Jedes Foto ein Unikat: Künstlerteam macht mit Balgenkamera von 1907 beeindruckende Aufnahmen

Aus dutzenden oder gar hunderten Fotos das richtige Motiv aussuchen – das ist der Alltag eines Fotografen. Wie wäre es aber, wenn an einem Tag nur ein Foto möglich wäre? Und nur dann, wenn das eine Foto gelingt?
Titelbild
Barbara Holzknecht (l.) und Kurt Moser mit ihrem „Baby“, einer Multilith Camera der Multigraph Corporation aus Ohio, USA. Die Balgenkamera von 1907 hat ein Plattenformat von 50 mal 60 Zentimeter.Foto: Peter Schiering
Von 19. Juli 2023

„Sie sagt immer, die Kamera hat mich gefunden und nicht umgekehrt“, erzählt der Fotograf Kurt Moser und meint damit seine Projektpartnerin Barbara Holzknecht. „Dieses Projekt ist mehr als Arbeit und es ist mehr als ein Projekt. Es ist ein Lebensstil für uns.“

Der Südtiroler fand seine Ambrotypie-Kamera – ein klobiges Ungetüm aus dem Jahr 1907, das ihn überragt – bei dem Besuch einer Studioauflösung in Mailand. Auf der Suche nach alten Messingobjektiven war er zu einem Kaffee eingeladen worden, fand jedoch nichts. Auf dem Weg nach draußen entdeckte er die „riesige, schöne Holzkamera“ des US-amerikanischen Herstellers Multigraph Corporation aus Ohio unter einer staubigen Decke. Er fand sie einfach wunderschön, kaufte sie auf der Stelle und nahm sie mit nach Hause.

„Es war eine Entscheidung des Herzens“, sagte der 57-jährige Moser der Epoch Times. „Ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich mit dieser Kamera anstellen sollte.“

Eine Berglandschaft mit Ambrotypie-Technik. Foto: Lightcatcher

Die Zeit spielt für sie eine andere Rolle

Kurt Moser ist in den Bergen Norditaliens aufgewachsen und hat drei Jahrzehnte lang als Kameramann/DOP für ARD, ARTE, das Schweizer Fernsehen und weitere Sender in den Bereichen Berichterstattung und Dokumentarfilme gearbeitet. Für das ZDF produzierte er Beiträge für die Dokusparte „Terra X“. Holzknecht arbeitete als Producerin und führte für mehrere Jahre auch eine Produktionsfirma in Bozen. Beide kennen sich seit vielen Jahren. Jetzt ist Moser froh, dass sie sich für das Projekt zusammengetan haben. „Allein würde das nicht funktionieren. Ich bin der Kreative, Barbara macht die gesamte Organisation, und die Fotos machen wir gemeinsam“, erklärt er.

Im Vergleich zur Welt der Digitalkameras spielt die Zeit bei der Ambrotypie eine völlig andere Rolle. Es dauert einen ganzen Tag, um eine einzige Nassplatte auf Glas herzustellen – jenes schwere, schwarze Glas im Format von bis zu 35 mal 35 Zoll (90 mal 90 Zentimeter), das aus Böhmen bezogen wird. Im Gegensatz zum Analogfilm entstehen bei der Ambrotypie keine Negative, von denen Abzüge hergestellt werden können, sondern einzigartige Direktpositive. Erstaunlicherweise „sieht“ eine solche Platte ultraviolette Lichtwellen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind, wodurch einzigartige Ergebnisse entstehen.

Das Duo hatte auch schon einen Plan, wie sie die neue alte Technik einsetzen würden: Sie wollten einen Lieferwagen zu einer mobilen Dunkelkammer für Ambrotypien umbauen, damit in die zerklüfteten Landschaften der italienischen Dolomiten fahren und Landschaftsaufnahmen machen. Sie hatten auch vor, dort die eigentümlichen Einheimischen zu fotografieren, die ihr ganzes Leben in den Bergen verbringen, ohne jemals eine Stadt gesehen oder ein Smartphone benutzt zu haben. Aber zuerst mussten sie lernen, mit dem Verfahren umzugehen.

Eine Ambrotypie der Dolomiten im Format 28 × 35 Zoll (72 × 89 Zentimeter). Foto: Lightcatcher

Ein Verfahren, das keine Fehler duldet

Um die Ambrotypie zu beherrschen, musste Moser seine Chemiekenntnisse auffrischen. Das Verfahren ist aufwendig: Jede Platte muss mit einer Äther-Alkohol-Emulsion überzogen werden, die verschiedene Salze enthält, bevor sie in eine Lösung aus Silbernitratkristallen und destilliertem Wasser getaucht wird. Dadurch wird die Platte lichtempfindlich. Die Geschwindigkeit ist entscheidend, denn wenn die Platte antrocknet, ist sie unbrauchbar. Dann wird sie in ein Magazin geladen und sofort belichtet. Der Motivaufbau – Modell, Komposition und Beleuchtung – muss lange vor dem entscheidenden Moment stehen.

Die Tatsache, dass es keine Möglichkeit gibt, die Belichtung zu messen, macht die Angelegenheit schwierig. Das Erstellen mehrerer Probeaufnahmen hilft beim Abschätzen. Normalerweise genügen zehn bis 20 Sekunden Belichtungszeit. Wenn aber die Lichtverhältnisse ständig schwanken, ist ein gelungenes Ergebnis nicht sicher. Darüber hinaus kann schon eine Temperaturänderung von einem Grad eine Aufnahme ruinieren. Daher sind keine „zwei Bilder identisch“, so Moser. „Es ist ein Unikat, das man nicht noch einmal machen kann.“

Die Lernkurve war steil, die Kosten erschreckend. Es gab zahlreiche Pannen; manchmal dauerte es Tage, ein Motiv zu produzieren. Jetzt, nach fast acht Jahren, haben beide den Prozess im Griff. Dennoch haben sie immer wieder neue Erkenntnisse. Moser: „Man lernt immer etwas Neues und schreibt es auf, dann hat man es im Kopf für das nächste Mal.“

Porträt von Verena. Foto: Lightcatcher

Meister des Lichteinfangs

Die Ambrotypien der „Lightcatcher“, wie sie sich nennen, blicken auf eine Weise in die Seelen ihrer Motive, wie es moderne Kameras nicht können. Im Gegensatz zu Smartphone-, Digital- oder Analogkameras, die Aufnahmen in Sekundenbruchteilen erstellen, müssen ihre Motive lange stillhalten. „Man kann ein Lächeln nicht 20 Sekunden lang halten. Das sähe völlig dämlich aus“, sagt Moser. Ambrotypien zwingen einen dazu, innezuhalten und präsent zu sein. „Man versucht nicht, irgendwelche eigenartigen Posen einzunehmen, wie man es normalerweise für ein Selfie tun würde. So kommt etwas sehr, sehr Aufrichtiges zum Vorschein.“ Manche sagen, seine Porträts sähen alle so ernst aus. Das ist der Grund.

Bei Fotoshootings im Studio verbringen die Porträtierten dort mehrere Stunden. Bei leiser Jazzmusik sind sie sich selbst überlassen und werden gebeten, ihre Handys beiseitezulegen. Die meisten Stadtbewohner fühlen sich nicht wohl, in der Gegenwart zu leben, so ganz ohne moderne Technik, erklärt Moser. So sucht die Ambrotypie allein schon durch das Verfahren nach dem Menschlichen hinter der Fassade.

Porträt des 93-jährigen Bergbewohners Much. Foto: Lightcatcher

„Ihre Bilder lügen nicht“

Die Bergbewohner der Dolomiten hingegen haben keine Probleme mit der Zeit. Moser und Holzknecht fotografierten den 93-jährigen Much, der sein ganzes Leben in den Bergen verbracht hat. Much blickt auf das fertige Porträt. „Wissen Sie was?“, sagt er zu Moser. „Ihre Bilder lügen nicht.“

„Das war etwas ganz Besonderes für mich“, meint der Fotograf. „Er hat den Kerngedanken dieser Fotografie vollkommen verstanden. Er war ein Bergbauer, kein Philosoph, kein Schriftsteller.“

In dieser Porträtserie zeigt die Ambrotypie erneut ihre inspirierende Unzulänglichkeit. Aufgrund der geringen Schärfentiefe und der schwachen Kontrolle über die Schärfe erscheinen die Augen klar und deutlich, während die Ohren, das Haar und der Hintergrund verschwommen sind und einen typischen 3D-Effekt erzeugen. Das unsichtbare Ultraviolett lässt Oberflächen unwirklich erscheinen.

Die Ambrotypien sind echte Sonderlinge und geben den Fotografen eine gewisse Bodenhaftung – vor allem im Zeitalter der digitalen Übersättigung und der Künstlichen Intelligenz. „Wenn man sich ein Porträt ansieht, das man damit erstellt hat, kann man einen kurzen Blick in die Seele der Menschen erhaschen“, sagt Moser. „Das ist etwas, was KI meiner Meinung nach nicht kann.“

Trotz der gewonnenen Erfahrungen ist die Arbeit in der mobilen Dunkelkammer in den klirrend kalten Bergen nicht einfacher geworden. Der Prozess ist immer noch gnadenlos. Moser hat Aufträge, bei denen an einem Tag 5.000 Aufnahmen erstellt werden, hinter sich gelassen. Warum die beiden aber um vier Uhr morgens für eine einzige Aufnahme, die vielleicht nicht gelingt, aufstehen und in die Berge fahren? Es braucht „wirklich eine Menge Leidenschaft“, sind sie überzeugt.

Ambrotypie einer etruskischen Zierscheibe. Das Original mit einem Durchmesser von 4,5 Zentimetern und das Foto mit einem Durchmesser von 90 Zentimetern sind im Schmuckmuseum Pforzheim zu sehen. Foto: Schmuckmuseum Pforzheim

Video von der Herstellung der Ambrotypie einer etruskischen Zierscheibe. Lightcatcher/Schmuckmuseum Pforzheim



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