Geheimnisvolle „Frau mit der Waage“

Dank König Max I. Joseph von Bayern besaß München einst einen echten Vermeer. Für eine Sonderaustellung kehrt er in die Alte Pinakothek zurück.
Titelbild
Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Alten Pinakothek München
Von 15. April 2011

Der erste bayerische König, Max I. Joseph (1756-1825) war ein Kunstfreund. Vor allem sammelte er niederländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts. Nach seinem Tod wurden Teile seiner Sammlung vom Staat erworben. Ärgerlich: Unter den Bildern, die damals  unterschätzt und versteigert wurden, befand sich Vermeers „Frau mit der Waage“. Im 17. Jahrhundert hielt sie ein Besitzer schon für so kostbar, dass er sie in einer Schutzschatulle aufbewahrte.

Heute zählt das Bild zu den berühmtesten der nur 36 erhaltenen Vermeers und gelangte 1942 in die National Gallery of Art in Washington. Zusammen mit 23 Gemälden aus Max Josephs Sammlung ist sie unter dem Titel „Vermeer in München“ noch bis zum 19. Juni 2011 in der Alten Pinakothek zu sehen.

Im Augenblick der Entscheidung

Vermeer war ein großer Moralist: In seinen Bildern warnte er offen vor verführerischen Liebesbriefen, Alkohol oder Eitelkeit. Mit einfachsten Mitteln und lebhaften Gesichtsausdrücken konnte er die Absichten seiner Mitmenschen schildern. Seine grazilen Frauenfiguren bezaubern oft durch rosenwangige Gesichter. Umso merkwürdiger erscheint das unbewegt weiße Gesicht der „Frau mit der Waage“.

Dunkelblau, grau und beige dominieren das Bild. Geschlossene Fensterläden sorgen für die düstere Atmosphäre. Hat diese Frau etwas zu verbergen? Auf anderen Vermeers sind die Fenster meist offen.

Die Anordnung ist klassisch: Die Figur steht vor einem Tisch, dem Fenster gegenüber.

Vor ihr liegen Münzen und ein Schmuckkästchen mit Gold- und Perlenketten in sehr kalten Farben. Sie hält eine leere Waage in der Hand.

Man fragt sich, ob das Wiegen etwas mit ihrem Beruf zu tun hat, doch Frauen waren damals entweder Damen oder Dienstmägde. Sie ist eindeutig bessergestellt, erkennbar am Pelzbesatz ihrer Kleidung. Im Ausstellungskatalog nicht erwähnt, aber an ihrem dicken Bauch offensichtlich: Sie ist schwanger.

Geld oder Baby?

Vermeer arbeitete gerne mit reinen Pigmenten, hier lässt er unter der Jacke, um die Wölbung ihres Bauches zu betonen, einen Streifen Orange hervorblitzen. Am Original fällt auf, dass dieses gelbliche Orange, der strahlendste Farbton des Bildes, besonders dick aufgetragen wurde. Also ging es dem Maler ganz sicher um entstehendes Leben.

Die Waagschalen schweben genau zwischen der Schatulle und ihrem Bauch, als ob sie sich zwischen Geld oder Kind entscheiden muss. Sie trägt keinen Ehering,  ist also unehelich schwanger. Nicht auszudenken, was ihr zu Vermeers Zeiten passieren konnte, wenn sie das Kind bekam – womöglich wurde sie von ihrer Familie verstoßen.

Alle Indizien zusammen ergeben, dass diese Frau darüber nachdenkt,  ihr Kind abzutreiben. Sie wägt das Leben des Kindes gegen den Verlust ihrer materiellen Sicherheit ab. Also spielt sich hinter ihrer resignierten Miene, die Kunsthistoriker gerne als „über irdischen Reichtum erhaben“ deuteten, ein ganz und gar gegenteiliges Drama ab.

Düstere Aussichten

Vermeer macht die schauderhafte Unumkehrbarkeit einer Entscheidung über Leben und Tod sichtbar: Er umrahmt ihr Gesicht mit einem Gemälde des Jüngsten Gerichts. Das Schwarz des Bilderrahmens gibt als einziges reines Schwarz dem Motiv seine Endgültigkeit. Der Rahmen dieses Gemäldes ist mit einem doppelten Goldrand verziert.  Auf der Seite der Lebenden ist er verschattet und fast unsichtbar, also spielt das Gold für „die Guten“ eine untergeordnete Rolle. Doch auf der Seite der Toten fällt das Gold stark reflektierend ins Auge.

Direkt über dem Kopf der Frau schwebt Jesus als Weltenrichter. Mit erhobenen Armen scheint er ihr ein „Tu´s nicht!“ zuzurufen. So warnt der Maler, dass sie mit ihrer Entscheidung möglicherweise über ihr eigenes Leben oder Sterben entscheiden wird.

Neben Vermeers Ausnahmebild und einigen sehenswerten Landschaften und Seefahrerszenen, zeigt die Ausstellung noch das Bild einer Mutter bei der Näharbeit mit Kind in der Wiege (Pieter Cornelisz van Slingelandt, ca.1670). Zumindest aus Münchner Sicht hat sich die „Frau mit der Waage“ richtig entschieden.

 

Zur Ausstellung:

„Vermeer in München. König Max I. Joseph von Bayern als Sammler Alter Meister“

noch bis zum 19.06.2011 in der Alten Pinakothek

www.pinakothek.de

Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Alten Pinakothek München

 



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