Kein Wort, nirgends – Poesie an deutschen Universitäten

Epoch Times19. März 2013

Kinder lieben Gedichte. Sie reimen gern, sie klatschen beim Sprechen rhythmisch im Takt, und die Gedichtform hilft ihnen dabei, sich bestimmte Inhalte zu merken. Aber offensichtlich gelingt es an den Schulen nicht, die Heranwachsenden vom Gereimten zum „Verdichteten“ zu führen. Zu einer gehaltvollen Poesie. Denn wenn dieselben Menschen mit der Schule fertig sind und zu studieren beginnen, ist die Liebe zu Gedichten oft schon erkaltet. An deutschen Universitäten fristet die Lyrik eher ein Schattendasein. Und für zeitgenössische Dichtung ist erst recht kaum Raum. Die Literaturwerkstatt Berlin setzt sich ein, der Lyrik in der Gesellschaft wieder einen breiteren Platz einzuräumen – auch in Forschung und Lehre. Der Autor und Journalist Florian Werner hat sich umgehört.

„Sitzt man vor diesen jungen Erwachsenen im Einführungskurs und unterrichtet Lyrik“, erzählt Heinz Drügh, Professor für Germanistik an der Universität Frankfurt am Main, „dann steht gut Zweidrittel der Studierenden das komplette Unverständnis ins Gesicht geschrieben. Aus meiner Sicht schaffen es die gegenwärtigen Gymnasiallehrer nicht, den Kindern klarzumachen, dass Lyrik in gewisser Hinsicht die schönste, spielerischste Form literarischer Sprache ist.“ Winfried Menninghaus, Professor für Literaturwissenschaften an der Freien Universität Berlin und ein erklärter „Lyrikfreak“, hat ähnliche Erfahrungen gemacht: So seien Studierende oft nicht in der Lage, Gedichte im Seminar überzeugend vorzutragen. „Für die Feinheit der Überlieferung, des Hörens und Lesens ist natürlich Schulung unglaublich wichtig. Und ich fürchte eben, dass die Lehrer, die von unseren Universitäten kommen, in der Regel selbst schon nicht mehr diese Gedichte lesen können.“ Zurzeit erforscht Menninghaus zusammen mit einem Neuropsychologen vom Max-Planck-Institut in Leipzig, welche Auswirkungen Reim und Metrum auf die ästhetische und emotionale Erfahrung von Lyrik haben.

Tatsächlich spielt die Vermittlung von Lyrik an deutschen Universitäten nur eine untergeordnete Rolle. Von den 27 Seminaren, die zum Beispiel dieses Semester in Frankfurt für Germanisten im Hauptstudium angeboten werden, widmet sich nur eines explizit der Lyrik. An der Universität Tübingen sieht die Lage noch düsterer aus, hier kommt auf immerhin 39 Veranstaltungen für Deutsch-Lehramtskandidaten im Hauptstudium ebenfalls nur ein Lyrik-Seminar: über Clemens Bentano – und der ist bekanntlich schon über 150 Jahr tot. Auch Winfried Menninghaus glaubt, dass die Lyrik im Vergleich zu den anderen literarischen Gattungen „eine minoritäre Existenz führt. Das sehen Sie auch daran, dass die Anzahl der Lyrikveranstaltungen recht gering ist. Ich biete regelmäßig welche an, und dann bekommt man täuschend viele Studenten, weil die wieder ein paar Semester lang gar kein Angebot hatten.“

Die Gründe für die geringe Gedichte-Dichte in der deutschen Germanistik sind vielfältig – vermutlich trägt nicht zuletzt die vielgescholtene Bologna-Reform zu dieser Entwicklung bei. „Es kann ja ganz toll sein, das vermeintlich Abseitige zu studieren, sich mal auf etwas einzulassen, das einem fremd ist“, so Drügh. „Aber unter Bologna-Bedingungen kann man eben nicht mehr sagen: Nehmen sie sich doch einfach mal Zeit für, sagen wir, anakreontische Lyrik.“ Sein Kollege Dirk Werle von der Universität Leipzig bestätigt, dass man seit der Reform ganz allgemein weniger Seminare zu ausgefallenen Themen anbieten könne – „und das betrifft auch den Bereich Lyrik.“ Was früher einmal ein konstitutiver Teil der deutschen Kultur war, ist offenbar zum Orchideenfach für Spezialisten geworden.

Dabei habe er ausnehmend positive Erfahrungen beim Unterrichten von Lyrik gemacht, berichtet Werle. „In Einführungsveranstaltungen haben die Teilnehmer bei der Lyrikinterpretation, zum Beispiel letztes Semester an Gedichten von Heiner Müller, ganz erstaunliche Beobachtungen gemacht. Das fällt bei umfangreicheren Textformaten schwerer und kommt entsprechend nicht so oft vor. Außerdem finde ich Lyrikseminare gut, weil man anhand von gattungshistorischen Längsschnitten, etwa zur Hymne oder Elegie, ein ganz buntes Ensemble von Texten behandeln kann.“ Und nicht nur Hymnen oder Elegien – sogar zeitgenössische Formen können die Studierenden fesseln, meint Heinz Drügh: „Es gibt zurzeit ja eine sehr aktive junge deutsche Lyrikszene. Und es gibt Kollegen, die das dann auch unterrichten, Gedichte von Ann Cotten und Monika Rinck zum Beispiel. Sehr gut, so geht’s. Die Studierenden müssen sehen, wie cool Lyrik ist.“ Und eben nicht nur etwas für Kinder.

Die Literaturwerkstatt Berlin führt eine Kampagne zur Gründung eines Deutschen Zentrums für Poesie. Dieses Poesiezentrum wird Informations-, Arbeits-, Begegnungs- und Veranstaltungsstätte für Dichterinnen und Dichter sein, für die interessierte Öffentlichkeit aller Altersstufen, für Verleger, für Lernende und Lehrende, für Medien und Multiplikatoren aus dem In- und Ausland. (mcd)
Weitere Informationen finden Sie unter www.poesiezentrum.de



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