Begegnung mit den vier Evangelisten – der Münnerstädter Altar des Bildhauers Tilman Riemenschneider

Tilman Riemenschneider, der bedeutendste Bildschnitzer und Bildhauer der deutschen Spätgotik, schuf in seiner Werkstatt in Würzburg bedeutende Werke. Dazu gehört die Gruppe der vier Evangelisten, die Teil eines Hochaltars waren.
Titelbild
„Evangelist Johannes“, 1490–1492, Lindenholz, von Tilman Riemenschneider.Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst/Antje Voigt, CC BY-SA 4.0

Bei jedem Werk, das sie schufen, ließen sich die Bildhauer der Gotik von ihrem Glauben an Gott leiten. Ihre kunstvoll gefertigten Skulpturen illustrierten Geschichten aus der Bibel und stellten das Leben der Heiligen dar. Sie bildeten einen wichtigen Teil der Kirchenarchitektur und verankerten das Wort Gottes auf ihre Weise in den Herzen der Menschen.

Fragmente dieser Geschichten werden in Kunstmuseen und Galerien auf der ganzen Welt ausgestellt. Und obwohl sie dann nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu sehen sind, schätzen wir die Schönheit dieser Stücke so, wie man eine Verszeile liest, ohne das ganze Gedicht zu kennen.

Tilman Riemenschneiders vier Evangelisten sind ein solches Beispiel. Sie stammten ehemals aus dem Hochaltar der Kirche St. Maria Magdalena in Münnerstadt und sind schon seit einiger Zeit in einer Dauerausstellung des Berliner Bode-Museums zu bewundern. Am Originalort in der bayerischen Kleinstadt in Unterfranken befinden sich seit 1981 Repliken.

Das zentrale Thema des Hochaltars „Magdalenenretabel“, der rund 15 Meter in den Chor der Kirche aufragte, war das Leben der Maria Magdalena, die in den vier Evangelien erwähnt wird. Die Szenen zeigen, dass auch Sünder umkehren und zu Heiligen werden können.

„Evangelist Markus“, 1490–1492, von Tilman Riemenschneider, Lindenholz, 74 × 40 × 25 cm. Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst/Antje Voigt, CC BY-SA 4.0

Ausdruck vor Genauigkeit

Riemenschneider (um 1460 bis 1531) arbeitete in einer Zeit des künstlerischen Übergangs: der nördlichen Renaissance (um 1380 bis 1580). Seine Figuren sind typisch für den gotischen Stil, in dem er ausgebildet wurde. In seinen Werken legte er mehr Wert auf Ausdruck als auf anatomische Genauigkeit. Er schuf Kunst, die an Emotionen appelliert – sei es Schrecken, Ehrfurcht oder religiöse Inbrunst.

Riemenschneider schnitzte die vier Figuren aus Lindenholz, seinem Lieblingsmaterial. Zum Schluss wurden sie – was ein Novum war – weder mit Farbe noch mit Blattmetall verziert, sondern mit einem mit Farbpigmenten versehenen Leimüberzug lasiert.

Mit der Art und Weise, wie er die Evangelisten kleidete, symbolisierte er ihre Aufgaben. Markus und Lukas sind als zeitgenössische humanistische Gelehrte gekleidet, was auf ihre fromme Gelehrsamkeit hindeutet, während Matthäus und Johannes in antike Gewänder gekleidet sind, wodurch zum Ausdruck kommt, dass sie die Apostel sind.

Jedem der Evangelisten gab er ein symbolisches Tier: Markus erhielt einen geflügelten Löwen, Lukas einen geflügelten Ochsen. Der Adler für Johannes und der Engel für Matthäus wurden separat geschnitzt und direkt an der Predella, dem untersten Teil des Altaraufsatzes, angebracht – beide existieren nicht mehr.

Sakraler Geist überdauert Jahrhunderte

In der Predella waren sie nach der Reihenfolge des Erscheinens der Evangelien in der Bibel aufgereiht und bildeten eine geschlossene Gruppe: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Die Figuren scheinen miteinander zu interagieren, wobei sich ihre Körper zur Mitte hinwenden.

Ursprünglich schloss sich darüber die zentrale Altartafel (Korpus) an. In ihm befanden sich Engel, die Maria Magdalena in den Himmel tragen, flankiert vom Heiligen Kilian und der Heiligen Elisabeth von Thüringen.

Den Korpus flankierten Flügel mit gemalten und dekorativen Reliefs. Die beiden Tafeln auf dem linken Flügel zeigen „Die Erscheinung Christi vor Maria Magdalena“ (oben) und „Christus im Haus des Simon“; die beiden Tafeln auf dem rechten Flügel „Die letzte Kommunion der Maria Magdalena“ (oben) und „Das Begräbnis der Maria Magdalena“.

Das Maßwerk des Altaraufsatzes erstreckte sich noch auf zwei weitere Ebenen über den Korpus. Direkt über dem Korpus flankierten die Jungfrau Maria und der Evangelist Johannes die Dreifaltigkeit. Weiter oben im Himmel des Maßwerkes stand Johannes der Täufer.

Der gotische Bildhauer Tilman Riemenschneider entwarf das Altarbild in der Kirche St. Maria Magdalena im bayerischen Münnerstadt. Einige von Riemenschneiders Originalwerken aus dem Altarbild sind erhalten geblieben. Das Rahmenwerk wurde in den frühen 1980er-Jahren angefertigt, und im Laufe der Zeit wurden Repliken wie die vier Evangelisten hinzugefügt. Foto: Andreas Praefcke, CC SA-BY 3.0

Nach Angaben des Bode-Museums inspirierten die Holzschnitte des Kupferstechers Martin Schongauer viele von Riemenschneiders Skulpturen.

So weist Riemenschneiders plastisches Relief „Die Erscheinung Christi vor Maria Magdalena“ in diesem Altarbild eine verblüffende Ähnlichkeit mit Schongauers Druck „Christus, der der Magdalena erscheint“ auf. Es handelt sich um die oft als „Noli me Tangere“ bezeichnete Szene, in der der auferstandene Christus Magdalena bittet, ihn nicht zu berühren, da er noch nicht zu seinem Vater im Himmel aufgefahren sei.

Obwohl Riemenschneiders vier Evangelisten ihren Platz schon lange nicht mehr in St. Maria Magdalena haben, verströmen die Figuren nach wie vor den sakralen Geist, den der Bildhauer seinen Figuren eingehaucht hat – selbst in einer so profanen Umgebung wie einem Museum.



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