Mit unerschütterlicher Aufrichtigkeit: Der Opernkomponist Giuseppe Verdi

Die Opern von Giuseppe Verdi (1813–1901) sind nie reine Unterhaltung – sie rufen tiefe menschliche Gefühle hervor. Wie sich der Komponist die Aufführungspraxis vorstellte, wurde durch den Dirigenten Arturo Toscanini ins 20. Jahrhundert überliefert und in Tonaufnahmen festgehalten.
Titelbild
Plakat für eine Inszenierung von „Aida“ von Giuseppi Verdi in Cleveland im Jahr 1908. Es zeigt die Triumphszene in Akt 2, Szene 2.Foto: Public Domain
Von 8. Oktober 2023

Buddha hat beobachtet, dass „auf einem Müllhaufen […] Lilien wachsen“. In der Tat bereitete der Unrat wie Gewalt, Ungerechtigkeit und Armut, den die Menschen auf der Welt angehäuft haben, stets auch den Nährboden für andere, auf dem sie dann erhabene Kunstwerke schufen. Diese kreierten Ideale und Realitäten, die über unsere eigenen hinausgingen und leiteten uns an, ermutigten uns und verliehen unserem Leben Sinn und Zweck.

Am 9. oder 10. Oktober 1813 wurde Giuseppe Fortunino Francesco Verdi in dem unbedeutenden italienischen Dorf Le Roncole geboren. In einem bitteren Substrat aus Armut und politischer Unterdrückung sollte die Saat seines Genies Wurzeln schlagen und gedeihen.

Porträt von Giuseppe Verdi, 1886, von Giovanni Boldini. Foto: Public Domain

Die Musik ergriff Besitz von dem kleinen Giuseppe, als er als siebenjähriger Messdiener zum ersten Mal den Orgelklang einer Kathedrale hört. Er war so tief beeindruckt, dass er auf der Stelle erstarrte. Ein frustrierter Priester versetzte ihm daraufhin einen heftigen Stoß, wodurch Verdi die Altartreppe hinunterstürzte.

Diese Episode trug dazu bei, Carlo Verdi davon zu überzeugen, seinem Sohn Musikunterricht geben zu lassen – und zwar bei genau dem Organisten, dessen Spiel den Sturz verursacht hatte.

Verdi und die Oper

19 Jahre später wurde seine erste Oper an der Mailänder Scala – Italiens bedeutendstem Theater – aufgeführt. Sie wurde ein beachtlicher Erfolg, ihre Entstehung wurde jedoch von Tragödien begleitetet. Denn während er dieses erste Werk schrieb, verlor der junge Verdi seine beiden kleinen Töchter, und kurz nach der Fertigstellung starb seine Frau, die seit seiner Kindheit seine beste Freundin und Quelle von Inspiration war.

In dieser für ihn schweren Zeit hatte er den Auftrag erhalten, eine Komödie zu komponieren. Sie erwies sich als sein einziger völliger Misserfolg. Niemals würde er dem Publikum verzeihen, das von seinem Leid wusste, jedoch bei der Premiere buhte und zischte. Der Kummer brachte einen frühen Winter.

Die schöpferischen Kräfte des Komponisten ruhten und er nahm sich vor, nie wieder eine Note zu schreiben. Aber was sind eigene Pläne und Vorsätze, wenn Gott, das Leben oder das Schicksal andere haben?

Zwei Jahre später erwachte Verdis Genie wieder. Es folgten ein schillernder Frühling, ein fruchtbarer Sommer und eine goldene Ernte an großen Werken.

Nabucco

Seine dritte Oper wurde sein erster überwältigender Erfolg. Er kam durch das Wohlwollen des Impresarios der Scala, Bartolomeo Merelli, zustande, der das enorme Potenzial des Komponisten erkannte. Während der trostlosen Tage der Stille schlug Merelli hin und wieder mögliche Themen für eine neue Oper vor. Es bot sich ein perfektes Thema an – opportun, viszeral und politisch brisant.

Italien befand sich zu dieser Zeit in einem erbitterten Kampf um die Unabhängigkeit von Frankreich und Österreich. Obwohl „Nabucco“ die biblische Geschichte der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier erzählte, waren die Parallelen zu dem gegenwärtigen Kampf für das italienische Publikum nur allzu offensichtlich.

Der Überlieferung nach war die Reaktion der Zuschauer im dritten Akt der Oper überwältigend, als die Israeliten in ihrem Exil sangen: „Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln. […] Grüßt den Jordan und die zerstörten Türme Zions“. Der Jubel ließ die Scala beben.

Die Aufführung musste unterbrochen werden. Verdi wurde auf den Schultern der Zuschauer durch die umliegenden Straßen getragen und zurück ins Theater gebracht. Der Refrain wurde noch einmal gesungen und der Beifall wiederholt, gefolgt von einer zweiten Reise um den Theaterplatz. Der Refrain von „Va, pensiero“ (Schweb‘ hin, Gedanke Du), den jeder Italiener kennt, wurde zur Hymne des „Risorgimento“, der Unabhängigkeit und Vereinigung Italiens.

Ob eine Verdi-Oper ein Erfolg oder ein relativer Misserfolg war – seine Werke waren nie reine Unterhaltung. „Ich will Kunst, in welcher Form auch immer sie sich manifestiert, nicht Unterhaltung“, schrieb er an den französischen Impresario Camille du Locle.

In „Kritik der Urteilskraft“ schrieb der deutsche Philosoph Immanuel Kant: „Wenn die schönen Künste nicht von moralischen Idealen durchdrungen sind, können sie nur als frivole Unterhaltung dienen.“ Die moralischen Elemente des Mitgefühls, der Vergebung, des Aussprechens der Wahrheit und des Überwindens von Verzweiflung sind in der Tat die treibenden Kräfte hinter jedem von Verdis Werken.

Rigoletto

Musik kann durch ihre Alchemie eine Idee in ein Gefühl verwandeln. Beim Anhören des „Rigoletto“ ist der Gedanke allgegenwärtig zu spüren, dass jeder Mensch – ob reich oder arm, schön oder unscheinbar – in Gottes Augen wertvoll ist. Das Mitgefühl für zwei hilflose Seelen, die unter dem Einfluss von Privilegierten leiden, weckt in uns – zumindest für einen Moment – ein Gefühl, das dieser unruhigen Welt sicherlich Frieden bringen würde, wenn es aufrechterhalten werden könnte.

Verdi dirigiert 1880 die Premiere von „Aida“ an der Pariser Oper. Foto: Public Domain

„Rigoletto“, der Höhepunkt von Verdis mittlerer Periode, ist ein nahezu perfektes Werk. Es erweckt den Eindruck, dass es trotz all unserer intellektuellen Bemühungen etwas gibt, das sich unserem vollen Verständnis entzieht und ein Geheimnis bleibt.

Die charakteristische Schönheit von Verdis Kunst, sein erhabenes melodisches Material, seine Wärme, die Großzügigkeit seines Geistes und seine unerschütterliche Aufrichtigkeit haben eine Ausdruckskraft, die in unserer Musiktradition vielleicht von Kalibern wie Bach oder Beethoven erreicht, aber niemals übertroffen wird.

Aida

„Aida“ – vollendet im 58. Lebensjahr des Komponisten – ist vielleicht nicht nur das Meisterwerk seiner Spätphase, sondern auch der Höhepunkt der Opernform an sich. Im Gegensatz zu den meisten Helden und Heldinnen der Vergangenheit sind die Charaktere durch die Einfachheit ihrer Worte und die transzendente Schönheit der Musik sehr lebendig. Die Geschichte schreitet fesselnd voran, da ein Ereignis auf das andere folgt, bis sie ein unwiderrufliches Ende findet. Es scheint, als ob keine einzige Note entfernt oder hinzugefügt werden könnte, um die dramatische Kraft zu steigern.

Drama und Inszenierung sind natürlich Teil des Genres, und diese Elemente sind in Hülle und Fülle vorhanden. Es gibt Paraden, Tänze, Trompeten und Chöre. Bei der Premiere war die glitzernde „beau monde“ – Würdenträger und Prominente aus aller Welt – zugegen. Doch von den meisten unbemerkt nahm ein Ehrengast Platz: die Wahrheit.

Die jahrtausendealte wahre Geschichte handelt von der verhängnisvollen Liebe zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau in einer Zeit, in der sich ihre beiden Länder im Krieg befinden. Dass es sich um prominente Persönlichkeiten handelt – um die Tochter eines Königs und den Befehlshaber eines Heeres –, ist nicht von Bedeutung. Was zählt, ist ihre Liebe zueinander. Sie ist stärker als Regierungen und Richter, die ihnen das Leben nehmen, aber ihre Liebe nicht töten können.

Das „Te Deum“

Die beiden letzten Werke Verdis waren religiös. Er war immer ein religiöser Mensch und alle seine Werke, auch „Falstaff“, sind im Kern religiös. Das „Te Deum“ („Dich, Gott, loben wir“) ist ein Lied des Dankes und ein Gebet um Erlösung. Das Werk spiegelt die Sicht des Komponisten auf die Welt: dass das Leben ein Segen und ein Wunder ist, dass es schön ist, wenn auch oft ungerecht und grausam, und dass „der Richter kommen wird“ („Judex Venturus“) und der Gerechtigkeit Genüge getan wird, wider.

Giuseppe Verdi war einer unserer großen Künstler und Visionäre, aber letztlich war auch er ein Sterblicher, dem ein gewisses Maß an Freude und Leid zuteilwurde. Die Freude fällt uns leicht, aber die Trauer ist schwer – ein bitterer Kelch, aus dem wir alle trinken müssen. Unsere Zuflucht, Verdis Zuflucht, die einzige Möglichkeit, die jeder von uns hat, ob bedeutend oder unbedeutend, besteht darin, dass jeder seine Gebete spricht. Damit verwandelt jeder auf seine Weise diese Sorgen in etwas anderes – etwas Gutes, etwas Schönes.

Was sich besonders anzuhören lohnt

Wir werden nie die Aufführungspraxis von Bach oder Beethoven kennen, aber wir wissen genau, wie Verdi seine Musik spielen und singen lassen wollte. Der große Dirigent Arturo Toscanini, der als Cellist in den Orchestern spielte, die Verdi dirigierte, unterstützte ihn bei der italienischen Erstaufführung des „Te Deum“.

Eine Darstellung des Teatro alla Scala aus dem 19. Jahrhundert. Foto: Public Domain

Relativ leicht erhältlich sind Live-Aufnahmen, in denen Toscanini sowohl das „Te Deum“ als auch den vierten Akt von „Rigoletto“ mit der großen Sopranistin Zinka Milanov dirigiert. Milanov ist auch auf einer Aufnahme mit dem Tenor Jussi Bjoerling zu hören, die ein Kritiker als die Aristokratin unter den „Aida“-Aufnahmen bezeichnete. Außerdem gibt es eine mitreißende Aufführung des „Va, pensiero“ unter der Leitung von Lamberto Gardelli.

Zum Autor

Raymond Beegle ist als Pianist in den großen Konzertsälen der Vereinigten Staaten, Europas und Südamerikas aufgetreten und hat für „The Opera Quarterly“, „Classical Voice“, „Fanfare Magazine“, „Classic Record Collector“ (UK) und „The New York Observer“ geschrieben. Beegle war Mitglied des Lehrkörpers der Stony Brook University of New York State, der Music Academy of the West und des American Institute of Musical Studies in Graz, Österreich. In den letzten 28 Jahren unterrichtete er in der Kammermusikabteilung der Manhattan School of Music.



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