Warum „Man kann alles haben“ eine dicke Lüge ist

Alles haben zu können sei nichts anderes als eine Illusion, meint die Psychologin Nancy Colier. Denn wenn wir ignorieren, dass jede Entscheidung mit Verlusten einhergeht, verursachen wir für uns selbst mehr Leid als nötig.
Titelbild
Heutzutage kann man scheinbar alles machen, alles werden und alles haben – ohne Einschränkungen und Kompromisse. Die Wahrheit ist aber: Jede Entscheidung geht mit Verlusten einher.Foto: Melpomenem/iStock
Von 25. Juli 2021

Ich will alles haben. Und ich will es jetzt.“ Das war ein Werbespruch im Fernsehen, den ich an diesem Wochenende hörte. Dabei dachte ich über den Druck nach, alles haben zu müssen, dem wir, sowohl Frauen als auch Männer, ausgesetzt sind.

Fälle aus dem Alltag

Bei der Arbeit mit Jane, einer Mutter und Ärztin, fiel mir auf, wie sehr sie sich quälte, weil sie nicht so viel Zeit wie sie wollte mit ihrem kleinen Kind verbringen konnte.

Dabei war nicht die Tatsache auffallend, dass die Abwesenheit von ihrem Kind für sie schmerzhaft war, sondern vielmehr das Gefühl, dass sie in der Lage sein sollte, die große Karriere zu machen, die sie sich als Ärztin wünschte, und gleichzeitig eine liebevolle und präsente Mutter für ihr Kind zu sein. Aus ihrer Sicht machte sie etwas falsch, weil sie nicht beides haben konnte.

Eine andere Kundin, Ramona, sagte mir, sie wünsche sich eine liebevollere Beziehung zu ihrem Mann, um mehr Verbundenheit zu fühlen. Sie erzählte von ihren nicht ganz gelungenen Rendezvous zum Abendessen. Ihr Mann sei verärgert gewesen, weil sie ihr Telefon während des Essens anließ, falls die Kinder (gesunde Teenager) anrufen sollten.

Offensichtlich störten die technischen Unterbrechungen ihre Beziehung, wie es schon oftmals der Fall gewesen war. Sie kam zu mir, weil sie wollte, dass ich eine Strategie oder ein digitales Programm entwerfe. Dieses sollte es ihr ermöglichen, ständig für ihre Familie erreichbar zu sein und gleichzeitig mit ihrem Mann eine innige Beziehung zu pflegen.

Ein anderer Fall: Peter erzählte mir von seiner neunjährigen Liebesbeziehung. Er meinte, die bedingungslose Liebe und die Stabilität ihrer Bindung würden ihn zutiefst nähren und wie sehr er das Leben mit seiner Partnerin liebe.

Gleichzeitig konnte er es nicht ertragen, dass er, wenn er auf Partys ging oder sich in der Gesellschaft neuer Frauen befand, sich nicht wie ein Single verhalten konnte.

Er stand innerlich mit der Vorstellung auf Kriegsfuß, eine monogame und feste Beziehung würde bedeuten, dass sich sein Leben in gewisser Weise eingeschränkt anfühlte. Doch hinter seiner Verzweiflung lag der wahre Grund für sein Leiden in seinem Glauben, er sollte auf nichts, was er haben wollte, verzichten.

Und dann ist da noch Martin, ein Uni-Student, der zwanghaft wütend ist über das tiefe Selbstwertgefühl, das seine Freunde durch ihre Erfolge im Sport oder bei anderen Interessen und im Studium erworben haben.

Martin gab zu, er liebe soziale Kontakte und Partys – und er habe sich dafür entschieden, seine Zeit genau so zu verbringen, anstatt Spitzenleistungen zu erbringen.

Auch dieser junge Mann war verwirrt und frustriert, weil ich keinen Plan entwerfen konnte, der ihm das soziale Leben gab, das er sich wünschte – und auch das Selbstwertgefühl, das mit konzentrierter, harter Arbeit, Zeit und Anstrengung einhergeht.

„Auf nichts verzichten zu müssen“ – die große Illusion unserer Zeit

Wir sind darauf konditioniert zu glauben, wir sollten alles haben können – alles, was wir wollen. Alles haben zu können, bedeutet in dieser Gesellschaft auch, auf nichts verzichten zu müssen.

Die Technik fördert diesen Glauben. Mit einem Knopfdruck können wir tatsächlich viele Dinge, die wir wollen, ohne viel Aufwand bekommen.

Medien und Werbung fördern ebenfalls unseren Glauben, dass alles möglich sei. Wenn wir nicht alles haben, was wir wollen, müssten wir uns mehr anstrengen.

Vielleicht ist es für manche hilfreich, dass wir glauben, wir könnten alles haben, denn damit jagen wir dem Traum von endlosem Erwerben und Erreichen hinterher.

Letztendlich ist alles haben zu wollen (als Idee) gut für das Geschäft. Wenn wir akzeptieren, dass wir nicht alles haben können, ist es jedoch schlecht für den Profit. 

Entscheidungen gehen mit Verlusten einher

Wenn sie rund um die Uhr für ihre Kinder erreichbar bleibt, so meinte ich zu Ramona, wird sie für ihren Mann nicht so bewusst da sein können und vielleicht nicht die Innigkeit genießen können, die sie sich wünscht. Darüber war sie enttäuscht und anscheinend nicht überzeugt von der Tatsache.

Ähnlich erging es Peter, als ich ihm mitteilte, dass seine Entscheidung, in einer festen Beziehung zu leben – und die Vorteile einer solchen zu genießen – bedeute, sein gesellschaftliches Leben zu ändern und auf manches zu verzichten. Es schien, als hätte er eine solche Vorstellung noch nie in Betracht gezogen.

Als ich die notwendigen Arbeitsstunden, die Janes Karriere verlangte, dem Schlaf-Wach-Rhythmus ihrer kleinen Tochter gegenüberstellte, schien sie die Informationen ebenfalls zum ersten Mal zu sehen – fast wie eine Wissenschaftlerin, die die Rechnung ihrer Realität und damit die wirkliche Wahrheit ihrer Entscheidungen erkannte.

Das Leben hat Grenzen, was uns komischerweise niemand beibringt. Diese Wahrheit zu akzeptieren, befreit uns jedoch von dem Hirngespinst, das uns treibt und leiden lässt.

Wenn wir glauben, wir könnten und sollten alles haben, enden wir wie gelähmt, stecken zwischen den Möglichkeiten fest und sind unfähig, nach vorne zu schreiten oder uns für einen Weg zu entscheiden.

Wir sind nicht bereit, die Wirklichkeit zu akzeptieren: Entscheidungen sind – ob es uns gefällt oder nicht – mit Verlusten verbunden, nicht nur gelegentlich, sondern immer.

Wenn wir an unserer Idee festhalten, wir seien das Problem, der Grund, warum wir nicht alles haben können, was wir wollen, erhalten wir letztendlich nichts.

Verlust und Gewinn gehen Hand in Hand.

Wenn wir die Tatsache ablehnen, dass wir etwas aufgeben müssen, um etwas anderes zu bekommen, verweigern wir uns der Chance, uns selbst gegenüber gütig zu sein.

Den Verlust zu akzeptieren, der sich aus einer Entscheidung ergibt, bedeutet auch, die Gefühle zu akzeptieren, die mit diesem Verlust einhergehen. Es bedeutet, einen Platz für die Traurigkeit oder Enttäuschung zu bieten, die daraus entstehen, diesen anderen Weg nicht genießen zu können.

Mit jeder Entscheidung öffnet sich eine Tür und eine andere schließt sich. Man erlebt, wie sich diese Tür schließt, was ebenfalls bedacht und mit Einfühlsamkeit behandelt werden muss.

Als Mensch muss man Verlust akzeptieren

Ich ertappe mich oft dabei, dass ich zu Menschen, die mit solchen Entscheidungsdilemmata zu mir kommen, einfach „Ja“ sage. Ja, es ist wahr, wenn Sie sich für das eine entscheiden, werden Sie das andere nicht bekommen. 

Die Tatsache, dass Sie keinen Weg finden können, beides zu bekommen, bedeutet nicht, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Es bedeutet, dass Sie mit der Wirklichkeit leben, die mit dem Menschsein einhergeht.

Unsere Zeit, Energie, Motivation und Aufmerksamkeit sind begrenzt. Wir können nur auf einige unserer Wünsche eingehen – nicht auf alle. Manche Wünsche schließen von Natur aus die Möglichkeit anderer Wünsche aus.

Wenn ich das so nüchtern darlege, schauen mich die Menschen manchmal so erstaunt an, als hätten sie eine solche grundlegende Wahrheit noch nie in Betracht gezogen.

Ohne Streben werden wir herausfinden können, was wir wirklich wollen

Wenn wir bereit sind zu akzeptieren, dass das Leben unverhandelbare Einschränkungen hat, dann steigt der Wert der Entscheidungen, die wir treffen, und der Sinn des Weges, den wir einschlagen, exponentiell.

Wenn wir ehrlich und bewusst erkennen, was wir bekommen und losgelassen haben, werden wir das Erhaltene umso mehr zu schätzen wissen. 

Es ist nicht Ihre Schuld, wenn Sie nicht alles haben können; es ist kein Versagen Ihrerseits.

Die Vorstellung, dass wir in der Lage sein sollten, alles zu bekommen, was wir  wollen, jede Erfahrung zu machen, die wir uns wünschen, ist falsch.

Es ist eine Vorstellung, die uns einschnürt, festhält und leiden lässt.

Zeit, Energie und Aufmerksamkeit sind zu einem gewissen Grad verformbar, da sie sich verlängern und verkürzen können. Doch gleichzeitig sind sie auch endlich.

Wenn wir einer Sache unsere Zeit und Aufmerksamkeit widmen, bedeutet das, dass wir einer anderen Sache, die wir ebenfalls schätzen, nicht so viel Zeit und Aufmerksamkeit schenken können.

Das sind die harten Entscheidungen, die das Leben mit sich bringt. 

Wenn wir unsere Entscheidungen mit einem reifen und nüchternen Sinn für die Realität angehen, der die Verluste berücksichtigt, die mit jeder Entscheidung einhergehen, können wir unserem Leben einen tieferen Sinn und eine größere Bedeutung geben. Dann können wir umso mehr Dankbarkeit für das empfinden, wofür wir uns entschieden haben.

Wenn wir aufhören, uns damit zu beschäftigen, was wir haben sollten und was mit uns nicht stimmt, wenn wir es nicht haben können, werden wir herausfinden, was wir wirklich wollen.

Zur Autorin: Nancy Colier ist Psychotherapeutin, interreligiöse Seelsorgerin, Autorin, Referentin, Workshopleiterin und Verfasserin mehrerer Bücher über Achtsamkeit und persönliches Wachstum.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe KW29



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion