Jamliner – Musik von der Straße

Mit Zwei-Finger-Akkorden zur sozialen Kompetenz
Titelbild
Ein ehemaliger Linienbus, innen schallisoliert und zum mobilen Bandproberaum mit professioneller Tonstudiotechnik umgestaltet. Der Jamliner wurde 2003 mit der "Goldenen Göre" des Deutschen Kinderhilfswerks ausgezeichnet. (alle Fotos: Heike Soleinsky)
Von 26. Juni 2007

Eins – zwei – eins, zwei, drei, vier.“ Vorschule? Nein, Jamliner – das ist ein ehemaliger Linien-Bus, zu einem Tonstudio und Bandprobenraum umgebaut. Thomas Himmel zählt Severena am Keyboard den Takt vor.

Der mit Spenden finanzierte Bus der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg fährt an fünf Tagen fünf Standorte in sozialen Brennpunkten an: am Osdorfer Born, in St. Pauli, Wilhelmsburg, Steilshoop und Jenfeld. „Da macht unsere Arbeit am meisten Sinn, dort gibt es keine vergleichbaren Angebote“, meint Himmel.

„Was bewegt dich?“

Jugendliche ab zwölf Jahren bilden in Fünfer-Gruppen eine Band und spielen ein halbes Jahr lang einmal die Woche eine Stunde zusammen ein eigenes Musikstück ein. Die Betonung liegt auf: eigene Stücke. Die Kids können anfangs erzählen, was sie gern hören und sich von den Stars inspirieren lassen, doch dann geht man im Bus über zu der Frage: Worüber könntest du singen, was bewegt dich? „Meine Straße, meine Welt. Viel Hormone, wenig Geld“ ist eine Refrain einer Jamliner-Band. Thomas Himmel und Jörg-Martin Wagner, Musiker und Lehrkräfte der Jugendmusikschule, leiten die Kids an, helfen Ideen zu entwickeln und zeigen, wie man die Instrumente spielt.

Computer, Bass, Keyboard, Gitarren und Schlagzeug

Die Gruppen, die vormittags spielen, werden für diese Stunde im Bus vom Schulunterricht freigestellt. Wagner sitzt mit der Sängerin Frieda im hinteren Teil des Busses vor dem Computer und hilft ihr, den angefangenen Text zu vollenden. „Hier ist der Anfang. A-Moll, e-Moll. Kann man auch nur e-Moll nehmen. Wir können ja mal versuchen, den B-Teil mit F zu singen“, schlägt Wagner Frieda vor. Sie singen zusammen das, was sie schon haben – Wagner spielt dabei an der Gitarre die Melodie, die die junge Band bei den letzten Proben komponiert hat – und tippen neue Strophen ein.

Thomas Himmel übt mit Severena und Fabiane im vorderen Raum des Busses, wo die Instrumente stehen: Mikrofone hängen an so genannten flexiblen Schwanenhälsen von der Decke und können zu sich herangezogen werden. Hinten rechts steht das Schlagzeug, links das Keyboard. Davor können sich Gitarrist, Bassist und Sänger aufstellen.

Verbal ist alles erlaubt

„In diesem kleinen Raum, fünf Jugendliche und zwei Dozenten, Schulter an Schulter, findet unheimlich komprimierte Arbeit statt. Die Auseinandersetzung ist immer intensiv“, betont Himmel. Im Bus ist bei aller Kreativität absolute Disziplin angesagt – für viel Überflüssiges ist keine Zeit. Die Jugendlichen dürfen sich im Bus auch gegenseitig nicht anfassen, denn gerade Jungs würden bei Konflikten ja häufig gleich in die Drohgebärde gehen oder gar schlagen. „Das geht natürlich nicht, wenn jemand eine Gitarre in der Hand hat oder gerade am Computer steht“, sagt Wagner, „schon allein, damit die Dinge nicht kaputt gehen, verbieten wir das. Aber es ist natürlich auch wichtig zu lernen, Frust und Aggressionen auf die verbale Ebene zu bringen um an Lösungsmöglichkeiten heranzukommen.“ Frechheiten könne man im Jamliner zum Beispiel auch rappen (Rap = Sprechgesang), da sei alles erlaubt.

Himmel sagt: „Die Gruppe ist ja auch eine soziale Gruppe, wo Reibereien und Differenzen eine Rolle spielen. Unser Ziel ist jedoch nicht, eine Gleichheit herzustellen, sondern dass jeder individuell seiner Rolle gerecht auch seine Aufgabe in der Band bekommt.“ Die mit der „großen Klappe“ können also Bandleader werden, müssen diese Aufgabe dann aber auch erfüllen. „Es gibt ja welche, die möchten am liebsten alles spielen – das geht aber nicht, man muss sich entscheiden: Wo ist meine Rolle? Und dann müssen sie auch aushalten, dass die anderen Rollen von anderen besetzt werden“, führt Wagner fort.

Gruppenarbeit, statt einsam „Beats bauen“

Manche Kinder finden die Instrumente im Bus auch altmodisch und würden lieber nur am Rechner „Beats bauen“, das bedeutet für sie „Musik machen“. Doch „mit fünf Laptops können wir nicht arbeiten“, sagt Wagner, „Jeder, der am Laptop sitzt, ist sein eigenes Universum, das ist keine Gruppenarbeit.“

Ganz spannend finden es die Jugendlichen zu erleben, wie Musik produziert wird – wenn im Jamliner auf die Stimme ein Kompressor oder ein Hall mit hinein kommt und dadurch der Abstand der eigenen Musik zu der im Radio immer kleiner wird. Als Thomas Himmel in dem Alter war, wollten viele Jugendliche E-Gitarrist in einer Band werden, erzählt er, heute seien die Musik-Produzenten ganz wichtig, denn das wären die „coolen Typen“, die durch die Medien gehen, eine „Menge Kohle machen“ und Ferrari fahren.

„Jetzt blamieren wir uns mal“

Überhaupt sei die Coolness-Messlatte in der Pubertät ziemlich hoch, findet Wagner. Wegen des Leistungsdrucks, vor den anderen „scoren“ (Punkte machen) zu müssen und der Angst gehänselt zu werden, haben die Kids auch Scham, zum Beispiel mit der eigenen Stimme ein eigenes Thema zu singen. „Man entblößt sich ja auch auf eine gewisse Art“, versteht Himmel. „Jetzt blamieren wir uns mal alle“, laden die Musiker die jungen Menschen dann ein, um den Druck loszuwerden und tun es auch selbst, indem sie singen, obwohl sie selbst keine guten Sänger sind und Instrumente spielen, die sich nicht so gut beherrschen, und zeigen den Kids, dass man über eigene Pannen lachen kann. Wagner ergänzt: „Oder sie machen im Jamliner einen Fehler – aber man stellt fest: das klingt irgendwie klasse! Es gibt viele Dinge, die bei uns anders laufen als im konventionellen Schulunterricht.“

Dran bleiben und zusammen etwas Eigenes schaffen

Letztendlich läuft die eine Stunde pro Woche auf eine Veröffentlichung des Stücks auf CD heraus. Wenn das halbe Jahr im Jamliner für die Band zu Ende ist, gehen sie also nicht mit leeren Händen aus dem Bus, sondern jeder mit einer CD. Sie haben etwas Eigenes geschaffen, indem sie gemeinsam ein Ziel verfolgt haben und an dieser Sache dran blieben. Himmel: „Ich mache diese Arbeit, weil ich fest daran glaube, dass jemand, der das und die Wertschätzung für seine eigenen Ideen und Fähigkeiten erlebt hat, sich im Leben immer wieder daran erinnert und an soziale Ideen und Gemeinschaft glaubt.“

Manche Jugendliche erzählten, dass sie die CD aus dem Jamliner noch jahrelang hören. Es kam auch einmal vor, dass eine Band auf einem Stadtfest ihren Song vorführen wollte und dann kamen noch acht andere Jugendliche dazu, die sie vorher nicht kannten, aber diese kannten jedes Wort ihres Stücks, weil es da ein kleiner Hit geworden war.

 

 



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