Jürgen Fritz: Wo der westliche Selbsthass herrührt und wie er überwunden werden kann

Eine der Schlüsselfragen unserer Zeit, vielleicht die Frage überhaupt lautet: Wo kommt diese Selbstverachtung respektive dieser Selbsthass her, welche(r) fast die gesamte westliche Welt ergriffen hat? Eine philosophische Erläuterung von Jürgen Fritz.
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Übertriebene Sorgen und Selbstkritik machen krank.Foto: iStock
Von 17. April 2018

Eine der Schlüsselfragen unserer Zeit, vielleicht die Frage überhaupt lautet: Wo kommt diese Selbstverachtung respektive dieser Selbsthass her, welche(r) fast die gesamte westliche Welt ergriffen hat? Diese Frage wird nicht einfach zu beantworten sein und es wird wahrscheinlich keine monokausale Erklärung geben. Hier meine These, die aber vielleicht ins Mark gehen und den Schlüssel liefern könnte zum tieferen Verständnis der Problematik und ihrer Überwindung.

Wie die permanente Abwertung des Eigenen und die Aufwertung des Fremden in den Selbsthass mündet

Die westliche Welt hat seit den alten Griechen vor zweieinhalb Jahrtausenden (erste Aufklärungswelle in der Menschheitsgeschichte) gelernt, kritisch zu denken, vor allem selbstkritisch. Das ist gut, sehr gut sogar. Kritik, die Unterscheidung, was ist gut – was ist verbesserungsbedürftig (konstruktive Kritik) ist der Schlüssel für fast jede Weiterentwicklung. Darauf basiert im Grunde alle Evolution.

Nun ist der Westen aber einem großen Fehler anheimgefallen: Er wertschätzt die Selbstkritik weit höher als die Kritik am anderen. Ganz besonders sehen wir das bei der Kritik an anderen Völkern, Gesellschaften, Ländern und Kulturen. Kritik an ihnen ist verpönt. Hier dürften die Kulturwissenschaftler und Ethnologen eine große Rolle spielen, die Kritik an dem anderen seit langem als etwas nicht Statthaftes darstellen.

Wozu führt das aber, wenn man sich selbst ständig kritisiert, sprich auch das Negative in aller Deutlichkeit herausarbeitet, dies bei dem anderen aber nicht tut und er selbst es auch nicht tut, weil er die Stufe des selbstkritischen Denkens noch gar nicht erreicht hat? Es führt zur Abwertung des Eigenen und zur unberechtigten Aufwertung des Fremden.

Irgendwann beginnen viele sich nach den Fremden regelrecht zu sehnen, weil diese in ihrer kindlichen Naivität quasi noch ein völlig unbefangenes Verhältnis zu sich selbst pflegen. Das führt aber langfristig dazu, dass die Höherentwickelten, die die Stufe des kritischen Bewusstseins längst erreicht haben (und bisweilen sehr darunter leiden und es wieder weg haben wollen), sich danach sehnen unterzugehen, sich selbst auslöschen wollen (Selbsthass).

Die Wurzel der völligen Verkehrung der Selbstbewusstseine

Und wieder frage ich mich: Wo kommt das her? Warum soll man andere, die die Kritik noch viel mehr bedürftig sind, zumindest nicht auch kritisieren. Denn es ist zutiefst ungerecht, den noch viel Kritikwürdigeren gerade nicht genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie soll er sich dann weiterentwickeln, wenn man ihm seine Schwächen nicht aufzeigt, und wie will man dann verhindern, dass es zu einer völligen Verkehrung der Selbstbewusstseine kommt, dass der Niedere am Ende selbstbewusster ist als der Höhere?

Wenn ich dieser Frage, die meines Erachtens zur Wurzel des Übels führt, versuche zu beantworten, dann lande ich wieder, wie so oft, bei dem jüdischen Wanderprediger aus Nazareth:

„Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken aber in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Matthäus 7, 3).

Und:

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Johannes 8, 7)

Soll heißen: Urteile nicht über andere, bleibe lieber bei dir selbst. Wer aber kein Urteil fällt über andere – und ein Urteil ist nicht zwingend eine Verurteilung -, der darf natürlich auch keine Kritik üben. Zumindest wird dies von den meisten so verstanden und ist im westlichen, von der christlichen Moral geprägten Kulturkreis tief verinnerlicht.

Dieser Ansatz ist aber grundfalsch. Es kann nicht darum gehen, andere gar nicht zu beurteilen, vielmehr muss das Ziel sein,

  • eine möglichst hohe Urteilskompetenz zu entwickeln und
  • sowohl sich als auch andere fair und auch gütig zu beurteilen.

Die Griechen, die Erfinder des kritischen Denkens, hatten dieses Problem der Selbstverachtung noch nicht. Warum nicht? Weil sie den anderen kulturell und zivilisatorisch überlegen waren und dies auch erkannten. Sie waren stolz, Griechen zu sein, trotz kritischem Denken. Weshalb? Weil sie es nicht primär oder gar ausschließlich auf sich selbst angewendet haben, sondern auf beide: auf sich und die anderen.

Fazit

Was wir, die westliche Welt, wieder lernen müssten, wäre: den anderen, die der Kritik noch viel mehr bedürfen als wir selbst, diese auch zukommen zu lassen. Das heißt, die fehlgeleitete christliche Moral, den anderen möglichst wenig zu kritisieren, um ihn nicht zu verletzen, zu überwinden und uns zu orientieren nicht am Gefühl des anderen, den wir ständig zu schonen trachten, sondern an dem Ideal der Fairness und Gerechtigkeit sowie der Wahrhaftigkeit.

Wahrheitsliebe und Wahrhaftigkeit können und sollten selbstverständlich einhergehen mit Taktgefühl. Das heißt, Verletzungen sollten immer auf ein Mindestmaß reduziert werden. Was aber nicht richtig ist, ist, den anderen so sehr zu schonen, dass man gar nicht mehr ehrlich ist ihm gegenüber, denn das würde letztlich darauf hinauslaufen, ihn gar nicht als kritikfähiges Wesen ernst zu nehmen, mithin seine Würde (die Fähigkeit zur Selbstbestimmung) zu missachten.

Über den Autor: Jürgen Fritz studierte in Heidelberg Philosophie, Erziehungswissenschaft, Mathematik, Physik und Geschichte (Lehramt). Nach dem zweiten Staatsexamen absolvierte er eine zusätzliche Ausbildung zum Financial Consultant unter anderem an der heutigen MLP Corporate University. Er ist seit Jahren als freier Autor tätig. Sein Blog: Jürgen.Fritz.com

Siehe auch:

„Der Mensch ist darauf angelegt, sich weiterzuentwickeln und zu dem zu machen, der er sein kann“ – sagt freier Autor

 



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