Nach dem Lockdown: Shen Yun belebt und bewegt die Zuschauer

Sie bringen Schönheit, Glanz und Harmonie einer fast vergessenen alten Kultur auf die Bühne. Die Rede ist von Shen Yun. Ende Juni durften sie seit über einem Jahr wieder auftreten. Für die Besucher war das mehr als nur Balsam für die Seele – es war ein „universelles“ Erlebnis.
Von 30. Juni 2021

Bald sollen sie wieder weltweit auftreten und ein Millionenpublikum verzaubern. Aber noch ist es nicht so weit. Die Tänzer und Musiker von Shen Yun Performing Arts sowie ihr Publikum müssen sich in Geduld üben – außer in den USA. Am 26. und 27. Juni ist die Künstlergruppe das erste Mal seit über einem Jahr Corona-Zwangspause wieder aufgetreten – dreimal – in Stamford, Connecticut. Weitere Auftritte sollen folgen, in Colorado, South Dakota und Utah.

„Ich habe den wunderbarsten Abend erlebt, vor allem hat es mich aus dieser Pandemie-Stimmung gerissen“, sagte eine ehemalige Pianistin, die von der Hingabe der Künstler an das, was sie auf der Bühne tun, schwer beeindruckt war.

Die Saisonpremiere 2021 ging mit monatelanger Verspätung an den Start. Normalerweise haben die sieben Tourneegruppen im Juni ihre Tour längst absolviert, dieses Jahr geht es gerade erst los. Die Bühne in Stamford bebte, als die Künstler sie nach so langer Zeit mit ihrer Energie belebten. Die Zuschauer waren begeistert, manche hatten sogar eine dreistündige Fahrt auf sich genommen, um Shen Yun endlich wieder erleben zu dürfen.

Viel zu lang sei die Zeit gewesen, in der man den Menschen die Künste vorenthalten habe, sagte Architektin Mary O’Dell nach der Show. Das Haus war brechend voll gewesen, nachdem eine lange Schlange darauf gewartet hatte, dass sich endlich die Türen öffnen. „Es ist einfach aufregend, wieder in einem Theater zu sein … Ich bin demjenigen so dankbar, der dies ermöglicht hat“, so O’Dell.

5.000 Jahre Kultur auf der Bühne

Shen Yun, gegründet 2006 in New York, hat sich zur Aufgabe gemacht, die 5.000-jährige traditionelle Kultur Chinas wiederzubeleben. Eine Kultur, die einst angefüllt war mit Weisheit, atemberaubender Kunst und Spiritualität. Nach alter chinesischer Legende heißt es, dass Gottheiten in der Gestalt von Kaisern, Gelehrten und Helden einst in die Menschenwelt hinabstiegen, um ihnen ihre Kultur zu hinterlassen. Shen Yun hat das aufgegriffen und führt den Zuschauer in eine Welt voller prachtvoller Paläste, atemberaubender Landschaften und Figuren, die Gutherzigkeit, Loyalität, Sanftmut, aber auch Heldenmut vermitteln. Wer die Show schon einmal gesehen hat, versteht die Einzigartiges dessen, was ihm hier begegnet.

„Ich möchte die Schönheit und Großartigkeit von 5.000 Jahren chinesischer Geschichte und den klassischen chinesischen Tanz – die einzigartige Seite dieser Tanzform und die Schönheit dahinter – dem Publikum näher bringen“, sagt Elsie Shi, eine der führenden Tänzerinnen des Ensembles.

Der klassische chinesische Tanz ist eine ganz besondere und einzigartige Form des Tanzes. Er besteht nicht nur aus äußerst anspruchsvollen technischen Fertigkeiten wie Sprüngen und Salti, sondern er dient vor allem dazu, die wahre Essenz und Bedeutung dieser Kultur zu transportieren und in den Bewegungen auszudrücken. Dabei wird deutlich gemacht, wie die innere Haltung sich im Äußeren widerspiegelt.

Über Jahrtausende wurde diese Kunstform innerhalb des Kaiserpalastes, Theatern und der Oper weitergegeben. Angereichert mit den tiefgründigen Weisheiten jeder Dynastie vollendete sie sich zu einem vollständigen Tanzsystem. Laut der Tänzerin Elsie beginne man zu „verstehen“, sobald man das einzigartige Gefühl des klassischen chinesischen Tanzes erfasst habe.

Ein zweiter wichtiger Bestandteil der Aufführungen ist die Musik. Aus dem Orchestergraben hört man westliche und fernöstliche Klänge, die sich miteinander zu einem völlig neuen Klangbild vereinen. Einmalig in der Welt. Und tatsächlich spielen hier westliche und östliche Musiker vereint nach eigens komponierten Stücken. Ob chinesische Pipa oder westliche Violine, das Orchester unterstreicht die Darbietungen der Tänzer und hilft ihnen, ihre Geschichte zu erzählen.

Das bedeutet Shen Yun

Und was bedeutet nun Shen Yun? Überträgt man diese zwei Worte ins Deutsche, wird die spirituelle Komponente sichtbar, die sich hinter all dem verbirgt. Das muss auch so sein, denn im alten China war die Spiritualität, die Suche nach dem Göttlichen in jedem Lebensbereich fest verankert. Alles war miteinander verbunden, die Natur, der Himmel und der Mensch. Man lebte in Harmonie mit den kosmischen Gesetzen, die sich auf der Erde in Wahrhaftigkeit, Güte und Nachsicht ausdrücken.

Der Begriff „Shen“ steht für einen Erleuchteten, ein göttliches Wesen, einen Buddha oder Tao. „Yun“ bedeutet Rhythmus und bezieht sich hier auf die innere Haltung einer Person, die sich in Gestik, Mimik und der gesamten Körpersprache Ausdruck verschafft. Zusammengenommen bedeutet Shen Yun damit „Schönheit tanzender göttlicher Wesen“.

Diese Ausdrucksstärke zu erreichen, erfordert viel diszipliniertes Training. Das kann bedeuten, dass eine Tänzerin eine bestimmte Bewegung – und wenn es nur die eines einzigen Fingers ist – mitunter tausende Male üben muss, bis sie perfekt ist.

„Wenn ich eine Tänzerin sehe, die eine Sekunde lang etwas macht, das einfach perfekt war, dann inspiriert mich das wirklich, weil ich weiß, dass sie sich so viel Mühe gegeben hat, um das zu erreichen“, sagt die Erste Tänzerin Michelle Lian. „Das bedeutet, dass sie es mehr als 10.000 Mal geübt hat.“

Was dem Publikum nach all den Jahren harten Trainings präsentiert wird, kann dann durchaus mit purer Schönheit beschrieben werden. Zumindest was die Tänzerinnen betrifft. Bei den Tänzern geht es um ganz andere Attribute, nämlich solche, die im alten China den Charakter eines „echten“ Mannes ausmachten. Da geht es um Mut und Tapferkeit, um Stärke und Entschlossenheit. Eine ganz andere Dynamik entsteht, wenn die männlichen Tänzer die anmutigen Schönheiten auf der Bühne ablösen. Mit Kraft und Heldenmut ziehen dann Krieger in die Schlacht oder vertreiben den blutdürstigen Tiger aus dem Dorf.

Auftrittsverbot in China

Seit der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei hat die alte Kultur viel von ihrem einstigen Glanz verloren. Die Kulturrevolution in den 1960er und 1970er Jahren hat dafür gesorgt, dass nur noch bruchstückhafte Erinnerungen den heutigen Chinesen geblieben sind.

In China ist Shen Yun verboten. Es hat den Zorn der Kommunistischen Partei auf sich gezogen, da in der Aufführung auch die Verfolgung der friedlichen Meditationspraktik Falun Gong thematisiert wird. Falun Gong, auch Falun Dafa genannt, verbindet sanfte Qigong-Übungen mit moralischen Grundsätzen, basierend auf den Prinzipien von Wahrhaftigkeit, Güte und Nachsicht.

In den 1990er Jahren sehr beliebt unter den Chinesen wuchs es sehr schnell zu einer großen Gruppe Praktizierender heran. Aus Machtgier und Neid auf die Beliebtheit der Gruppe hatte der damalige Staatschef Jiang Zemin ab 1999 nur noch ein Ziel, nämlich Falun Gong komplett auszuradieren. Seitdem sind sie schlimmster Verfolgung ausgesetzt, darunter zählen heute noch Organraub, Folter, Gehirnwäsche und Umerziehung.

Schon kurz nach der Gründung von Shen Yun fingen die Angriffe durch die KPC an. Theater erhielten Verleumdungsbriefe mit der Aufforderung, die Show nicht aufzuführen oder abzusagen. Manchmal standen die Künstler dann tatsächlich vor verschlossenen Türen wie etwa 2010 in Moldawien. China hatte dem verarmten Land gerade erst einen Kredit über 1 Milliarde Dollar zugebilligt, mit dem man es nun erpresste.

Bis 2020 gab es weltweit immer wieder Theater, die vor der KPC einknickten und die Shows absagten, auch nachdem Verträge schon geschlossen worden waren. Jahr für Jahr wartete die KP mit einem neuen Sabotagetrick auf. Sie kreierte ihre eigenen Shen Yun-ähnlichen Kulturshows und ließ sie gleichzeitig in denselben Städten auftreten. Dadurch täuschte sie die Menschen und sorgte dafür, dass so mancher unwissentlich eine Propaganda-Show der Partei anschaute anstatt das Original.

Wie Shen Yun-Moderator Leeshai Lemish in einem Interview 2020 erklärte, liegt den Angriffen immer die gleiche Motivation zugrunde: „Die traditionelle chinesische Kultur ist in Grundwerten wie Integrität, Ehrlichkeit, Loyalität und spiritueller Vollendung verwurzelt. Im Gegensatz dazu will die Kommunistische Partei Chinas, dass die Chinesen überlieferte alte Denkweisen über moralische Werte und Spiritualität ablehnen. Stattdessen sollen sie an kommunistische und sozialdarwinistische Theorien des Kampfes glauben.“ Die traditionelle Kultur soll demnach durch eine atheistische, kommunistische Ideologie ersetzt werden.

Shen Yun wächst von Jahr zu Jahr

All die versuchte Sabotage durch die KP hat jedoch nur dazu geführt, dass Shen Yun noch bekannter wurde. Nach 15 Jahren sind aus einer Tourneegruppe inzwischen sieben gewachsen. Jede Gruppe umfasst etwa 80 Künstler – die meisten sind Tänzer und Musiker. Darüber hinaus gibt es Sänger, Moderatoren und das Produktionsteam.

Heute wissen alle Leiter der Theater und Konzerthäuser über die Lügen und Propaganda der Kommunistischen Partei Chinas Bescheid. Wenn ein Brief mit Erpressungsversuchen von der chinesischen Botschaft einflattert, wird er meist nur noch mit einem müden Lächeln zur Seite gelegt.

Die Qualität ist geblieben. Auch der corona-bedingte Lockdown, bei dem die Welt glaubte, sie müsse den Maßnahmen der KP Chinas folgen, ohne zu berücksichtigen, dass der Schaden an Wirtschaft und Gesellschaft grenzenlos sein würde, hat Shen Yun als Chance genutzt, sich weiter zu verbessern.

„Wir haben die Zeit genutzt, um unsere Technik in allen Bereichen zu verfeinern und zu verbessern“, bestätigt Erste Tänzerin Angelia Wang. So hätten sie die Zeit im Lockdown sinnvoll genutzt.

Bei dem nach der Corona-Pandemie kulturell ausgehungerten Publikum hat es Wirkung gezeigt. „Ich spürte eine Verbindung zwischen mir und den Tänzern und der Situation, die sie darstellten“, sagte Diego Mansilla, Universitätsprofessor aus Massachusetts nach der Aufführung am 27. Juni. Man vergesse, dass reale Menschen die Musik spielten, man drifte richtig weg, ergänzt seine Frau und fährt fort:

„Sie tun so viel, um es uns zu zeigen, um zu inspirieren … diese authentische Reinheit“, so Adel Mansilla. „Wie kann ich nach Hause kommen und über Dinge wütend sein? Ich kann nicht… Ich fühle mich jetzt verantwortlich, das fortzusetzen, was sie uns gegeben haben. Sie gaben es mit so viel Mühe.“

Philosophie-Student Ivan Snook würdigte vor allem die universelle Botschaft, die vermittelt wird. Er sagte: „Bei einer solchen Aufführung kommt etwas völlig Universelles heraus, und das ist es, was uns als Menschen über Kulturen hinweg verbindet – durch künstlerische Ausdrucksformen. Ich fand es in diesem Sinne wirklich sehr schön: Es zeigt die Menschlichkeit, die uns allen gemeinsam ist.



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