Das Geschenk – Fortsetzung von M. von Pentz

Dann geschah eine Art Katharsis, und Tränen begannen langsam in Millers Augen aufzuwellen, rollten über das zerfurchte Gesicht und fielen auf die gefalteten Hände, und von da auf die alten ausgetretenen Stiefel, mehr und mehr ...
Titelbild
Für Miller war es vielleicht das schönste Jahr seines Lebens. Sein Körper reagierte mit der Zeit auf die viele Bewegung und wurde wieder flink, hart und geschmeidig.Foto: iStock

Fortsetzung von „Das Geschenk“:

Die Affäre mit den Eiern passierte kurze Zeit danach. Chez Nuées Küche lag im unteren Stockwerk des kleinen Gehöfts, und die Aussentür führte in den Innenhof. Als Miller sie eines Morgens öffnete und nach draussen ging, vernahm er ein leichtes aber sehr deutliches Knacken, und als er zu Boden sah, stellte er fest, dass er auf ein Ei getreten war.

‚Verdammt’, sagte er und schüttelte ärgerlich das Gelb von seinem Fuss.
Dann kam ihm plötzlich die Idee, dass er am Abend zuvor vergessen haben musste, die Küchentür abzuschliessen und so den Hunden Gelegenheit gegeben hatte, in aller Ruhe den Küchenschrank auszuräumen und die Eier zu stehlen. Zwei von ihnen hatten den Trick erlernt, die unteren Türen zu öffnen, und Miller fürchtete nicht nur um die Eier, sondern auch um den gekochten Schinken, den Schafskäse, den geräucherten Bückling und andere Köstlichkeiten. Sein Rudel bestand aus reinrassigen Cockern, genaugenommen Jagdhunden, und es war manchmal unwahrscheinlich, welche Mengen sie herunterwürgen konnten, einschliesslich stinkenden Abfalls, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.
Seine Miene verfinsterte sich, doch als er den Schrank untersuchte, war der fest verschlossen und nichts fehlte.
Er vergass den Vorfall schnell, aber drei Tage später, als er aus der Scheune kam, die als Garage diente, und so von der anderen Seite in den Innenhof führte, wurde die Sache plötzlich dringend. Denn da, vor der Küchentür, weiss und völlig intakt, lag wieder ein Ei.
Er starrte die Hunde an, und die waren völlig gelassen, sahen das Ei an, dann ihn, dann wieder das Ei.
‚Blödsinn’, sagte er und schüttelte den Kopf.
Er nahm das Ei, kochte es und ass es zum Frühstück.
Am nächsten Tag lag wieder ein Ei vor der Tür, und am Tag darauf noch eins.
‚Das’, sagte er stirnrunzelnd, ‚bedarf einer Erklärung!’

Er stattete den Renards einen Besuch ab.
Die Brüder, in hohen Gummistiefeln, misteten einen Stall aus, und Madame selbst sah fröhlich aus dem kleinen Küchenfenster, einen Becher Kaffee in den Händen.
Er sagte etwas gespreizt: ‚Guten Morgen! Und vielen Dank für die Eier!’
Mme Renard hob die Augenbrauen, wie es nur Französinnen fertig bringen, und sagte: ‚Eier, mein Lieber? Sie können ein paar haben, wenn Sie wollen.’
Er bedankte sich für das Angebot und sah hinüber zu Paul und Pierre. Die hatten jetzt aufgehört zu arbeiten, lehnten auf den Forken, wachsam.

‚Kommt ihr nachher auf ein Glas zu mir?’ fragte er mit unverfänglichem Lächeln, etwa wie Philip Marlowe, der eine von seinen makellosen Fallen auslegt.
‚Ja’, sagten sie. ‚Gern!’

Als sie nachmittags kamen, goss er ihnen ein Glas ein und sagte: ‚Also, ich habe absolut nichts gegen eure, sagen wir, Veranlagung. Einer meiner besten Freunde ist so schwul wie ein Buschwindröschen, wenn auch nicht ganz so zart. Aber ich selbst liebe ein kräftiges Weibsbild ganz ohne Ausnahme, und es beunruhigt mich irgendwie, dass ihr mir nachts Eier vor die Tür legt!’
Er erkannte sofort, wie unsinnig die Unterstellung war. Pierre wurde knallrot und Paul, der beherztere von beiden, schob das Glas zur Seite und stand auf. Er starrte Miller an und schien ausserordentlich verärgert.
Der stand auch auf und sagte beschwörend: ‚Bitte, es tut mir leid! Aber ich habe ein ernstes Problem! Jemand legt mir jede Nacht ein Ei vor die Tür, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer es ist!’
Da wurden sie wieder ruhiger.
‚Ein Ei?! Jede Nacht?!’
‚Ja, ein gottverfluchtes Ei! Letzte Nacht habe ich bis um vier Uhr morgens Wache geschoben und bin dann eingeschlafen. Ich habe niemanden gesehen, aber heute früh lag wieder ein Ei vor der Küchentür! Ich weiss nicht, ob es ein Geschenk ist oder eine Drohung. Eine Einladung oder ein Scherz…’ Seine Ausführungen klangen mit jedem Wort unsinniger. ‚Ich habe absolut nichts gegen Eier’, fügte er schliesslich lahm hinzu. ‚Aber ich würde nur gern wissen, woher sie kommen…’
Die Brüder waren mitfühlend, und Pierre sagte: ‚Wir sind es ganz bestimmt nicht!’

‚Könnte es irgendeine launische, eigensinnige, verwirrte Henne sein, dir mir das antut?’
Nein, sagten sie, ganz sicher nicht. Sie würden sofort wissen, wenn eines ihrer Tiere fehlen würde, und Brisson auch. Der wäre schon längst durch das Dorf geschlichen und hätte jedermann verdächtigt. Und dann die Hunde, oder der gelegentliche Fuchs. Unmöglich!
‚Vielleicht ist es Giselle’, sagte Pierre. ‚Sie ist die einzige, die in Frage kommt. Kein Fremder kann hier nachts herumlaufen, ohne dass die Hunde verrückt werden.’
‚Obwohl’, sagte Paul, ‚Giselle passt da irgendwie nicht. Wenn sie wirklich hinter dir her wäre, würde sie im Wald auf dich warten und einfach den Pullover hochziehen.’
‚Stimmt’, sagte Pierre. ‚Genau so würde sie es machen, die kleine Hexe!’
‚Sie ist nicht delikat’, sagte Paul erklärend.
Miller starrte beide an.
‚Wer ist Giselle’, fragte er fassungslos, sich dabei ein modernes Aschenputtel vorstellend, das nächtens die Gegend heimsuchte und dem er bislang noch nicht begegnet war.
‚Brissons Tochter’, sagten sie.
‚Oh, ich verstehe. Ich habe noch nie ihren Namen gehört. Aber ich pflichte euch bei. Was ist mit der alten Lapin?’
‚Die lebt eine ganze Woche von einem Ei’, sagte Pierre schmunzelnd. ‚Sie würde lieber ihre Seele hergeben.’
‚Du musst nachts Wache schieben’, sagte Paul. ‚Wir können dich ablösen, wenn es dir zuviel wird.’
‚Vielen Dank’, sagte Miller. ‚Aber ihr habt selbst soviel Arbeit. Ich versuche es vorläufig allein.’

Der alte Mond war voll gewesen vor einigen Tagen, und als er jetzt hoch und blass im Himmel hing, warf er immer noch genug kaltes Licht auf das Land, um jeden Strauch, Baum und Zaun klar zu konturieren. Miller sah Bouboul, das mächtige Zugpferd der Renards, auf seiner baumbestandenen Koppel ganz in der Nähe. Der Atem kam weiss aus seinen Nüstern, als er auf einem Zweig kaute, und sein schwarzes Fell schimmerte sacht.
‚Ob er denn niemals schläft’, dachte Miller, der in diesem Moment nichts lieber getan hätte. Er und Bouboul waren bald nach seiner Ankunft in Pierrefeu Freunde geworden. Das Pferd war ein Einzelgänger wie er selbst, und Miller besuchte ihn oft, brachte ihm ein Stück Zucker oder streichelte nur den enormen Kopf und spähte dabei in die sanften grossen Augen, die auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet waren.
Jetzt hörte Boubul auf zu kauen und stand unbeweglich im fahlen Licht mit erhobenen Ohren, wachsam, erwartungsvoll.
‘Was siehst du, Bouboul? Frankreich, wie es gewesen sein muss vor langer, langer Zeit? Als du und dein Volk noch frei waren? Als niemand es wagte, sich euren donnernden Hufen in den Weg zu stellen? Als ihr über die weiten Ebenen geflogen seid wie die Kinder von Sturm und Wind? Fragst du dich manchmal, warum die Götter den Menschen erfunden haben, dieses gierige durchtriebene kleine Biest?’
Er gähnte und sagte laut: ‚Ich würde es tun, wenn ich du wäre.’
Und nach einer Weile fügte er leise hinzu: ‚Ich tue es ja manchmal selbst…’

Als das erste Licht den Osten erhellte, verliess er die Fensternische im Schlafzimmer und ging nach draussen, um zu pinkeln. Da lag kein Ei vor der Küchentür und er war sich sicher, dass der oder die Täter, wer immer sie waren, früh den Hüter des Innenhofs entdeckt haben mussten.
Er streckte sich ausgiebig und dachte daran, noch einige Stunden zu schlafen. Aber dann entschied er sich dagegen, denn die Tierwelt der Renards war bereits lärmend erwacht und Madame selbst bewegte sich hinter einem erleuchteten Fenster und bereitete das Frühstück vor.
Als er da stand, unentschlossen und schläfrig, missmutig seine nächsten Schritte erwägend, sah er plötzlich eine kaum erkennbare Bewegung auf der Steinmauer, die an Brissons Weinberg grenzte. Die war vielleicht einen Meter hoch, mit teilweise losen Steinen, noch nicht repariert.
Eine dunkle Gestalt kroch langsam darüber hin, schlangengleich und doch plump, nicht wirklich erschaffen, um derart Mauern zu überwinden. Dann schlich sie behutsam durch das Erdbeerfeld, kam in den Innenhof und legte das Ei, das sie mit unendlicher Vorsicht zwischen den Zähnen gehalten hatte, auf den Boden vor die Küchentür.
‚Bilbo!’ rief Miller völlig entgeistert. ‚Ich kann das nicht glauben!’ Und beinahe hätte er noch hinzugefügt: ‚Du dämlicher Köter! Warum hast du mir nichts gesagt?!’
Der Hund Bilbo sah zu ihm auf, grinste auf seine etwas abstrakte Art und wedelte zögernd mit dem Schwanz. Er war genaugenommen einer der wenigen Hunde aus Millers grossem Bekanntenkreis, der wirklich grinste.
Miller sagte: ‚Also, das ist ein tolles Geschenk, Bilbo. Komm, lass es uns aufessen.’

Pierre Renard kam am selben Nachmittag vorbei und sagte: ‚Also, Brisson behauptet, dass ein Fuchs jede Nacht in seinen Hühnerstall einbricht und die Eier auffrisst. Er will sich auf die Lauer legen und ihn erschiessen.’ Er runzelte die Stirn. ‚Meinst du, es könnte etwas mit deiner Geschichte zu tun haben?’
Er war viel zu höflich, um seinen Verdacht direkt in Worte zu fassen. ‚Es hat’, sagte Miller. ‚Es ist dieser Schweinehund hier, der jede Nacht in Brissons Hof einbricht, wie genau weiss ich nicht. Er bringt eins mit nach Hause, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen!’ Er sah liebevoll auf den Hund Bilbo, der unter dem Tisch lag und auf seine abstrakte Art grinste. ‚Aber ich werde Brisson sagen, dass er meinen Hund nicht erschiessen soll. Ich kaufe ihm einen neuen Zaun für seinen Hühnerhof!’

Für Miller war es vielleicht das schönste Jahr seines Lebens. Sein Körper reagierte mit der Zeit auf die viele Bewegung und wurde wieder flink, hart und geschmeidig. Sein Geist klarte erstaunlich schnell auf, und oft röhrte er, zur anfänglichen Beunruhigung von Mensch und Tier, seine italienischen Lieblingsarien über das stille Tal. Dann dachte er daran, seinen Freunden eine Postkarte zu schicken, vergass es aber immer wieder.
Und so blieb er allein und arbeitete, und wanderte, und beobachtete den Wechsel der Jahreszeiten mit einem gänzlich neuen Bewusstsein, das auf seiner Einsamkeit erblüht war.
‚Ich muss aufpassen’, bemerkte er eines Tages, ‚oder ich werde noch ein gottverfluchter Heiliger!’
Ungefähr ein Jahr nach seiner Ankunft in Pierrefeu stand eine Gruppe von Männern neben der Mauer, über die Bilbo mit soviel Vorsicht geklettert war. Sie trugen mattgelbe Helme, sahen durch ein teures Instrument auf einem Dreifuss und schrieben Zahlen auf einen Block Papier.
Miller ging zu ihnen und sagte: ‚Was habt ihr auf meinem Land verloren?’
‚Vermessen’, sagten sie.

‚Das sehe ich.’ Seine Stimme war frostig und bedrohlich. ‚Wofür?’
‚Für das Viadukt.’
‚Was für ein Viadukt’, fragte er, und ein eisiger kleiner Finger lief langsam sein Rückgrat hinunter.
‚Wissen Sie das nicht?!’ Sie starrten ihn an, verwundert und unsicher. ‘Der Hochgeschwindigkeitszug von Paris nach Lyon. Er wird genau hier entlang kommen!’ Sie wiesen mit den Händen über sich in den Himmel, um zu zeigen, wo er entlang kam.
Als sie sich wieder Miller zuwandten, war dessen rauhes Gesicht verzerrt von einer kalten Wut. Da packten sie ihren Dreifuss ein und gingen schnell davon.
Miller stieg in seinen Wagen und fuhr nach Macon zum Büro des Maklers. Er trat die Tür mit dem Fuss auf, ergriff den Mann bei seinem seidenen Schlips und zog ihn hart über den Tisch.
Leise sprach er in das schreckerstarrte Gesicht: ‚Du hast genau vierundzwanzig Stunden Zeit, um mir meinen Kaufpreis zurückzuerstatten und das Geld für die Renovierung.’
Miller ist fast zwei Meter gross und wiegt in guten Zeiten über hundert Kilo. Aber es war vielleicht der irre Funke in seinen gelben Augen, der den Makler dazu brachte, das Geld noch am selben Tag zu besorgen.

Miller verliess Pierrefeu einige Wochen danach und ist seitdem nie wieder zurückgekehrt.

*

‚Es ist wie die Erinnerung an einen ungewöhnlich klaren und lebhaften Traum’, sagte er viele Jahre später. ‚Wie eine Nachtwanderung, wie der Blick über eine Türschwelle in ein leuchtendes, unbekanntes Land. Die Hunde sind längst nicht mehr da. Aber ich denke oft an sie. Und wenn ich irgendwann meinen letzten Atemzug getan habe, werde ich sie wiedersehen. Dann gehe ich ihnen entgegen in den Wäldern von Pierrefeu, entlang dunkler frischgepflügter Felder, die gelben Blätter wirbelnd in der kalten reinen Luft, der Atem weiß vor unseren Gesichtern. Und sie kommen näher und näher, bellend und schubsend und tanzend, und wenn wir uns begegnen, treten wir durch einen Spiegel in einen Tunnel aus Licht…’

Jedermann weiss, dass Miller nicht ganz normal ist, und mehr noch nach einer guten Flasche Wein. Aber manchmal macht es Spass, seinen Erzählungen zu lauschen, an einem stillen Tag, wenn die Arbeit getan ist und die Dämmerung fällt, und man auch sonst nichts Besseres zu tun hat.

Manfred von Pentz
MILLERS MÄRCHEN
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