Der Klang, die Zeit und die Liebe

Titelbild
Wildgänse auf ihrem Zug nach Süden künden von Herbst und WinterFoto: ATTILA KISBENEDEK/AFP/Getty Images
Von 28. Oktober 2013

Was wäre unser Empfinden und Erleben der Zeit ohne Klänge? Im Gang der Erde um die Sonne und der Sonne durch den Tierkreis, ihrem Wechsel von Erdnähe und -Ferne, von Licht und Dunkelheit offenbart sich das Zeitliche unseres Erdenplaneten.

Je nach unserem Lebensraum zeigen sich für uns die Jahreszeiten in ihrem rhythmischen Wechsel und ihrer Eigenart verändert. An den Wandel der Jahreszeiten gebunden ist unser Zeitempfinden. Dieses wandelt sich etwa mit dem Zunehmen oder Abnehmen des Tageslichtes im Frühling oder im Herbst. Die belebte Natur antwortet auf den kosmischen (Farb-)Klang der auf- oder untergehenden Sonne mit jeweils anderen Klängen.

So kann man beispielsweise geradezu die Uhr danach stellen, wie die einzelnen Singvogelarten im Frühling vor und nach Sonnenaufgang mit ihrem Gesang einsetzen. Dies geschieht eben nicht gleichzeitig, nicht ungeordnet und beliebig, sondern in der Ordnung von Einsätzen, nach denen man tatsächlich die Uhr stellen kann. Analog zu dieser „Vogeluhr“ des einzelnen Tageslaufes geschieht dies auch im Jahreslauf mit der Zunahme des Lichtes und dem Beginn des Frühlings. Und dann sind da ja noch unsere eigene, menschliche Musik, unsere vielfältigen, jahreszeitlich inspirierten Lieder und Musikstücke. So trägt eines der beliebtesten Stücke aus der Barockzeit den Titel „Die vier Jahreszeiten“.

Die Klänge der Vögel erscheinen losgelöst aus ihrem Lebensraum, aus Raum und Zeit beinahe sinnlos. Vögel bringen durch ihre Laute und ihre Gesänge nicht nur etwas von ihrem eigenen Wesen in Raum und Zeit zum Ausdruck, sondern auch etwas von den Qualitäten des Lebensraumes und ihrer Lebenszeit.  Der ziehende Schrei des Kranichs, das Schnattern der Wildgänse, das „Jaken“ der Möwen – wie sehr gehören diese zur Weite des Himmelsraumes, des Meeres, ja verleihen dieser Weite einen charakteristischen Ausdruck, ebenso wie die ins Helle gedehnte Zeit des Sommers und die Unbegrenztheit der sommerlichen Himmelsbläue oder Abendröte im Sirren der Mauersegler über den Dächern und Türmen der Stadt ihren klanglichen Ausdruck finden.

Die Anzahl der Rufe eines Kuckucks brachte bis vor nicht allzu langer Zeit der Volksglaube mit der verbleibenden Lebenszeit in Verbindung: „Kuckuck, sag mir doch: Wieviel Jahre leb ich noch?“ Die menschliche Lebenszeit eines jeden von uns beginnt mit einem Schrei und endet mit einem Seufzer, manchmal auch durch ein letztes gesprochenes Wort, und das rhythmisch-pulsierende Pochen von Herzschlag und Atemrauschen begleiten uns das ganze Leben hindurch.

Die Klangwelt lebendiger Wesen und der Jahreszeiten wirkt stark auf unser Zeitgefühl. Jede Jahreszeit hat für uns eine andere Stimmung, einen anderen Klang: Das Rauschen des Waldes klingt im Sommer gänzlich anders als im froststarren Winter, und die Füße, die durch den heißen Dünensand knirschen, geben einen anderen Klang, als beim Stapfen durch Schnee oder beim Schlittern auf hartgefrorenen Boden.

Das laute Knarren und Quietschen der Dielen in Goethes Wohnhaus am Frauenplan vermag die Gegenwart vergangener gelebter Lebenszeit dort vielleicht stärker noch aufzurufen als der Blick auf die vielen originalen Einrichtungsgegenstände. Das Geheimnis des Klangs historischer Orgeln beruht auch auf der subtilen Erosion des Pfeifenmaterials durch den Wind und den Staub, der die Jahrhunderte hindurch die Pfeifen abschliff.  Die vergehende oder vergangene Zeit prägt, mustert, prägt, färbt einen Klang. Die tausendjährige Linde von Königslutter oder die mächtigen Ivenacker Eichen knarren im Winde anders als ein junger Baum, und der Stimmklang eines alten Menschen verrät oft mehr von seinem Wesen als ein Porträt.

Wie erstaunlich herzerfrischend und jugendlich klingt etwa die Stimme der achtzigjährigen Selma Lagerlöf in einer Radioansprache aus den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts! Wie unterschiedlich berühren uns die Stimmen von Dirigenten wie Herbert von Karajan, eines Nikolaus Harnoncourt oder von Sängern wie Sting oder Mick Jagger …    

Die mathematische, linear-summarisch verlaufende Zeit „ohne einen Bezug zu irgendeinem äußeren Gegenstand“ (I. Newton)  wird zum Beispiel durch die Klangwelt der Vögel mit Qualitäten belebt, beseelt, welche jenseits des Berechenbaren und des allein rational und zweckhaft Erfassbaren liegen. Wenn wir  diesen gefiederten Wesen mit ihren Gesängen von Sehnsucht, Ankommen, Willkommen, Erfüllung und Abschied lauschen, schaffen wir uns im Hören Freiräume im scheinbar unausweichlichen, „gleichförmigen Verfließen“ der Zeit.

So könnte man vielleicht im übertragenen Sinne sagen: die Vögel mit ihren Gesängen sind Mitschöpfer der Zeit – der Tages-Zeit wie auch der Jahres-Zeiten, insofern, als nicht nur die Zeit bestimmte Klänge modifiziert und ermöglicht, sondern umgekehrt Klänge auch die Zeit beeinflussen, verändern. Und das gilt auch und erst recht für den menschlichen Gesang, ja im weitesten Sinne für alles menschlich-schöpferische Tun.

Goethe imaginierte – darin den Phytagoräern und Johannes Kepler zutiefst geistesverwandt – den Lauf der Sonne verbunden mit der Musik: „Die Sonne tönt nach alter Weise/ in Brudersphären Wettgesang/ und ihre vorgeschriebene Reise/ vollendet sie mit Donnergang…“. Aber die Musik, das „Tönen“ der Sonne und damit auch die Stimmung und der Klang der Jahreszeiten, die durch das Licht der Sonne hervorgerufen und verändert werden, die wechselnden Manifestationen der Farbklänge in der Natur und ihrer Klangfarben, sind kein diffuses, ungeordnetes Etwas.

Die Sonne selbst erscheint ja nach neueren Erkenntnissen als Manifestation von verschiedensten Schwingungen und Schwingungsebenen – einem gigantischen vielstimmigen Orchester vergleichbar, in dem sich Melodien, Rhythmen, Harmonien, Schwingungen zu einer geordneten Komposition vereinen. Goethes poetisch-philosophische Anschauung einer tönenden, schwingenden Sonne wird also durch diese Forschungen der Helioseismologie bestätigt.

Diese Wissenschaft, welche die  Sonnenaktivitäten erforscht, befasst sich mit diesen Schwingungen, um ein Bild des Sonneninneren zu bekommen. Demnach schwingt die Sonne wie eine Stimmgabel, deren Frequenz allerdings sehr niedrig ist. Die Ursache dieser Grundschwingung sind Überlagerungen von schätzungsweise 10 Millionen Schallwellen unterschiedlicher Frequenzen, die das Sonneninnere durchlaufen. Sie reflektieren nach dem Prinzip der Konvektion an der Sonnenoberfläche und laufen zurück ins Innere. Dabei entstehen auch Schallwellen, die den Sonnenkörper durchlaufen und ihn zum Schwingen bringen. Sonnenforscher sind  nun in der Lage, diese Schwingungen exakt zu messen. Berechnungen ermöglichen es, aus Tausenden von Grund- und Obertönen ein Modell des Sonneninneren zu veranschaulichen.     

Mit der Urpolarität von Licht und Finsternis, Tag und Nacht tritt ein erstes rhythmisches Element in die Welt der Erscheinung. Im weiteren Sinne gilt das für sehr viele Klänge und für die Musik. Der Zeit-Raum, in dem musikalische Klänge sich entfalten können, erfährt durch Rhythmus, Tempo, Harmonie, Klangfarbe und Melodik ungeahnte Gliederungen, Differenzierungen, Strukturierung und Lebendigkeit – ein anregendes Fluidum, welches aus der tödlichen Monotonie des immer Gleichen erlöst, wie etwa in Arbeitsprozessen, in denen der Einzelne oft nur ein funktionales Rädchen im Getriebe sein darf.

Dass Klang, Rhythmus und Gesang einen monotonen Zeit- und Handlungsverlauf verkürzt erleben lassen und eine schwere, langweilige Arbeit erträglicher und leichter machen, wussten und nutzten schon die rudernden Seefahrer der Antike auf den Galeeren, ebenso wie die Matrosen auf den Großseglern, die Knechte, die auf das Korn mit dem Dreschflegel rhythmisch-koordiniert eindroschen oder der Schmied, wenn er mit seinen rhythmisch-singenden, klingenden Hammerschlägen das glühende Eisen bearbeitete.

Im unschöpferischen Zustand monotoner Tätigkeit oder der Langeweile jedoch scheint die Zeit tödlich still zu stehen oder nur quälend langsam zu vergehen. Den Eingekerkerten vermag diese Art von Zeit sogar zu töten, oder er rettet sich in der Dunkelhaft durch Singen. „Ich habe laut gesungen“, sagte der in Syrien monatelang inhaftierte Journalist Armin Wertz in einem Interview.

Wo aber ein Wesen spielerisch-schöpferisch tätig ist – hörend, sprechend, singend, sehend, tastend, denkend und handelnd – da wird Zeit geradezu erschaffen! In diesem schöpferisch-tätigen Zustand, in der ausschließlichen, hingebungsvollen Präsenz innerer und äußerer Übereinstimmung mit sich selbst im HIER und JETZT, begibt sich der Mensch in einen Zustand, in dem er das Vergehen der Zeit nicht mehr empfindet.

Der spielende Mensch, der Musiker, ja jeder Künstler, der intensiv Sprechende, Malende, Fühlende und Lauschende vergisst die Zeit. Allenfalls resümiert er verwundert, wie schnell sie vergangen ist.  Im besten Fall erschafft der Mensch dabei etwas von zeitloser Dauer und Wirkung, das unter Umständen auch nach Hunderten von Jahren noch von schöpferischer Energie durchpulst ist und andere Menschen zur Resonanz veranlasst. Denn: Lieben und Liebe belebt. Das gilt auch für unser Wertvollstes – die Zeit.



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