf, die das Vorwort zu dem Buch verfasste. Darin schreibt die bekannte Journalistin, wie seit 1989 nach den großen Erwartungen und dem gegenseitigen Vertrauen der politisch Handelnden zueinander, eine zunehmende Entfremdung einsetzte.

Das gipfelte in Deutschland in dem diffamierend gemeinten Ausdruck „Russland Versteher“, oder „Putin Versteher“, dem auch sie zeitweise zum Opfer fiel. – Bis heute setzt sich ja diese schlagwortartig angewandte Diffamierung fort, eine Methode, die jede lebendige Debatte abwürgt und abwürgen soll.

Krone-Schmalz gehört zu denen, die wie Rahr immer die Debatte aufrecht gehalten hat und mit Sorgfalt ihre Themen behandelt:

Es sind aber nicht nur die knallharten messbaren politischen Kategorien, um die es geht. Auch Befindlichkeiten spielen eine wichtige Rolle. Sie werden vielfach unterschätzt. Ein Fehler. Sonst wäre vielleicht schon eher zur Kenntnis genommen worden, wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt.“

Leseempfehlung: 5 Sterne für Darstellungsweise, Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit. 5 Sondersterne: Das Buch weckt keine Verzweiflung, sondern öffnet Erkenntnis- und Betätigungsfelder.

Alexander Rahr:  ANMAßUNG

Herausgeber: Das Neue Berlin; 1. Edition (22. März 2021)
Sprache: Deutsch
Taschenbuch: 176 Seiten
ISBN-10: 336001376X
€ 16,00
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