Ein Traum – Von Joachim Ringelnatz

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhabe
Titelbild
Ein glänzendes Schloß erhob sich kühn und ich sah aus dem Fenster epheugrün ein Märchenkind lauschend sich biegen.Foto: iStock
Epoch Times26. Oktober 2018

Ein Traum

Es war nur ein Traum, doch es war eine Pracht!

Ich glaubte in mondscheinsilberner Nacht

Auf schwellendem Rasen zu liegen.

Ein glänzendes Schloß erhob sich kühn

Und ich sah aus dem Fenster epheugrün

Ein Märchenkind lauschend sich biegen.

Ein Mädchengesicht, so lieb, so traut,

Wie ich es nimmer zuvor geschaut.

Gleich flüssigem Golde erglänzte ihr Haar

Und ich las in dem dunklen Augenpaar

Ein wehmütig banges Erwarten.

Ein leiser Wind erquickte die Luft

Und trug einen süßen, berauschenden Duft

Vom Holunderbusch durch den Garten.

Dort saß an des Springbrunns Sprudelquell

Geigend ein müder Wandergesell.

Und als dann – und das war so schön in dem Traum –

Eine Nachtigall hoch im Lindenbaum

Mit einstimmte in seine Lieder

Und schluchzend sang, wie von Schmerz und Lust,

Da war es, als fiele auf meine Brust

Das Glück wie ein Morgentau nieder. – –

Die alten Linden seufzten im Wind.

Im Schlosse weinte das Märchenkind.

Da flog aus dem Schatten gespenstig vom Dach

Eine Fledermaus auf. Da wurde ich wach

Und alles war plötzlich verschwunden.

Ödes Erwachen. Wie leerer Schaum

Zerronnen war alles, was ich im Traum

So selig geschaut und empfunden. – –

Doch wie ein Trost kams über mich dann:

O glücklich, wer noch so träumen kann!

Joachim Ringelnatz  (1883 – 1934)



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