Rostocker Theologie-Professor: „Die Trauer hat keinen Ort mehr“

Epoch Times20. November 2010

Am Sonntag ist Toten- oder Ewigkeitssonntag. An diesem Tag besuchen die Menschen auf den Friedhöfen die Gräber der Verstorbenen. Doch die Trauerkultur und damit auch die Friedhöfe sind einem starken gesellschaftlichen Wandel unterworfen.

Immer mehr Grabstellen auf Deutschlands Friedhöfen bleiben unbelegt. „Ihr Gesicht verändert sich“, sagt der Rostocker Theologie-Professor Thomas Klie. Er blickt voraus: „Das Einzelgrab einer Erdbestattung mit einem individuell gestalteten Grabstein und Bepflanzung wird bald der Vergangenheit angehören.“

Verwaisen Deutschlands Friedhöfe?

Professor Klie bejaht dieses Phänomen: „Der Friedhof der Zukunft ist vermutlich nur noch eine grüne Wiese, also ein Ort weitgehender Leere, der kaum mehr eine individuelle Gestaltung erkennen lässt.“ Die Vorzeichen dieser Entwicklung sieht der Theologe beispielsweise in Urnengemeinschaftsanlagen, die immer mehr Flächen beanspruchen und „irgendwann auch die Urnen-Reihengräber ablösen werden“.

Dieser Trend verändere auch das Verhalten zum Tod, ist der Professor überzeugt. „Die Trauer hat keinen Ort mehr.“ Sie verlagere sich auf das trauernde Subjekt, das aber „keinen äußeren Kontaktpunkt mehr kennt“, gibt der Theologe zu bedenken. Das hieße für den Toten: „Er stirbt zweimal. Einmal biologisch und einmal in der Erinnerung derer, die für nahe Angehörige kein kulturelles Zeichen setzen wollen“, sagt Klie. Das sei eine Entwicklung wie eine Spirale. Konkret heißt das: „Mit den Erdbestattungen verschwinden bzw. verändern sich auch die Riten“. Diese heute bereits ablesbare Tendenz aber sei hoch brisant für die spätmoderne Erinnerungskultur.

Professor Klie sieht die Kirche angesichts der zunehmenden Anonymisierung der Bestattungskultur in der Pflicht. Sie müsse dieser Entwicklung im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegensteuern. Die Kirche habe Verantwortung, „angemessen kulturelle Zeichen zu setzen“, da sie zumeist Trägerin der Friedhöfe sei.

Klie brennt das Forschungsthema dieser sehr neuen Entwicklung unter den Nägeln. Es gehe z. B. darum, herauszufinden, unter welchen Bedingungen Kolumbarien derzeit in nicht mehr rein gottesdienstlich genutzten Kirchen eingerichtet werden. „Das bislang überzeugendste Beispiel ist die Grabeskirche St. Josef in Aachen.“

Ein kirchlicher Friedhof in einer Kirche?

„Das ist ästhetisch betrachtet das Maß aller Dinge“, sagt der Rostocker Theologie-Professor. Er könne sich vorstellen, dass auch die Rostocker Uni-Kirche in einem Teilbereich ebenfalls als Grabeskirche dienen könne. Klie will zum Thema „Kolumbarien in Kirchen“ eine Doktorarbeit vergeben und das Thema von allen Seiten beleuchten lassen.

„Jetzt 30-Jährige werden sich zu einem hohen Prozentsatz für die anonyme Form der Urnenbeisetzung entscheiden“, sagt Klie. „Aber wie entscheiden sich jetzt 80-Jährige für ihre Beerdigung?“ Auch diese Fragestellung wird derzeit an der Theologischen Fakultät der Uni Rostock erforscht.

Cyber-Friedhof

Medieninformatiker aus Bremen bieten seit Januar 2009 nach US-amerikanischem Vorbild einen Cyber-Friedhof im Internet an. Hier können Hinterbliebene virtuelle Grabstätten erstehen lassen, die die lokal gebundenen, pflegebedürftigen Familiengräber aus Stein und Blumen ersetzen.

Unsereliebsten.de gewährt multimediale Trauerarbeit am heimischen PC: mit Kondolenzbuch, Bildern und Filmen – inklusive Live-Chat-Möglichkeit und Branchenbuch. Sechs Euro kostet die Online-Gedenkstätte monatlich; wer gleich auf 30 Jahre bucht, ist mit 100 Euro dabei. Selbst „wenn alle über Deutschland oder die Welt verstreut leben“, sagen die Betreiber, könne man schöne Erinnerungen, die man mit dem Verstorbenen verbinde, mit anderen teilen.

Klie blickt zurück: „Früher wurde oft in der Literatur behauptet, der Tod wird verdrängt. Diese These stelle ich in Frage. Wir leben heute in einer Zeit, wo der Tod medial extrem präsent ist.“ Bis in die Todeswunde werde beispielsweise in Filmen hineingeleuchtet.

Trauerkleidung oder Punk?

Eins steht für Professor Klie noch fest: „Trauernde haben keinen Status mehr. Wenn sich heute jemand schwarz kleidet, wird in ihm eher ein Punk vermutet, als ein Trauernder.“ Mit den Friedhöfen habe sich auch die Trauerkultur verändert. „Es gibt keine äußerlichen Zeichen mehr. Man sehe einem Menschen äußerlich kaum mehr an, dass er um einen Verstorbenen trauert.“ (sfr/Universität Rostock)



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