Martin Puttke – Tanzpädagoge im Gespräch

Zur Eröffnung der Ausstellung „Maya Plisetskaya – Eine Révérence“ in Berlin sprach der Tanzpädagoge und ehemalige Ballettdirektor Martin Puttke über sein Leben. Für die Epoch Times stand er zu einem Interview zur Verfügung. Im Vorfeld des Gastspiels im März von Divine Performing Arts im Berliner Friedrichstadtpalast, kreisten auch viele Fragen um den chinesischen Tanz.
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(Yuri Kadobnov/AFP/Getty Images)
Epoch Times12. März 2009

Epoch Times: Herr Puttke, welche Erfahrungen haben Sie als Tanzpädagoge in Ihrer beruflichen Laufbahn mit dem chinesischen Tanz gemacht?

Martin Puttke: Durch die Wettbewerbe habe ich das chinesische Ballet sehr gut verfolgen können. Ab den 1980er Jahren gab es einen Boom, eine sehr positive Entwicklung, was die Ästhetik der Tänze und die Technik der Tänzer betrifft. Auch was die Erweiterung des künstlerischen Repertoires der Tänzer anbetrifft, in den modernen Bereich hinein, auf einer sehr soliden klassischen Grundlage. Das war schon sehr erstaunlich. Es gab in den 1950er/60er Jahren noch eine starke Anbindung an das sowjetische Ballett. Viele bekannte, berühmte sowjetische Ballettmeister haben ja in China gearbeitet und eine gewisse Basis gelegt. Aber es gab dann, nach meiner Auffassung, einen Umbruch in den 1970er/80er Jahren, als sie ein wenig die Türen geöffnet haben im Tanz. Das hat sich sehr positiv bemerkbar gemacht – z.B. mit Ben Stevenson, dem amerikanischen Choreographen. Soviel zu meiner Haltung zum chinesischen Ballett.

Epoch Times: Sie sprechen vom chinesischen Ballett?

Puttke: Ich rede hier nur vom chinesischen Ballett. Ich habe einen sehr positiven Eindruck davon.

Epoch Times: Haben Sie das chinesische Ballet in den letzten 20 Jahren näher verfolgt? Denn in den letzten Jahren hat sich in China vieles geändert. Wie beurteilen Sie den Tanz in dieser Zeit?

Puttke: Als ich Ballett-Direktor in Essen wurde, habe ich leider viele Tätigkeiten im Ausland ablehnen müssen, weil mich die Arbeit dort stark beansprucht hat. Wenn ich etwas tue, dann mache ich es hundertprozentig. Dadurch ist mein Bild vom chinesischen Ballett die letzten zehn, zwanzig Jahre nicht mehr so vollständig wie in den Jahren davor. Ich bedaure das sehr, weil es mich sehr interessiert: Wie weit ist das chinesische Ballett jetzt gekommen, wie hat sich die Ausbildung entwickelt? Welches Modell gibt es in der chinesischen Ballett-Ausbildung – die beste klassische Ausbildung, die sich mit den Herausforderungen und Notwendigkeiten des zeitgenössischen, modernen Tanzes verbindet? Das ist nicht nur ein choreographisches Problem, sondern in erster Linie ein Problem der Ausbildung der Tänzer. Es müssen also Tänzer erzogen und ausgebildet werden, die die klassischen Werke sehr gut tanzen können, aber gleichzeitig auch geöffnet sind – geistig und körperlich imstande sind, das zeitgenössische Tanzrepertoire zu erfüllen.

Epoch Times: Was sind für Sie die Schwerpunkte in der Ballett-Ausbildung?

Puttke: Worauf ich sehr großen Wert lege, ist die Einheit der geistigen und körperlichen Erziehung von zeitgenössischen Tänzern. Dort liegt für mich das Problem, weil man die Ballett-Ausbildung im Wesentlichen nur körperlich versteht.

Epoch Times: Das ist ein interessanter und wichtiger Punkt. Sie waren gestern bei der Eröffnung der dreiteiligen Ausstellung „Politische Körper“ dabei. Es sollte dort ein Gespräch stattfinden zwischen Ihnen und Frau Plisetskaya.

Puttke: Richtig.

Epoch Times: Lassen Sie uns über die Ausstellung sprechen. „Politische Körper“ ist eine interessante Verbindung, die man nicht so oft sieht: Politik und der tanzende Körper. Viele Menschen neigen dazu, zu sagen: Wir sind Tänzer, oder Sportler, wir achten auf die körperliche Technik und Politik hat mit uns nichts zu tun. Können Sie uns etwas erklären zu Sinn und Zweck dieser Ausstellung und zu dem Engagement, diese Botschaft in die Welt zu setzen?

Puttke: Ich finde diesen Titel hervorragend, weil er den Tanz aus dem scheinbar unpolitischen Raum herausholt und deutlich macht, es gibt keine unpolitische Aktion des Menschen. Selbst wenn sie nicht politisch ist, ist sie dadurch politisch. Der Mensch an sich ist ein politisches Wesen, jeder – ob er Tänzer ist oder nicht, spielt keine Rolle.

Epoch Times: Wie definieren Sie Politik?

Puttke: Politik ist die öffentliche Angelegenheit. Alles, was wir tun, ist eine politische Angelegenheit, da wir in einer Gesellschaft leben. Wenn ich alleine, wie Robinson Crusoe, auf einer Insel leben würde, wäre diese Frage anders zu beantworten.

Epoch Times: Wir sind also keine Robinson Crusoes…

Puttke: Da wir in politischen, sozialen Strukturen leben, ist der Körper, der auf die Bühne geht und mit dem Zuschauer in Kontakt tritt, von vornherein schon ein politischer Körper, auch wenn er glaubt, keine politische Aussage zu treffen. Allein durch seine Erscheinung auf der Bühne und dadurch, dass sein Publikum vor ihm sitzt, wird der Tänzer zum politischen Körper.

Epoch Times: Selbst, wenn er eigentlich kein politisches Statement durch die Tanzsprache auf der Bühne zeigen will?

Puttke: Selbst, wenn er La Sylphide tanzt, ist das eine politische Interaktion, weil er als Mensch in einem gesellschaftlichen Rahmen, einer kulturellen Situation, z.B. ein Werk der Romantik in der Gegenwart auf der Bühne zeigt. Das hat eine kulturpolitische Bedeutung. Das ist so. Es hat sich eingebürgert, dadurch dass wir Tänzer sagen, der Tanz kann Bereiche des menschlichen Lebens darstellen, die sich der Beschreibung durch das Wort, durch Schauspiel, Film oder Medien entziehen, haben sie den Eindruck, als seien sie unpolitisch. Aber das stimmt nicht im Sinne der Definition, was ist überhaupt ein politisches Wesen? Das ist nicht denkbar. Selbst die Gefühlswelt der Menschen ist am Ende ein Ausdruck über ein politisches Wesen. Und wenn ich nur Verzweiflung oder das Gefühl der Liebe anspreche – ist es das Gefühl eines politischen Wesens: Der Mensch ist ein politisches Wesen. Zur Ausstellung muss ich sagen, dass man über Maya Plisetskaya gar nicht anders sprechen kann als über einen politischen Körper. Denn die Vergangenheit von Maya Plisetskaya ist untrennbar durch eine ganz enge Verbindung von Kunst – in diesem Fall Tanz – mit Politik gezeichnet gewesen.

Epoch Times: Nicht allein durch die Ermordung des Vaters, durch die Stalin-Säuberung, sondern Sie meinen, auch in den Jahren, in denen sie in der Sowjetunion gelebt hat?

Puttke: Sicherlich spielt die familiäre Problematik eine große Rolle. Der Vater von Maya Plisetskaya wurde ermordet, die Mutter kam in die Verbannung, sie war sozusagen ein Waisenkind, wurde von Verwandten aufgenommen. Ihr leiblicher Onkel, der Bruder ihres Vaters, war Mitglied des engsten Beraterteams von John F. Kennedy. Nun stellen Sie sich vor, ihr Onkel war juristischer Berater des Beraterteams von Kennedy. Der Vater, von den Stalinisten ermordet und ihr Onkel bei Kennedy! So haben die Geheimdienste des KGB sich natürlich in extremer Weise mit Maya Plisetskaya auseinandergesetzt. Das macht ihren Körper so politisch. Sie war ja keine Straßentänzerin, sondern eine Tänzerin mit einer Jahrhundert-Begabung. Damit wurde sie zum Politikum, das liegt auf der Hand. Alle ihre Schritte und Wege fanden sozusagen unter der intensivsten Betreuung des KGB statt. Wenn sie Einladungen zu Gastspielen hatte, hat nicht der Ballettchef, sondern der KGB bzw. der Staatchef darüber entschieden. Es ist belegt, dass alle Staatschefs der UdSSR, von Chruschtschow über Gorbatschow bis hin zu Jelzin, sich mit Maya Plisetskaya beschäftigen mussten.

Epoch Times: Bis 1990, als sie auswanderte?

Puttke: Ja. Damit ist der politische Rahmen ihrer gesamten Karriere abgesteckt. In ihrem Leben ist alles von Diskontinuität geprägt: Rauf, runter, Extreme ohnegleichen. Es gab nur eine Kontinuität, das permanente „Njet“. Das einzige Kontinuum ihres Lebens bis 1990 war, dass sie immer und zu allem, was sie machen wollte, erst einmal ein Njet – Nein – zu hören bekam. Es war von größter Bedeutung, ob sie eine klassische Rolle tanzte oder ob sie sagte, sie möchte eine Choreographie von Maurice Béjart tanzen. Selbst wenn diese Choreographie keine politische Aussage hat, nehmen wir den Bolero als Beispiel – ist das ein Politikum gewesen. Ihr Körper war wie ein hochpolitischer Sicherheitstrakt!

Epoch Times: (lacht)

Puttke: Seit 40 Jahren beschäftige ich mich international mit Tanz, war im Osten wie im Westen tätig. Ich habe nicht eine einzige Tänzerkarriere getroffen, die so von künstlerischer und politischer Dramatik gezeichnet war wie die Karriere von Maja Plissezkaja. Deshalb ist sie selbst unter den Primaballerinen assoluti noch eine Ausnahmeerscheinung. Denn keine der anderen Primaballerinen, Galina Ulanova, Alicia Alonso, Margot Fontaine – von den anderen hat keine eine so dramatische Karriere und Leben durchlebt wie Maja Plissezkaja. Insofern kann man einen besseren Körper für die Ausstellung gar nicht finden.

Epoch Times: Wir haben gehört, ein Gespräch mit Maya Plisetskaya hat sie vor Jahren sehr geprägt…

Puttke: Ja. In den siebziger Jahren hatte ich nach einer Probe im Bolschoi-Ballett ein Gespräch mit ihr in der Garderobe. Wir kamen auf das Thema, welche Rolle spielt das Denken bei einem Tänzer? Wir sind beide übereinstimmend zu dem Schluss gekommen, dass man bei einem Tänzer auf der Bühne sehen kann, ob er intelligent oder dumm tanzt. Wir hatten auch sofort Beispiele parat, sogar Namen, wo man sah, ob das ein intelligenter oder ein dummer Tänzer ist. Die Namen darf ich natürlich nicht verraten.

Epoch Times: Sicherlich nicht. Aber wie unterscheidet man denn zwischen einem intelligenten und einem dummen Tänzer?

Puttke: Das ist die entscheidende Frage. Durch die Interpretationskunst von Maya Plisetskaya auf der Bühne habe ich gesehen, dass für sie der Inhalt des Tanzes nicht die Bewältigung des Stils oder der klassischen Technik ist, sondern ausschließlich der Ausdruck einer übergeordneten Idee des Tanzes. Das spricht die darstellerische Intelligenz an, ob ich von meinem Körpergefühl weggehen kann und den Reichtum an Gefühlen und Ideen eines anderen Menschen, eine Rolle, eine Partie durch meinen Körper darstellen kann. Das ist ein hochgeistiger Prozess und nicht die Zurschaustellung nur meiner eigenen Gefühle. Im Deutschen sprechen wir von Nabelschau. Das kann man auch bis zu einer gewissen Kultur treiben, aber das ist begrenzt und begrenzt auch den Tänzer. Maya Plisetskaya ist genau das Gegenteil davon, sie ist für mich eine hochintelligente Tänzerin. In meiner späteren Arbeit als Pädagoge hat mich dieses Erlebnis von der Bühne und das Gespräch mit ihr nie mehr losgelassen.

Epoch Times: Inwieweit haben Sie sich mit dem klassischem chinesischen Tanz auseinandergesetzt?

Puttke: Leider habe ich keinen Zugang zum chinesischen Tanz. Ich war mal längere Zeit in Kambodscha und habe dort die Art zu tanzen gesehen. Grundsätzlich ist man als Tänzer offen für Vieles. Ich kann nur sagen, es ist beeindruckend, aber für mich nur schwer verständlich.

Epoch Times: Liegt es daran, dass die Gestiken bestimmte Bedeutung haben?

Puttke: Ja, auch. Aber dahinter steckt eine hochinteressante wissenschaftliche Frage. Der amerikanische Psychologe Sack hat eine Untersuchung gemacht, woher es kommt, dass die Europäer sich der europäischen Musik vielmehr öffnen als der asiatischen, chinesischen. Es gibt Thesen, dass die Harmonielehre der europäischen Musik eine biologische Grundlage hat. Wir reagieren auf europäische Musik hormonell anders als auf asiatische Musik, und die Asiaten wiederum reagieren auch anders. Wenn man das auf den Tanz überträgt, könnte das bedeuten, dass die Bewegungsharmonie, die in der europäischen Tanzkultur zum Ausdruck kommt, auch etwas mit dem körperlichen Verständnis eines Europäers zu tun hat. Und dass die asiatische Tanzkultur auch im Verhältnis steht mit dem asiatischen Verständnis vom Körper. Aber hier steht die Wissenschaft noch am Anfang. Das Einzige, was uns verbindet, ist, dass auch die klassische chinesische Tanzkultur Bilder vermittelt. Der klassische europäische Tanz hat sich durch die ungeheuer technische Struktur und seinen hochentwickelten Stil-Code sehr weit von dieser Bildhaftigkeit entfernt, was zu seinem Todesurteil wurde. Da sehe ich Anknüpfungspunkte. Die Ballettkunst muss wieder zur Bildhaftigkeit zurückkehren und damit die Aussagekraft des Körpers erhöhen. Damit sind wir bei Maya Plisetskaya, denn die macht es.

Epoch Times: Sehen Sie eine Vergleichbarkeit zwischen Tanz und Kalligraphie?

Puttke: Ja, absolut! Tanz ist für mich ganzkörperliche Kalligraphie.

Epoch Times: Könnten Sie das ein wenig näher erklären?

Puttke: Ja, allein die Bewegung des menschlichen Körpers – es gibt nicht einen Millimeter, nicht eine Sekunde, die bedeutungslos ist. Und damit sind wir bei der Kalligraphie.

Epoch Times: Herr Puttke, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Maria Zheng und Lea Zhou.

Martin Puttke ist Tanzpädagoge und war bis 2008 Ballett-Direktor des Aalto Ballet Theaters in Essen.

Maya Plisetskaya war Primaballerina Assoluta des Moskauer Bolschoi-Theaters

Maya Plisetskaya – eine Révérence Ausstellung der Akademie der Künste
20. Februar – 5. April 2009
Di bis So 11-20 Uhr, Eintritt: € 3/2, am 1. Sonntag im Monat frei
Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin, Tel. (030) 200 57-2000, [email protected]

Klassischer chinesischer Tanz: http://divineperformingarts.eu

(Yuri Kadobnov/AFP/Getty Images)
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