Die Ruhe ist stärker als der Krach

Wenn Giora Feidman auf die Bühnen der Welt tritt, zieht er die Zuhörer durch sein virtuoses Klarinettenspiel in seinen Bann. Bei seiner Tour durch Deutschland spricht der agile 72-Jährige im Interview von der Stille in seinen Konzerten, von der Musik als menschlicher Notwendigkeit und wie es ist, vor 800.000 Menschen zu spielen.
Titelbild
(Matthias Kehrein/ETD)
Epoch Times2. Oktober 2008

ETD: Sie wurden in Buenos Aires geboren und leben jetzt in Israel.

Giora Feidman:
Ja, seit 51 Jahren lebe ich in Israel.

ETD:
Sie reisen viel…

Feidman:
Die meiste Zeit des Jahres bin ich in Deutschland. Nächste Woche spiele ich in Wien und dann in Jerusalem – ich bin dauernd in Bewegung, das ist normal.

ETD:
Sie kommen in viele Länder. Wo fühlen Sie sich zu Hause? In Israel?

Feidman: Auf dem Planeten.

ETD: Was mögen Sie an Deutschland? Welche Beziehungen haben Sie zu Deutschland?

Feidman: In anderen Ländern bin ich ein Gast. Sie behandeln mich als Gast, so wie man eben einen Gast behandelt. In Deutschland bin ich zu Hause. Und einer der Gründe, warum ich hier bin, ist der, dass ich Jude bin, und wir leben auf eine normale Weise zusammen, die Deutschen und die Juden.

Die Realität des Lebens ist: Wir sind geboren worden, um zusammen zu leben und nicht, um gegeneinander zu kämpfen. Und das ist in Deutschland heute so. Ich gehe ganz normal durch die Straßen, nicht als Opfer, sondern als normales menschliches Wesen. Und das ist wirklich etwas für mich, es ist ein gewaltiger Magnet, dieses Gefühl zu bekommen, hier in Deutschland. Ja, ich warte darauf, zurück nach Hause, nach Israel zu fahren. Und diese Generation hat das Privileg, zurück nach Hause, zum Judentum, zu gehen.

Stille, um sich selbst zu finden

ETD: Sie sind gestern mit Ihrem Trio in Bonn aufgetreten, wie war das?

...mit seinem Trio, Jens-Uwe Popp an der Gitarre und Guido Jäger am Kontrabass. (Matthias Kehrein/ETD)
…mit seinem Trio, Jens-Uwe Popp an der Gitarre und Guido Jäger am Kontrabass. (Matthias Kehrein/ETD)

Feidman: Es fand in einem großen, offenen Zelt statt, also in keiner Konzerthalle. Man hörte einen Zug, da waren Autos, aber da war auch eine gewaltige Ruhe, ein gewaltiges Schweigen, in all dem. Es ist sehr interessant, dass man an einem Ort mit so viel Krach sein kann, aber die Zeit berühren kann. Die Stille war stärker, ich kenne diese Erfahrung, weil ich dort schon oft gespielt habe.

Man kann sich auch an einem lauten Ort der Stille nähern. Das ist meine Erfahrung von Anfang an. Als ich in das Zelt hineinging: Ruhe. Du spürst die Ruhe – da war Krach. Die Ruhe ist stärker als der Krach. Das ist nicht nur eine Behauptung, gestern gab es dieses Erlebnis. Die Zuhörer haben dieses Erlebnis auch, sie wissen es nur nicht.

Stille ist die Hauptsache, das Hauptelement, um sich selbst zu finden. Im Außen wird man sich nicht finden. Wenn man sagt, sich selbst finden, was findet man? Man findet seine Seele, du triffst die Seele.

ETD: Also fanden sich die Zuhörer gestern selbst?

Feidman: Sie fanden sich selbst. Stille – man benötigt Stille, um auf sich selbst zu treffen. Wenn du selbst nicht schreist, dann triffst du auf dich selbst.

Man kann die Menschen technisch zum Stillsein bringen, sie reden nicht mehr, doch die Ruhe, die Energie, die als Ruhe bezeichnet wird, war dort, war dort zu der Zeit. Das ist im Wesentlichen, was das Konzert war.

Singen und Tanzen – eine Notwendigkeit

ETD: Haben sie ein Ziel beim Musizieren?

Feidman:
Oh, nein, nein.

ETD:
Was ist es dann?

Feidman: Singen, Tanzen, das sind natürliche Kräfte. Du – tanzend und singend, das ist eine Notwendigkeit. Das ist wie essen und Wasser trinken, du möchtest schlafen und du musst singen. Die neugeborenen Babys sagen zu ihren Müttern: Du möchtest dich mit mir verständigen? Ich kenne nur eine Sprache: Sing zu mir. Und es gibt auf diesem ganzen Planeten keine einzige Mutter, die nicht für ihr Baby singt. Warum nehmen sie keine elektrischen Gitarren, um für das Baby zu singen?

Und wenn das Baby deine rechte und linke Hand nimmt, musst du tanzen und wenn das Baby im Bett seine Arme und Beine bewegt, dann denkt die Mutter: Dieses Baby wird einmal ein Fußballspieler, er tanzt. Tanzen oder Singen ist eine Notwendigkeit. Besonders in der westlichen Gesellschaft gibt es keine Resonanz für diese natürlichen Kräfte. Wenn man nach Tibet, nach China oder Indien geht, gibt es viel mehr Menschen, denen dies bewusst ist. Im Westen konzentrieren sich die Menschen auf das allgemeine Leben, auf das, was sie praktisches Leben nennen, um komfortabel zu leben.

Giora Feidman sucht die Nähe zu seinem Publikum. (Matthias Kehrein/ETD)
Giora Feidman sucht die Nähe zu seinem Publikum. (Matthias Kehrein/ETD)

ETD: Welche Aufgabe haben Sie dabei als Musiker?

Feidman: Die Künstler verteilen spirituelle Nahrung. Ich bin nichts Besonderes. Die Menschen, die menschliche Gesellschaft bezeichnet uns als großen Maler oder Musiker, wir aber dienen so wie der Kellner in einem Restaurant, wir dienen mit spiritueller Nahrung.

Jeder Auftritt, überall, wo man spielt, das ist ganz egal wo, auf den Straßen, in einer Konzerthalle oder bei einer Beerdigung, man dient der Gesellschaft. Man hat ein Instrument in der Hand und gibt sein Bestes. So war auch mein Vater.

Musik aus einer anderen Dimension

ETD: Das merkte man auch bei Ihrem Konzert. Viele sind von der Eindringlichkeit Ihrer Musik fasziniert.

Feidman:
Abend für Abend wird mir bewusst, dass da ein Treffen in anderen Räumen stattfindet. Weil die Musik an sich Kunst ist, wir bezeichnen sie als Kunst, und wir wissen, dass alle Arten der Kunst nicht von dieser Dimension stammen.

Jedes Mal, wenn dein Projekt auf einen Ton trifft, in diesem Falle Musik, aber auch, wenn Tanz, Malerei oder Bildhauerei eingebracht werden, dann teilt man die Botschaft, die man erhält – man teilt sie anderen mit, doch sie ist nicht von hier. Sehr einfach, manchmal. Man kann sagen, dass die Kunst nicht aus diesem Raum ist, wir sind ein Kanal, um die Botschaft aus einer anderen Dimension hierher zu bringen.

Die Kunst, wie sie üblicherweise verstanden wird, ist eine miserable Lösung, gewonnen aus der Illusion des Lebens, wenn man die natürlichen Kräfte des Lebens nicht respektiert. Was die Menschheit nicht versteht, ist, dass die Kunst nicht durch das Gehirn fließen sollte. Denn das Gehirn produziert überhaupt nichts, bei der Musik muss nichts durch das Gehirn fließen.

ETD: Sie spielen also einfach?

Feidman:
Als ich zum ersten Mal bei meiner Mutter zu Hause dem Musizieren zuhörte, und mein Vater mir die Klarinette gab, dachte ich, es sei ein Spielzeug, und es ist ein Spielzeug bis heute. Ich spiele damit, sie ist so wunderschön. Viele Menschen kommen nach der Vorstellung zu mir herauf, sie kommen und sagen: Wissen Sie, ich spielte früher Klarinette, aber als ich Sie hörte, habe ich wieder mit der Klarinette angefangen, weil es so einfach aussieht. Es sieht einfach aus und es ist einfach. In unserer Gesellschaft heißt das Schlüsselwort „Bildung“. Das ist falsch.

Giora Feidman ein Mensch, der durch seine Musik bekannt wurde. (Matthias Kehrein/ETD)Giora Feidman ein Mensch, der durch seine Musik bekannt wurde. (Matthias Kehrein/ETD)

ETD: Es ist also für jeden Menschen möglich, das zu entdecken?

Feidman:
Jeder, jeder – du gehst, du sprichst, du singst, du tanzt – jeder Mensch. Bis heute sind die Universitäten so: Es ist teuer, es ist das Beste, aber es ist nicht wirklich. Ich sage nicht, dass man nicht Musik studieren soll. Doch zuvor braucht man die wirkliche Schule, den wirklichen Lehrer, denjenigen, der dich mit der höheren Macht, die du hast, verbindet!

ETD: Sie sind jetzt 72.

Feidman: Es spielt keine Rolle, vergessen Sie das Alter. Die Menschen sagen: Sie haben so viel Energie und sind schon 72 Jahre alt. Ich weiß nicht, was 72 Jahre bedeutet, wenn ich nicht weiß, was viel Energie bedeutet. Ich weiß, dass ich diese Energie habe und sie nutzen muss, um das zu tun, und ich nutze sie! Immer wieder kommt dieses Thema, dass in Kunst Energie ist.

Vor einem Zuschauer zu spielen oder vor 800.000 ist egal

ETD: Sie haben beim Weltjugendtag 2005 in Köln vor 800.000 Menschen und dem Papst gespielt, was war das für eine Erfahrung?

Feidman: (lacht laut) Tut mir leid, aber diese Frage kenne ich. Ja, es war ein großer Augenblick. Ich war alleine dort und zwei Kilometer von den hintersten Lautsprechern entfernt. Und der Mann von der Lautsprecher-Gesellschaft kam, nachdem ich gespielt hatte, und sagte, dass ganz hinten der Klang sehr gut war. Zwei Kilometer! (lacht laut)

Ja, es war natürlich eine Erfahrung. Die meiste Zeit fühlte ich eine Leitung, eine Leitung in meinem Kopf, keine Frage, ich war es nicht, der spielte, es war eine andere Energie. Es macht keinen Unterschied, ob da ein Mensch oder 800.000 Menschen sind, wenn man mit der Seele gespielt hat, ist es der Seele egal.

ETD: Wie ist es, vor wenigen zu spielen?

Feidman: Einmal nahm mich das Deutsche Fernsehen nach New York und stellte mich in die 5th Avenue und dann sagten sie, dass ich auf der Straße spielen sollte, großartige Sache! Wenn ich Angst habe, dann fange ich an zu spielen. Niemand stoppte mich, niemand stoppte.

Ich spielte und spielte und ich schaffte es, die Menschen anzusprechen. Es war großartig, die Menschen brauchten mich und dann wollten alle nicht gehen! Und ich entspannte mich, wartete eine Minute. Das ist Teilen! Hier muss man wirklich sein. Im Gegensatz dazu: in der Konzerthalle fängt man nicht an, bis die Zuhörer ruhig sind. Hier, wenn man anfängt, dann sind die Menschen ruhig.

Ich hatte das Privileg, im Alter von zwanzig Jahren beim Israel Philharmonic Orchestra zu spielen. Bis heute spiele ich Kammermusik, ich sage, das ist leicht! Das Spielen auf der Straße, die Menschen auf der Straße dazu zu bringen, dass sie dir zuhören, das ist etwas Anderes. Und ich bekam sogar Geld, sie gaben mir Dollars. Sehr interessant, an diesem Abend hatte ich ein Konzert und war verwirrt. Ich sagte zu mir: beeindruckend, das ist so einfach! (lacht). Da ist Ruhe, und ich fange an zu spielen. Sehen Sie, die Künstler auf der Straße, die Straßenmusiker, Musiker zweiter Klasse? Nein.

ETD:
Wenn man sie so sprechen hört – spielt es eine Rolle, ob man Mozart spielt oder etwas Anderes?

Feidman: Nein, ich werde Ihnen ein Beispiel geben. Wissen Sie, im Krieg in Israel spielte ich aus Mitleid in einem Krankenhaus. Die Piccoloflöte in einem Krankenhaus spielen, in einem Raum, wo normalerweise zehn Kranke sind, da waren jetzt 30 verwundete Soldaten. Vor einer Stunde war da ein terroristischer Anschlag und die Verwundeten sind nun dort. Und ich gehe von einem Soldaten zum anderen, zu einem Araber, einem jungen Mann und ich kann kein Arabisch.

Und die Schwester fragt ihn, was er sich wünscht, was ich für ihn spielen solle. Er sagte etwas wie: „Das, was sie für diesen Mann gespielt haben.“ „Was, das mögen Sie?“ – „Ja.“ Ich spielte Mozart für diesen Burschen. „Sie mögen das?“ „Ja! Es ist ein schönes Lied.“ Was für eine große Lektion ich durch ihn bekam. Für ihn war dies ein Lied, es ist wahr! Es war nicht Mozart, es war nicht Klassik, es war ein Lied! Ich würde diesen Mann gerne wieder treffen, das war im Sechstagekrieg vor 40 Jahren.

ETD: Herr Feidman, herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Matthias Kehrein

Text erschienen in The Epoch Times Deutschland Nr. 40/08

Tourdaten: www.giorafeidman-online.com

(Matthias Kehrein/ETD)
(Matthias Kehrein/ETD)


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