Schwarz auf Weiß – Das Rätsel der Steinzeitscheiben aus dem württembergischen Blautal

Eine Vielzahl rätselhafter verzierter Kalkscheiben aus der Jungsteinzeit entdeckten Forscher in den Ruinen einer 6.000 Jahre alten Siedlung im württembergischen Blautal. Auf den Spuren vorgeschichtlicher Tradition präsentiert das Museum der Stadt Ulm das Jahrtausende alte Rätsel.
Kalksteinscheiben aus dem Blautal
Steinscheiben aus der Grabung von 1960. Durchmesser max. 6,9 cm.Foto: Landesmuseum Württemberg | H. Zwietasch
Von 18. Mai 2020

Seit 2011 gehören sie zum UNESCO-Welterbe „Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen“: Die Rede ist von den Ruinen eines 6.000 Jahre alten Dorfes aus der Jungsteinzeit im Blautal bei Ehrenstein nahe Ulm. Durch die Lage im feuchten Talgrund waren die Reste der Holzhäuser hervorragend erhalten.

Bei Ausgrabungen 1952 und 1960 legten Archäologen 15 Gebäude in Teilen frei. Der Umfang der Siedlung konnte 2014 durch Bohrsondagen auf über 9.000 Quadratmeter ermittelt werden.

Nach den Jahrringdaten der Bauhölzer war das erste Dorf im Jahr 3955 v. Chr. erbaut worden. Es folgten mehrere Brände und Wiederaufbauten der Siedlung, bis sie knapp 100 Jahre später endgültig verlassen wurde.

Modell eines Hauses aus dem Blautal

Modell der Dorfanlage. Foto: Stadtarchiv Ulm | W. Adler

Rätselhafte Kalksteinscheiben aus dem Blautal

Unter den zahlreichen geborgenen Gegenständen aus Stein, Knochen, Geweih und Keramik fällt eine Fundgruppe besonders auf. Es handelt sich dabei um flache, annähernd runde Scheiben verschiedenster Größe aus Kalkstein. In ihrer Mitte besitzen sie eine doppelte Durchlochung.

Auf einer Seite sind die Ränder der Scheiben zudem mit geradlinigen oder zu Dreiecken angeordneten strahlenförmigen Mustern verziert. Diese waren ursprünglich mit einer schwarzen Paste ausgefüllt, sodass die Muster deutlich zur Geltung kamen.

Neben fertigen Exemplaren, oft mit Gebrauchsspuren, liegen jede Menge Rohlinge und unvollendete Stücke vor. Offenbar benutzten und stellten nur die Menschen aus diesem Dorf die Scheiben her. Bis heute stellen sie die archäologische Forschung vor ein Rätsel.

Kalkscheibe aus dem Blautal

Zierscheibe, 3.900 v. Chr. Foto: Museum Ulm | Wolfgang Adler, Stadtarchiv Ulm

Auf der Suche nach ihrem Sinn

Die Ausstellung zeigt einen repräsentativen Querschnitt der rund 200 Scheiben. Außerdem geht sie auch mithilfe der experimentellen Archäologie der spannenden Frage nach ihrer Deutung und Verwendung nach.

Schon 1952 beschrieben Forscher diese Scheiben als eigenartige Fundgruppe. Dabei war unter anderem von „grotesken Riesenknöpfen“ die Rede. Dass es jedoch keine Knöpfe gewesen sein können, wurde schon bald deutlich, als größere, schwere Exemplare beziehungsweise Bruchstücke entdeckt worden waren. Damals wurden insgesamt 25 Scheiben geborgen, weitere 169 kamen bei der Ausgrabung 1960 dazu.

Sie stammen aus allen Bauperioden des Dorfes. Fertige Exemplare, komplett oder als Fragmente, mit und ohne erkennbare Gebrauchsspuren, sowie unfertige Scheiben lagen sowohl in den Häusern als auch in den Gassen und im Bereich der Dorfstraße. Rätselhaft ist der hohe Anteil unvollendeter Exemplare: Geschliffene Rohlinge wie auch Scheiben mit nicht zu Ende geführten Bohrungen.

Aus der Fundverteilung kann man folgern, dass es keine zentrale Werkstätte zur Herstellung dieser Scheiben gab. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die wenig spezifische Verteilung der Scheiben zum Teil durch die Planierarbeiten im Siedlungsbereich bedingt ist.

Kalkscheibe aus dem Blautal

Zierscheibe mit zusätzlichen V-förmigen Ritzstreifen, 3.900 v. Chr. Foto: Museum Ulm | Wolfgang Adler, Stadtarchiv Ulm

Vier Stunden pro Scheibe

Auffällig ist auch die unterschiedliche Qualität der Scheiben. So stehen scheinbar wenig gelungene Exemplare qualitativ sehr hochwertigen gegenüber. Außerdem ist ihre Menge bemerkenswert. Rechnet man die Zahl der vorliegenden Scheiben aus allen Herstellungsstadien auf die gesamte Siedlungsfläche hoch, ergibt sich die erstaunliche Zahl von deutlich über 1.000.

Weitere Aufschlüsse über die Anfertigung wie den Gebrauch der Kalkscheiben liefern die Herstellungs- und Abnutzungsspuren. Diese sind oft schon mit bloßem Auge, noch besser aber unter dem Mikroskop erkennbar. Dunkle Farbspuren in den Strichverzierungen entpuppten sich überraschend als Reste schwärzlicher Einlagen, mit denen ein Großteil der eingeritzten Verzierung ausgefüllt war.

Experimentell konnte nachvollzogen werden, dass man zum Ausfüllen der Verzierungen sehr feines Birkenpech benutzen konnte. Interessant ist im Hinblick auf die zahllosen unfertigen Scheiben der Zeitaufwand für ihre Herstellung. Im Experiment waren für eine Scheibe mittlerer Größe vom Zuschlagen der Kalkplatte bis hin zur Fertigstellung der Verzierung etwa vier Arbeitsstunden nötig.

Ausgrabung von 1960 im Blautal

Grabung im Jahr 1960. Foto: Landesamt für Denkmalpflege im RP Stuttgart

Verwendung in Verbindung mit Kleidung

Außerhalb der Siedlung bei Ehrenstein sind derartige Kalksteinscheiben nahezu unbekannt. Typologisch am nächsten stehen drei Exemplare aus dem Federseeried, vom Bodensee und von der Oberen Donau. In einem Haus der Siedlung bei Riedschachen und einem Pfahlbaudorf am westlichen Bodenseeufer wurde je ein Fragment einer solchen Zierscheibe entdeckt.

Eine komplette Scheibe entdeckten 2004 spielende Kinder im Donaukies bei Öpfingen. Die Oberflächen großformatiger Scheiben sind oft auf Vorder- wie Rückseiten poliert. Ein solcher Glanz entsteht bei längerem Kontakt mit Stoff oder Leder und ist ein klarer Hinweis auf ihre Verwendung in Verbindung mit Kleidung.

Schwer zu erklären sind jedoch einige Widersprüche: Einerseits gibt es einen hohen Anteil halbfertiger Exemplare ohne sichtbare Mängel, auf der anderen Seite weiterverwendete beschädigte Exemplare. Auffällig sind auch die großen Qualitätsunterschiede sowohl in der Formgebung als auch in der Ausführung der Randzier.

Ausgrabung im Blautal

Grabungsfeld 1960 im Blautal. Foto: Landesamt für Denkmalpflege im RP Stuttgart

Einzigartig im Blautal

In jedem Fall gewinnt man den Eindruck, dass viele Mitglieder der Dorfgemeinschaft mit der Herstellung und dem Gebrauch solcher Objekte vertraut waren. Form und Verzierung legen eine symbolische Bedeutung nahe, doch in welchem Zusammenhang diese mit der vermuteten Verwendung steht, ist unklar.

Rätselhaft ist schließlich, dass die Steinscheiben als spezifische Form offenbar auf das Dorf bei Ehrenstein beschränkt blieben. Auch, wenn im Spektrum der Keramik Einflüsse aus dem Neckarraum erkennbar sind und Perlenschmuck Verbindungen nach Süden zu Federsee und Bodensee anzeigt.

Das nahezu komplette Fehlen solcher Scheiben in zeitlich und kulturell vergleichbaren Siedlungen andernorts spricht für eine relativ isolierte Dorfgemeinschaft im Blautal. Mit der Aufgabe der Siedlung scheint diese lokale Tradition abzubrechen.

Informationen zu den Öffnungszeiten und begleitenden Veranstaltungen finden Sie online unter www.museumulm.de.

(Mit Material des Museums Ulm)



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