Der Flohwalzer, der kein Walzer ist

Die schicksalhafte Geschichte des weltberühmten „Flohwalzers“ und seines Komponisten Ferdinand Loh.
Titelbild
Heuzutage kennt jedes Kind den Flohwalzer und er ist auch ohne Noten meist eines der ersten Lieder auf dem Klavier.Foto: AFP/Patrcik Kovarik
Von 11. März 2012

 

Wer kennt nicht das berühmte Klavierstück, das die Großmütter ihren Enkeln beigebracht haben, ohne jemals den Notentext gekannt zu haben? Kein Klavierpädagoge hat uns jemals zu vermitteln gewusst, dass dieses Fis-Dur-Stück (6 Kreuze) überhaupt kein Walzer ist. Erst im Jahre 1996 erschien im Schott-Verlag  zum ersten Mal eine philologisch abgesicherte Urtextausgabe. Die Komposition ist im 4/4-Takt und nicht im ¾-Takt geschrieben!

Gelegentlich sind sowohl Mozart als auch Brahms als mögliche Komponisten genannt worden, wohl aufgrund der meisterhaften Faktur und motivischen Dichte, durch die sich der Flohwalzer weit über das Mittelmaß der meisten Klavierwerke des 18. und 19. Jahrhunderts erhebt.

F. Loh, Ferdinand Alfred Gustav Loh (1869 – 1927) hat dieses Werk der Pianisten-Welt hinterlassen. Er wurde am 24. April 1869 in Kniphausersiel, in der Nähe von Jever/Ostfriesland, als Sohn des Dorfschullehrers Friedrich Loh geboren. Der mehr naturwissenschaftlich als musikalisch orientierte Vater vermittelte seinem Sohn schon in frühester Kindheit die Grundlagen der verschiedensten Wissensgebiete; der Junge lernte leicht und behielt auch späterhin reges Interesse an allem, was seinen wachen Geist stimulieren konnte.

Bereits mit fünf Jahren konnte er lesen und verschlang sämtliche Bücher, die ihm in die Hände gelangten. Besonders Keplers Harmonices Mundi hinterließ beim jungen Ferdinand einen bleibenden Eindruck; von Spinozas Ethik fertigte er gar eigens eine Abschrift an.

Eines Tages kam er nicht zum Abendessen nach Hause und die Mutter machte sich auf, um ihn zu holen. Durch das Fenster der Dorfschule hörte sie ihren Sohn ein ihr unbekanntes Stück spielen und als sie sich bei Ferdinand nach dem Komponisten erkundigte, antwortete der Junge stolz: „Das ist von mir!“

Von diesem Tage an waren die Eltern von der außergewöhnlichen Begabung ihres einzigen Kindes überzeugt. Sie versuchten, ihn im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten zu fördern. Der gerade 13-Jährige bekam als kostbarstes Konfirmationsgeschenk eine Fahrkarte nach Bayreuth zur Uraufführung von Richard Wagners Parsifal.

Die Reise wurde für Ferdinand zum unvergesslichen Erlebnis. Zum ersten Mal verließ er, ganz alleine, das heimatliche Kniphausersiel, zum ersten Mal hörte er  ein großes Orchester, dessen Instrumente er bisher nur durch eifriges Studium von Hector Berlioz‘ Instrumentationslehre kennengelernt hatte.

Selbstbewusst nutzte Ferdinand die Gelegenheit, Hermann Levi vorzuspielen, aber der Dirigent der Uraufführung erkannte sein Talent nicht. In den Grünanlagen des Festspielhauses lernte der junge Loh den gleichaltrigen Siegfried Wagner kennen, der sich anbot, bei seinem Vater um Kompositionsunterrichtet zu bitten, woraus allerdings nichts wurde, denn Wagner starb im folgenden Jahr.

Wieder zurück in Kniphausersiel widmete sich der durch die Reise zutiefst Beeindruckte nunmehr fast völlig der Komposition. Besonders war ihm die Stelle „Wie dünkt mich doch die Aue heut‘ so schön!“ im Gedächtnis haften geblieben und tatsächlich findet sich hier der motivische Keim für Ferdinand Lohs Hauptwerk.

Er studierte von 1889 – 1892 an der Royal Academy of Music in London die Fächer Kontrapunktik, Harmonielehre und Klavier.

An seinem 21. Geburtstag, am 24. April 1890 schrieb er seiner Cousine aus London: „… Habe heute früh, an meinem Geburtstag, meinen ‚Walzer‘ fertiggestellt, du kannst mir also doppelt gratulieren. Äußerlich ist er zwar klein, aber ich habe das Gefühl, dass ich alles hineingelegt habe, dessen ich nur fähig bin. Um acht Uhr morgens war es soweit. Habe alle anderen Werke feierlich im Ofen verheizt – die drei Symphonien, die Oper und alles andere. Die erste Abschrift schicke ich natürlich dir, die nächsten gehen gleich morgen an die großen Verlage, die werden sich darum reißen! Solch ein Stück hat’s noch nicht gegeben auf der Welt – wer mich und meine Philosophie kennenlernen will, braucht’s nur gründlich zu studieren, es ist darin alles verborgen …“

„Walzer“, der Titel des Stücks, war eine Anregung von Lohs Cousine. Und Loh schreibt selbst handschriftlich diesen Titel über seine Komposition. Ein Blick ins Autograf erklärt diesen Namen als offensichtliches Missverständnis. Loh hatte seinen Namen und den Titel des Werkes so dicht aneinander geschrieben, dass statt „F.Loh: Walzer“ versehentlich „Flohwalzer“ gelesen wurde.

Der erhoffte finanzielle Erfolg blieb jedoch aus. Sämtliche Verlage, denen Loh das Manuskript anbot, lehnten ab. Carl Haslinger schrieb im Juni 1890 aus Wien:

„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der Verlag meines Vaters schon 1875 an Schlesinger in Berlin gegangen ist und ich mich selbst völlig aus dem Geschäft zurückgezogen habe. Allerdings glaube ich, dass Sie dort auch nicht mehr Glück haben werden, Ihr Opus erscheint mir doch zu seltsam, als dass es sich verkaufen ließe. Versuchen Sie es doch einmal mit einem längeren Werk! Darf ich schließlich darauf hinweisen, dass ein Walzer gemeinhin als im ¾-Takt stehend angenommen zu werden pflegt. Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung.“ C. Haslinger.

Nach Beendigung seiner Studien im Jahre 1892 ließ sich Ferdinand Loh als Klavierlehrer in Sutton Hoo in der Nähe von Ipswich in England nieder. Er heiratete 1894 die Geigerin Laura Thypswith; die glückliche Ehe blieb kinderlos.

Von Sutton Hoo aus versuchte Loh noch einige Jahre lang, seine Komposition bei einem Verlag unterzubringen, allerdings erfolglos. So verlegte er sich schließlich darauf, den ungeheuren Siegeszug seines Werkes allein durch quasi mündliche Überlieferung einzuleiten. Seine Klavierschüler wurden nicht müde, den Flohwalzer immer und immer wieder zu spielen und trugen wesentlich zum Erfolg des Werkes bei. Um 1905 war er bereits in ganz Europa bekannt und verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auch in den überseeischen Ländern.

Und das, obwohl niemand den Notentext kannte!

Im Jahre 1912 schrieb Loh an seine Cousine: „Würde ich nur immer einen Penny erhalten, wenn irgendwo mein Stück gespielt wird, so könnte ich ganz England kaufen.“

Schon damals hatte sich das Werk vom Namen des Schöpfers getrennt. Überall hieß es nur Der Flohwalzer und schließlich kam es so weit, dass man Loh die Urheberschaft nicht mehr glauben wollte, da man annahm, ein so weit verbreitetes Stück könne unmöglich von einem Klavierlehrer aus Sutton Hoo stammen, geschweige denn von einem gebürtigen Ostfriesen.

Die bedauerliche Entwicklung verbitterte Ferdinand Loh sehr.  Im Jahre 1925 starb seine Frau, erst 53 Jahre alt, an einer schweren Lungenentzündung. Von diesem Schicksalsschlag erholte er sich nicht mehr. Gebrochen kehrte er nach Kniphausersiel zurück und bezog dort ein reetgedecktes Haus am Rande des Dorfes. Am 9. Dezember 1927 starb Ferdinand Loh, von der Musikwelt vergessen, schlimmer noch: eigentlich nie zur Kenntnis genommen. Loh wurde auf seinen Wunsch hin auf offener See bestattet. In seinem letzten Brief schrieb er:

„Kein Grabstein soll an mich erinnern. Mein Walzer soll mein Grabstein sein.“

Bis vor wenigen Jahren hat die gesamte Musikfachwelt von Ferdinand Loh und der Entstehungsgeschichte des Flohwalzers nichts gewusst. 1995 erschien im Atlantis-Verlag das faszinierende Büchlein, 62 Seiten lang, aus der Feder von Eric Baumann: „Ferdinand Loh und sein Opus Magnum: Der Flohwalzer“. Unmittelbar nach Erscheinen dieses Buches hatte ich mich bei Eric Baumann für seine grandiose Forschungsarbeit bedankt. Leider wird auch dieser großartige Schatz kaum bemerkt. Das Buch wurde nur mäßig verkauft. Ich habe es Dutzende Male an Konzertpianisten verschenkt. Es gibt übrigens noch einige Billig-Restexemplare bei www.amazon.de.

Roland R. Ropers ist Transformations- und Weisheitsforscher,  Publizist und Etymosoph. Er schreibt für The Epoch Times Deutschland wöchentlich die Kolumne Etymosophie

 



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