Mit Zwölftonmusik zum kulturellen Verfall

„Susi Fell Meine dickes hat kalte und Nase graues Katze eine nasse“ – spätestens bei diesem Satz würden viele Deutschlehrer mit erhobenen Händen aus dem Klassenzimmer rennen. Was dieses Beispiel jedoch lebhaft zeigt, ist das Prinzip der „Zwölftonmusik“.
Zwölftonmusik versus Klassische Komposition
„Allegory of Music“ von Laurent de La Hyre (1606–1656). Öl auf Leinwand, 1649.Foto: Public domain
Von 1. Mai 2023

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereicherten große Komponisten wie Sergej Rachmaninow oder Claude Debussy mit einer Fülle von Werken die Klassische Musik. Dann erfolgte ein starker Bruch. Nur noch eine Handvoll großer Werke entstanden in der zweiten Jahrhunderthälfte. Doch wie kam es zu der bedeutenden Veränderung in der Musik? – Der Grund trägt den Namen „Zwölftonmusik“ beziehungsweise Dodekaphonie.

Dieses kompositorische Verfahren schaffte es wie kein anderes, Musikliebhaber zu entzweien, wobei die Meinungen von freudigem Entzücken bis hin zur „Empörung über die erlittenen Qualen“ reichten. Wie diese „unerhörte“ Komposition funktioniert, zeigt das folgende Beispiel. Es sind zwei deutsche Sätze, die exakt dieselben zwölf Wörter benutzen – nur in unterschiedlicher Reihenfolge:

Meine Katze Susi hat dickes graues Fell und eine kalte nasse Nase.“

Susi Fell Meine dickes hat kalte und Nase graues Katze eine nasse.“

Der erste ist ein ganz gewöhnlicher Satz und handelt klar und deutlich von einer Katze namens Susi mit dickem grauen Fell, die mir gehört und eine kalte, nasse Nase hat. Die einzelnen Wörter des zweiten Satzes wurden dagegen so umgestellt, damit sie grammatikalisch keinen Sinn ergeben. Jeder Leser, der nur mit dem zweiten Satz konfrontiert wird und versucht, darin einen Sinn zu erkennen, wird scheitern.

Bezieht sich „Susi“ auf die unmittelbar folgenden Worte: „Fell Meine“? Wenn ja, auf welche Weise? Wie kann man sich „dickes hat kalte und Nase“ vorstellen? Und was ist eine „graues Katze eine nasse“? Der Leser mag dennoch mutig versuchen, aus diesem Wirrwarr einen Sinn herauszulesen. Doch spätestens mit dem vagen Eindruck von Fell und Dicke einer Katze, die nass ist und sich erkältet haben könnte, wird er aufgeben. Leser, die nicht aufgeben wollen, werden versuchen, die Wörter zu ordnen – auf der Suche nach einer Bedeutung.

Stellen Sie sich nun eine ganze Schule vor, die Wortgefüge in der Art und Weise des zweiten Satzes gebraucht. Genau das geschah in der Klassischen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg – und die Zwölftonmusik wurde zum vorherrschenden kompositorischen Verfahren. Die „unerhörten“ Werke aus wild aneinandergereihten Tönen hielten sich nur etwa 20 Jahre lang und wurden schließlich wieder von der harmonischen Klassischen Musik abgelöst. Mit der Musik von heute scheint Letztere jedoch erneut verschwunden zu sein.

Was ist passiert? Welches harmonische Merkmal der Klassischen Musik wurde in einem Anfall von modernistischem Zeitgeist über Bord geworfen?

Unendlichkeit der Hierarchien

Der Schlüsselpunkt ist in diesem Fall die Hierarchie – also die Tatsache, dass bestimmte Töne in einer bestimmten Tonart eine größere Bedeutung haben als andere. Wer auf seiner Gitarre einen C-Akkord spielt, wird drei Töne hören, die in einer einfachen hierarchischen Beziehung zueinanderstehen: den Grundton (C), die Terz (E) und die Quinte (G).

Wird die Quinte (der „unwichtigste“ der drei Töne) weggelassen, hört sich das Gespielte immer noch wie ein C-Dur-Akkord an. Wird zusätzlich die Terz weggelassen, bleibt nur noch das C übrig – dennoch behält ein geübtes Ohr den damit verbundenen Akkord im Kopf. Und warum? Aus physikalischen Gründen. Eine vibrierende Saite schwingt in Abschnitten, die ihrerseits die gerade beschriebenen hierarchischen Beziehungen widerspiegeln.

Die Geschichte der westlichen Musik von etwa 1500 bis 1950 ist die Geschichte einer zunehmenden Vertiefung und Bereicherung der Hierarchien, die in der sogenannten Obertonreihe enthalten sind. Der Grundton C im C-Akkord könnte auch die Quinte des Grundtons F oder die Terz eines a-Moll-Akkords oder eines As-Dur-Akkords sein. Das F wiederum könnte Grundton, Quinte oder Terz in einer anderen Tonart sein und so weiter. Die hierarchische Stellung eines bestimmten Tons verschiebt sich von einer Tonart zur nächsten – ein einziger Ton enthält eine Vielzahl von möglichen Verbindungen.

Es gab nicht nur eine Tonhöhenhierarchie, sondern ein riesiges Netz ineinandergreifender Hierarchien, die durch die 24 Dur- und Molltonarten des Tonsystems repräsentiert werden. Dieses Netz von miteinander verbundenen Tonarten ermöglichte es Komponisten, eine fast unendliche Anzahl von hierarchischen Beziehungen zwischen den Tönen zu erforschen.

Von Bach und Mozart bis hin zu Wagner, Tschaikowski und Mahler wurde nie bezweifelt, dass die Obertonreihe eine physikalische Realität mit klaren Auswirkungen auf die Tonhöhe ist. Die Weiterentwicklungen, die mit Debussy, Strawinsky und vielen mehr begannen, eröffneten zwar bisher ungeahnte Gebiete, doch keiner von ihnen bestritt, dass ein einzelner Ton ein enormes Potenzial für hierarchische Beziehungen zu anderen Tönen in sich trägt. Niemand.

Bis Arnold Schoenberg mit der Zwölftonmusik kam.

„Mozarts Konzert im Salon Des Quatre-Glaces Au Palais Dutemple“ von Michel-Barthélémy Ollivier (1712-1784). Öl auf Leinwand, 1770. Foto: Public domain

Verleugnung der physikalischen Realität

Im Ersten Weltkrieg hatte die Komplexität der hierarchischen Tonbeziehungen ihren Höhepunkt erreicht. Für einen Komponisten, den äußerst fähigen und oft überzeugenden Arnold Schönberg, war das jedoch zu viel.

Ein neues System musste das alte ersetzen – ein neues System, das einfacher zu handhaben war und die endlosen Zweideutigkeiten der Tonhöhenhierarchie nicht mehr aufwies. 1923 war es so weit und Schönberg stellte mit der Zwölftonmusik ein System vor, das die musikalische und physikalische Wahrheit ausdrücklich verneinte.

Er nannte es die „Methode des Komponierens mit zwölf Tönen, die nur miteinander verwandt sind“. Schönbergs neues System verlangte, dass ein Komponist zum Beispiel den Ton C erst dann wieder verwenden durfte, wenn er vorher alle anderen elf Töne verwendet hatte.

Nun war das C nicht mehr der Grundton von C-Dur oder die Quinte von F, sondern ein isolierter Ton, auf den in keiner bestimmten Reihenfolge Fis, As, B, Es, A, E, Cis, D, B, G und F folgten. Die Methode kam einer bewussten Sabotage der Hierarchie gleich – eine völlige Verleugnung der physikalischen Realität, dass ein Ton die Implikationen verschiedener tonaler Hierarchien in sich trägt.

Töne und Tonhöhen sollten nicht mehr als Teile eines melodischen Flusses erlebt werden, der durch lebendige, ineinandergreifende hierarchische Beziehungen geprägt ist. Stattdessen sollten einzelne Töne nur durch ihre Nähe zueinander verbunden sein.

Wirkung der Zwölftonmusik auf den Hörer

Das Ohr bemüht sich, die Beziehungen herzustellen, von denen es weiß, dass sie dem musikalischen Klang innewohnen. Doch es wird dieses harmonische Zusammenspiel nicht finden und der Zuhörer gibt irgendwann frustriert auf. Das Ergebnis ist Verwirrung und Langeweile.

Und das ist gewollt, das neue System war nämlich ausdrücklich darauf ausgelegt, diese Beziehungen zu stören. War die Zwölftonmusik ein musikalischer Irrsinn? Ja. Aber es war ein Irrsinn mit weitreichenden Wurzeln.

Eine Philosophie des radikalen Zweifels hatte das westliche Denken seit dem 17. Jahrhundert durchdrungen. Der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes gilt als ihr Begründer, obwohl dieses Denken schon lange vor ihm in der akademischen Welt verbreitet war. Besonders die Lehre des griechisch-römischen Philosophen Sextus Empiricus (* 2. Jh. n. Chr.) erfreute sich im 16. Jahrhundert neuer Beliebtheit.

„Portrait des René Descartes (1596-1650)“ von Frans Hals (1582/1583–1666). Öl auf Leinwand. Foto: Public domain

Ich zweifle, also bin ich

Sextus Empiricus war ein extremer Skeptiker, der im Grunde alles Wissen leugnete – außer natürlich das Wissen, dass alles Wissen ungültig ist. In seiner Schrift „Gegen die Musiker“ leugnete er sogar, dass es einen Zusammenhang zwischen den Schwingungen der Luft und dem Klang selbst gibt. „Ja“, schrieb er, „es gibt Schwingungen und es gibt Töne, aber wie kann man beweisen, dass das eine das andere verursacht?“

Mit seinem berühmten Zitat „Ich denke, also bin ich“ (Cogito ergo sum) versuchte Descartes diesen zunehmend populären Skeptizismus abzuwehren. Indem er jedoch den Zweifel zur Grundlage seines Systems machte und die Existenz eines Denkers zum ersten Gebot erhob, brachte Descartes die jahrhundertelange Philosophie des Zweifels ins Wanken. Die Wahrheit war nun etwas, das in jedem Individuum eingeschlossen war und keine Verbindung zu den realen Wesen außerhalb dieses Gefängnisses hatte. Descartes sagte einmal, dass Menschen, die die Straße entlanggehen, nicht unbedingt Menschen sind, sondern durchaus Automaten sein könnten, die sich als Menschen ausgeben. Wie könnten wir das mit Sicherheit wissen?

Schönberg vertrat die Meinung, dass die in harmonisch hierarchischer Weise angeordneten Töne genauso gut eine zufällige Auswahl sein könnten. Deshalb sollten Komponisten diese auch als solche behandeln.

Alle Erfahrung ist hierarchisch

Schönbergs Ablehnung der Wahrheit von Hierarchien, die der Erfahrung von Tönen innewohnen, war nichts anderes als die Anwendung von Sextus Empiricus und Descartes‘ Gedanken auf die Musik. Mit dem Aufbrechen der Hierarchie triumphierte der Zweifel. Dabei sind alle Wahrnehmungen und ihre Erfahrung hierarchisch. Wenn wir sehen, sehen wir Vorder- und Hintergrund. Selbst wenn wir riechen, ist unser Geruchssinn damit beschäftigt, potenzielle Düfte in einer Hierarchie zu ordnen. Und wenn wir einen Ton hören, ordnen wir das Gehörte ganz natürlich und unvermeidlich in eine Hierarchie ein.

Wenn diese Hierarchie verweigert wird, wie es in der Zwölftonmusik absichtlich geschah, ist die einzig wahre Reaktion des Hörers Verwirrung und Frustration. Ähnliches erleben Menschen, wenn sie mit schizophrenen Aktivitäten konfrontiert werden. Dieser Vergleich ist weder willkürlich noch abwertend. Die Realitätserfahrung eines Schizophrenen ist „ein ständiger Prozess der Ersetzung einer isolierten, statischen Wahrnehmung durch die nächste“, so der britische Psychiater Iain McGilchrist in seinem Buch „The Matter With Things“. Die Komposition von zwölf Tönen ist buchstäblich musikalische Schizophrenie.

Nun könnten viele Menschen denken: „Das war im letzten Jahrhundert. Inzwischen haben wir uns weiterentwickelt und die Musik ist jetzt anders“. Ja, das mag sein, jedoch ist die Quelle für neue Musik kommender Generationen damit vergiftet.

Das Gift der Zwölftonmusik wirkt nach

Das Publikum floh und der Anteil neuer Stücke in den klassischen Programmen ging zurück. Wo einst lebende Komponisten bekannt waren und ihre Musik gehört wurde, sind die klassischen Komponisten von heute in der breiten Bevölkerung unbekannt. Kaum etwas von ihrer Musik findet Eingang in das Repertoire – sie wird einmal gespielt und dann vergessen.

Auch die moderne Musik war so ein Opfer. Die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts hat sich die populäre Musik von der klassischen Musik inspirieren lassen, indem ihre harmonische Sprache und sogar vieles ihres melodischen Wesens übernommen wurde. Doch nach 20 Jahren Zwölftonmusik war Schluss damit, und in den 1960er-Jahren ging die Popmusik ihren eigenen Weg, der sich bis heute in ständigen Wiederholungen zeigt. Es ist rhythmische Langeweile.

Die erlebte Geschichte aus der klassischen Musik, die Hierarchie abzuschaffen und deren katastrophale Folgen gaben den Startschuss zu Angriffen auf moralische Werte und soziale Bedingungen. Alle moralischen Werte sind „gleich“ und keiner ist besser als ein anderer. Alle Unterschiede in den sozialen Verhältnissen müssen nivelliert werden, um keine hierarchischen Unterschiede zu erzeugen. Männer und Frauen sind austauschbar. Die Musik wurde damit zum Wegbereiter des gegenwärtigen kulturellen Verfalls.

Über den Autor:

Kenneth LaFave komponierte Musik für Orchester, Chor und Kammerensembles und ist ein ehemaliger Musikkritiker der Medien „Arizona Republic“ und „Kansas City Star“. Außerdem ist LaFave Autor und schreibt über Kunst und Musik.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Explainer: Music and the Hierarchy of Experience“ (redaktionelle Bearbeitung kms)



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