Leseempfehlung: Der 8. Mai 1945 erlebt und beschrieben

Der 8. Mai 1945 – gibt es da etwas, das wir noch nicht wissen, oder zumindest nachlesen könnten? Haben wir nicht ganz andere Sorgen? Oder gibt es etwas, das die Herausgeber, der Historiker und Publizist Alexander Rahr, Jahrgang 1959, und der Autor und TV-Moderator Wladimir Sergijenko, Jahrgang 1971, als Neues präsentieren wollen mit „Der 8. Mai – Geschichte eines Tages“?
Titelbild
Ein Bild vom Mai 1945 zeigt den sowjetischen Soldaten Gefreiter Michail Makarow mit Blick auf das zerstörte Reichstagsgebäude in Berlin.Foto: MOROZOV/AFP/Getty Images
Von 8. Mai 2020

Was hier in behutsamer Form zu einer Gesamterzählung verwoben wurde, sind die Erlebnisberichte von 19 Zeitzeugen. Sie haben Tagebuch geführt oder aus der Erinnerung beschrieben, was sie rund um den 8. Mai 1945 erlebten und wie sie es erlebt haben.

Dies war der Tag, an dessen Abend in Berlin-Karlshorst die deutsche Wehrmacht, vertreten durch Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel für das OKW und das Heer, Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff für die Luftwaffe, die Kapitulationsurkunde unterzeichneten. Atmosphärisch klar geschildert von Konstantin Simonov.

In Moskau war schon der 9. Mai angebrochen, weshalb dieser dort als Enddatum des Zweiten Weltkriegs gefeiert wird. Es gibt in dem Buch auch Aussagen zu dem, was Stalin, Churchill und Truman machten oder sagten, und wie sich Keitel, Schukow und Eisenhower verhalten haben.

Alle 19 Berichte, die rund um diese Zeit entstanden sind, haben eine fast schlichte Diktion, wie sie damals üblich war, und wie sie gerade auch in Deutschland genutzt wurde, um den dahinter durchaus existierenden Gefühlen nicht zu erliegen. Dieses Phänomen kann jeder beobachten, der sich schon länger mit der „Deutschen Angst“ und dem Phänomen der ungeklärten Schuldgefühle von Kriegskindern und Kriegsenkeln befasst hat. So wird von vielen Details berichtet, die ein Bild der alltäglichen Harmlosigkeit abgeben ebenso wie der täglich zu verkraftenden Schreckensszenarien.

So erfährt man, wie zum Beispiel in Breslau bis zum Januar 1945 ein fast „normales“ Leben möglich war, die Stadt zwar von 630 000 Einwohnern auf etwa eine Million angewachsen war durch die vor der näher rückenden Ostfront einströmenden Flüchtlinge, aber niemand konnte sich vorstellen, dass Breslau in den folgenden Monaten fast völlig zerstört sein könnte. Das beschreibt die damals elfjährige Dorothea Rieboldt. Auch sie erzählt lebendig, aber sehr sachlich.

Einwohner und Flüchtlinge wurden aus der zur Festung erklärten Stadt vertrieben, aber alle männlichen Personen zwischen 10 und 65 Jahren sowie Frauen, die für die Rüstung und Versorgung zwangsverpflichtet waren, mussten bleiben und die Stadt „bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen“ (Befehl von Hitler). Wer diese Schrecken erlebt hat, für den war zunächst das Überleben erstaunlich und auch die größte Freude. Die kummervolle Nachkriegszeit ist nicht im Fokus dieser Sammlung.

Und es ist durchaus zu begrüßen, dass hier nicht Gefühle angeheizt werden, die zu emotionalen Urteilen führen. Es werden jedoch durchaus die kühlen Kalküle der Mächtigen beleuchtet, die Kämpfe hinter den Kulissen, die Täuschungsmanöver, die Befürchtungen, die Machtinteressen, die weit vorausdenkenden Planungen für künftige Machtansprüche – auf allen Seiten.

Hier spürt man den geschulten Blick der Herausgeber auf Zusammenhänge und ihr Anliegen, der Verständigung, dem Dialog, dem Ausgleich der Interessen zu dienen, ohne dass immer wieder Bomben fallen müssen. Es geht um die Interessen der Länder und Völker und den Prozess des Aufwachens bei dem, was mit uns, unseren Familien jetzt und in der Zukunft geschieht und geschehen kann, wenn Bequemlichkeit, Leichtgläubigkeit und Blindheit ganze Völker verführbar machen.

In dem ebenso lesenswerten Nachwort von Alexander Rahr wird dieses Anliegen deutlich mit einer Betrachtung der europäischen Geschichte, der Einflüsse von Ideologien, der Schuldzuweisungen, der Erfolge von Propaganda und Gegenpropaganda. Man nennt es heute Narrative, von lateinisch narrare, erzählen, steht für: Erzählung. Auch er hat mit diesen Erzählungen einen Teil der Realität am Ende des Zweiten Weltkriegs abgebildet.

Rahr kommt in seinem Nachwort ohne erhobenen Zeigefinger aus, er schöpft einfach aus seiner jahrelangen Beobachtung und Kontakten in politischen Kreisen. Erfahrungen sammelte er nicht nur in Deutschland, wo er lebt und aufgewachsen ist, sondern auch in Russland, woher die Familie seines emigrierten Vaters stammt. Geboren wurde er in Taipeh, Taiwan.

Ein Weltbürger also, der unter anderem am Schluss des Buches schreibt: „Am 8. Mai 1945 existierte kein politisches Europa; Europa wurde fremdbestimmt – durch zwei äußere Mächte: die USA und die UdSSR. Die Zeit des Kommunismus in Osteuropa bedarf einer Aufarbeitung, die noch aussteht. Sie muss gemeinsam von Russland, den ehemaligen Sowjetrepubliken und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten begonnen werden, ohne dass der Westen sich gleich die Rolle des Richters anmaßt. […] Jede Seite beansprucht ihre eigene Wahrheit und pflegt seit 75 Jahren ihre entsprechende Erinnerungskultur. Die Geschichtsbücher sind unterschiedlich verfasst. Vielleicht hilft diese Reflexion über den 8. Mai 1945, die Konfrontation zu glätten.“

Ein wertvoller und lesenswerter Beitrag dazu ist dieses Buch auf jeden Fall.

Alexander Rahr
Der 8. Mai Geschichte eines Tages
Verlag: Das Neue Berlin
Gebunden 224 Seiten
ISBN-10: 3360013581
€ 22, 00 Kindle: 16,99



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