Calixto Bieitos verrücktes Labyrinth in der Bayerischen Staatsoper

„Das Herz wird hart durch Gegenwart bei fürchterlichen Dingen“ singt Kerkermeister Rocco in Beethovens Fidelio. Ein passendes Motto für die Neuinszenierung der Bayerischen Staatsoper: Regisseur Calixto Bieito stellte Sänger, Publikum und Werk in München auf eine harte Probe.
Titelbild
Foto: Wilfried Hösl für die Bayerische Staatsoper
Von 22. Dezember 2010

Hohe Erwartungen hatte es gegeben, alle Vorstellungen waren schon vor der Premiere ausverkauft. Das mit Spannung erwartete Debut des katalanischen „Skandal-Regissers“ Calixto Bieito enttäuschte beinahe lückenlos. In komplizierter Kulisse, regietechnisch fragwürdig bis dilettantisch umgesetzt, retteten Anja Kampe, Jonas Kaufmann und der Chor, was vom Abend zu retten war.

„Gerechtigkeit hält zum Gericht der Rache Schwert gezückt“ (Zitat aus dem Finale)

Beethoven schrieb seinen „Fidelio“ als ein Hohelied auf die Freiheit und die Liebe. Die Geschichte Leonorens, die als Mann verkleidet in letzter Sekunde den politischen Mord an ihrem Ehemann verhindert, geht auf eine wahre Begebenheit während der Französischen Revolution zurück. Im Kampf zwischen Gut und Böse, der damals tobte, war die Erfahrung, dass Unterdrücker die gerechte Strafe ereilt, greifbare Realität. Beflügelt von seinem tiefen Glauben an humanistische Ideale komponierte Beethoven ein Werk, das wie kein zweites an Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein des Publikums appelliert.

Nun projiziert Calixto Bieito die Handlung von einem Gefängnis für politische Häftlinge in das Labyrinth der menschlichen Psyche. Florestan ist auf einmal so etwas wie ein Psychiatrie-Patient. Indem er das Bild des unerschrockenen Freiheitskämpfers mit dem eines psychisch Kranken überblendet, evoziert Bieito den Gedanken, dass Leute, die für ihre Wahrheit einstehen, Spinner sind. Hoffentlich unbeabsichtigt, denn gerade er hatte doch erklärt, nur das umsetzen zu können, woran er selbst auch glaubt …

Eine fragmentierte Geschichte

Alles begann mit der Leonoren Ouverture Nr. 3, zu der Gestalten aus dem Orchestergraben auf die Bühne krochen. Man sieht Leonore, wie sie ihre Brust abbindet, um sich als Mann zu verkleiden. Mit einer spannenden Lichtchoreographie aus Neonröhren wurde die Musik optisch umgesetzt. Der seltene Fall einer gelungen inszenierten Ouverture, der Lust auf mehr machte. (Lichtdesigner Reinhard Traub hauchte auch später noch momenteweise Poesie ins Geschehen.)

Doch schon in der nächsten Szene wechselte die Perspektive und man erlebte die Musik nur noch als Fragmente einer Geschichte, ebenso wie die Beziehungen der Figuren untereinander nur Andeutungen blieben. Statt Fidelio-Dialogen gab es einige Zitate des Spaniers Jorge Louis Borges mit Assoziativem zur Labyrinth-Metapher, aber keinen roten Faden. Die Verkettung von Fragmenten war Bieitos Programm.

Es fiel schwer, sich für diese Menschen zu erwärmen: Der jungenhafte Jussi Myllys als Jaquino im Biker-Look. Marzelline Laura Tatulescu, die mit mädchenhaftem, stark tremolierendem Sopran in Minikleid und Stöckelschuhen(!) durchs Gerüst turnte, möchtegern sexy.

Der gehetzte, Aktentaschen tragende Rocco von Franz-Josef Selig, der zur Goldarie mit Geldscheinen wirft. Hätten die erstklassigen Sänger, allen voran Anja Kampe als intensiv-leidenschaftliche Leonore, ihre Rollen nicht so ungeheuer ernst genommen – außer einer Handvoll Spezialeffekten wäre nichts geblieben.

Das schwebende Odeon-Quartett sorgte für den poetischsten Moment und eine Verschnaufpause für Solisten und Artisten.Das schwebende Odeon-Quartett sorgte für den poetischsten Moment und eine Verschnaufpause für Solisten und Artisten.Foto: Wilfried Hösl für die Bayerische Staatsoper

Gefangen im Gerüst

Bieito hatte schon im Vorfeld gesagt, dass bei ihm alle Gefangene sein würden. Das zeigte sich dann sehr praktisch daran, dass im ersten Akt alle Sänger aus Sicherheitsgründen unter den Kostümen Gurtgeschirre trugen und sich mit einem kleinen Drahtseil ständig befestigen mussten.

Denn der geheime Hauptdarsteller war das Bühnenbild von Rebecca Ringst, die durchsichtige Labyrinth-Struktur aus Metall und Plexiglas. Es war sowohl vertikal wie horizontal bespielbar. Zu Anfang erlebte man es als eine neun Meter hohe Konstruktion mit mehreren Plattformen, durch die ständig geklettert wurde und das Klappern des Gerüsts war ein omnipräsentes Begleitgeräusch.

Auch lenkten die Glasplatten den Klang ab, sobald im Gestänge gesungen wurde, was je nach Sitzplatz die Akustik beeinträchtigte. (Sobald die Sänger am Boden standen, konnte man sie jedoch gut hören.) Da Fidelio als sinfonisch angelegtes Kammerspiel von den Ensembleszenen lebt, war Teil 1 für Sänger wie Publikum sehr anstrengend. Die musikalischen Spannungsbögen zwischen den Nummern konnten nicht hergestellt werden. Einzig die Arie der Leonore sowie der Gefangenenchor (sensationell atmosphärisch) ragten heraus. Der Applaus regte sich nur sehr matt.

Zu Beginn des zweiten Teils wurde Dirigent Daniele Gatti dann mit einem Buh-Chor begrüßt, denn ein Orchester, das nur die Töne korrekt gespielt hatte, reichte dem Publikum nicht. Man wollte Beethovens unsterbliche Partitur blühen hören. Doch bis auf das rasante Finale blieb es beim Mittelmaß und die gleichen Buhs trafen Gatti noch einmal beim Schlussapplaus.

Dominante Spezial-Effekte

Statt Florestans Arie folgte eine Generalpause, in der das portalfüllende Gerüst auf spektakuläre Weise von der Vertikalen in die Horizontale gekippt wurde. Zappelnde Artisten flogen von oben herab. (Ein großes Lob an all die sonst unerwähnten Frauen und Männer der Technik, die das möglich machten!) Unmut regte sich nochmals im Publikum: „So ein Zirkus!“ – „Buh!“ -„A Ruah is!“

Eine Frau gegen zwei Männer: Rocco (Franz-Josef Selig) Leonore (ANja Kampe) und Pizarro (Wolfgang Koch).Eine Frau gegen zwei Männer: Rocco (Franz-Josef Selig) Leonore (ANja Kampe) und Pizarro (Wolfgang Koch).Foto: Wilfried Hösl für die Bayerische Staatsoper

Und dann kam endlich er: Jonas Kaufmann als Florestan, barfuß, in hellblauem Pyjama. Sein „Gott! Welch Dunkel hier“ begann er als Hilferuf aus dem Nichts seines Pianissimo heraus. Hüstelte und ächzte zwischendurch besorgniserregend, aber das war wohl eine Regieanweisung. Dank seiner Leidenschaft markierte seine Arie einen Höhepunkt des Abends. Er berührte wie so oft durch künstlerische Selbstbeherrschung und seine Fähigkeit, buchstäblich alles zu geben: Beim Duett von Rocco und Leonore wurde er anstelle des besungenen schweren „Steins“ von den beiden an den Füßen über die Bühne geschleift.

In der Mordszene wurde das Hauptproblem der Inszenierung deutlich: Bieito konnte sich nicht zwischen Drama und Persiflage entscheiden: Wolfang Kochs Pizarro (eine stimmgewaltige Idealbesetzung mit Vokuhila) tobte böse und lächerlich. Leonore rettet Florestan, indem sie Pizarro eine Schnapsflasche über den Kopf schlägt und ihn mit Säure aus einem Kanister verätzt.

Von diesem Moment an lief Anja Kampe zur Höchstform der großen Liebenden auf, die sie bis zum Schluss, trotz sonderbarer Aufgaben, halten konnte. Um die Rückkehr zum normalen Leben darzustellen, zieht sich das wiedervereinte Paar während seines anspruchsvollen Duetts einmal komplett bis auf die Unterwäsche aus und um. Oh namenlose Freude. Aus Leonore wird eine Frau im blauen Kleid, die ihrem Florestan liebevoll den Schlips bindet. Respekt für Kaufmann und Kampe, die trotzdem das musikalische Niveau hochhalten konnten.

Das Odeon-Quartett kam in Käfigen aus dem Schnürboden herabgeschwebt und entpuppte sich als eine der besten Ideen. Wie eine sonnenbeschienene Wolke aus warmem Wohlklang und perfekt synchron ertönte der „Heilige Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“ aus Beethovens Streichquartett Nr. 15 A-Moll Op. 132 – eine Meisterleistung.

Der Tod kam aus der Proszeniumsloge

Don Fernando (Steven Humes mit schneidend schwarzem Bass) entstieg als zynisch-clownesker Zombi der Proszeniumsloge. Eine Personifkation des Todes im crèmeweißen Anzug! Er schoss Florestan nieder, um ihn im nächsten Moment zu beglückwünschen und ihm mit Marker ein dickes „FREI!“ auf ein Plastikschild zu schmieren. Also befreit einen nur der Tod aus dem Kopflabyrinth? Zumindest vokal triumphierten die edlen Frauen des Chores: Der Schlußjubel bot (einstudiert von Sören Eckhoff) das erwartete Feuerwerk und versöhnte die Zuschauer.

Obwohl es nichts zu feiern gab, klatschte sich das Münchner Publikum in Partylaune, weil man nach all dem Bieito- und Kaufmann-Hype im Vorfeld doch unbedingt feiern wollte: Kampe, Kaufmann und der Chor waren die Stars des Abends. Fans und Gegner des Calixto-Teams lieferten sich eine akustische Schlacht. Das famose Odeon-Quartett ging dabei fast unter.

Fazit: Eine Totgeburt für Beethoven als Werk. Aber eine prima Visitenkarte für Bieito als Regisseur von Events wie z.B. den Olympischen Spielen …

Foto: Wilfried Hösl für die Bayerische Staatsoper


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