Die Worte des Engels – Gedicht von Rainer Maria Rilke

Die Worte des Engels an Maria vor der Geburt in "Verkündigung" von Rainer Maria Rilke
Titelbild
"...Und dennoch bist du so allein wie nie und schaust mich kaum; das macht: ich bin ein Hauch im Hain, du aber bist der Baum..."Foto: TIZIANA FABI/AFP/Getty Images
Epoch Times24. Dezember 2017

Die Worte des Engels

Du bist nicht näher an Gott als wir;

wir sind ihm alle weit.

Aber wunderbar sind dir

die Hände benedeit.

So reifen sie bei keiner Frau,

so schimmernd aus dem Saum:

ich bin der Tag, ich bin der Tau,

du aber bist der Baum.

Ich bin jetzt matt, mein Weg war weit,

vergieb mir, ich vergaß,

was Er, der groß in Goldgeschmeid

wie in der Sonne saß,

dir künden ließ, du Sinnende,

(verwirrt hat mich der Raum).

Sieh: ich bin das Beginnende,

du aber bist der Baum.

Ich spannte meine Schwingen aus

und wurde seltsam weit;

jetzt überfließt dein kleines Haus

von meinem großen Kleid.

Und dennoch bist du so allein

wie nie und schaust mich kaum;

das macht: ich bin ein Hauch im Hain,

du aber bist der Baum.

Die Engel alle bangen so,

lassen einander los:

noch nie war das Verlangen so, so

ungewiss und groß.

Vielleicht, dass Etwas bald geschieht,

das du im Traum begreifst.

Gegrüßt sei, meine Seele sieht:

du bist bereit und reifst.

Du bist ein großes, hohes Tor,

und aufgehn wirst du bald.

Du, meines Liedes liebstes Ohr,

jetzt fühle ich: mein Wort verlor

sich in dir wie im Wald.

So kam ich und vollendete

dir tausendeinen Traum.

Gott sah mich an; er blendete…

Du aber bist der Baum.

 (Rainer Maria Rilke, 1875 – 1926)


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