Sonntagsgeschichte: Das Märchen vom Klapperstorch

Wovon die Beine der Teckel so kurz sind, und daß sie sich dieselben abgelaufen haben, weiß jeder. Wie aber der Storch zu seinen langen Beinen gekommen ist, das ist eine ganz andere Geschichte ... ein Märchen von Richard von Volkmann-Leander.
Titelbild
Störche.Foto: iStock
Epoch Times26. April 2020

Drei Tage nämlich, ehe der Storch ein kleines Kind bringt, klopft er mit seinem roten Schnabel an das Fenster der Leute, welche es bekommen sollen, und ruft:

„Schafft eine Wiege,

Ein‘ Schleier für Fliegen,
Ein buntes Röcklein,
Ein weißes Jäcklein,
Mützchen und Windel:
Bring ein klein Kindel!“

Dann wissen die Leute, woran sie sind. Doch zuweilen, wenn er sehr viel zu tun hat, vergißt er es, und dann gibt’s große Not, weil nichts fertig ist.

Bei zwei armen Leuten, welche im Dorf in einer kleinen Hütte wohnten, hatte es der Storch auch vergessen. Als er mit dem Kinde kam, war niemand zu Hause. Mann und Frau waren auf Feldarbeit gegangen und Türe und Fenster verschlossen; auch war nicht einmal eine Treppe vor dem Hause, auf die er es hätte legen können. Da flog er aufs Dach und klapperte so lange, bis das ganze Dorf zusammenlief und eine alte Frau eilends aufs Feld hinaussprang, um die Leute zu holen.

„Herr Nachbar, Frau Nachbarin! Herr Nachbar, Frau Nachbarin!“ rief sie schon von weitem, ganz außer Atem, „um Gottes Willen! Der Storch sitzt auf eurem Hause und will euch ein kleines Kind bringen. Niemand ist da, der ihm’s Fenster aufmachen kann. Wenn ihr nicht bald kommt, läßt er’s fallen, und ’s gibt ein Unglück. Oben beim Müller hat er es vor drei Jahren auch fallen lassen, und das arme Wurm ist heute noch bucklig.“

Da liefen die beiden Hals über Kopf nach Haus und nahmen dem Storche das Kind ab. Wie sie es besahen, war es ein wunderhübscher kleiner Junge, und Mann und Frau waren vor Freude außer sich. Doch der Storch hatte sich über das lange Warten so geärgert, daß er sich vornahm, ganz bestimmt den beiden Leuten nie wieder ein Kind zu bringen. Als sie endlich kamen, sah er sie schon ganz schief und ärgerlich an, und während er fortflog, sagte er noch: „Heute wird’s auch wieder spät werden, ehe ich zu meiner Frau Storchen in den Sumpf komme. Ich habe noch zwölf Kinder auszutragen, und es ist schon spät. Das Leben wird einem doch recht sauer!“

Doch die beiden Leute hatten in ihrer Herzensfreude es gar nicht bemerkt, daß sich der Storch so schwer geärgert. Eigentlich war er ja auch ganz allein daran schuld, daß er so lange hatte warten müssen, weil er es ihnen doch vergessen hatte, es ihnen vorher zu sagen. Wie nun das Kind wuchs und täglich hübscher wurde, sagte eines Tages die Frau:

„Wenn wir dem guten Storch, der uns das wunderhübsche Kind gebracht hat, nur irgend etwas schenken könnten, was ihm Spaß macht! Weißt du nichts? Mir will gar nichts einfallen!“

„Das wird schwerhalten“, erwiderte der Mann; „er hat schon alles!“

Am nächsten Morgen jedoch kam er zu seiner Frau und sagte zu ihr:

„Was meinst du, wenn ich dem Storch beim Tischler ein paar recht schöne Stelzen machen ließe? Er muß doch immer in den Sumpf, um Frösche zu fangen, und dann wieder in den großen Teich hinterm Dorf, aus dem er die kleinen Knaben herausholt. Da muß er doch sehr oft nasse Füße bekommen! Ich dächte auch, er hätte damals, als er zu uns kam, ganz heiser geklappert.“

„Das ist ein herrlicher Einfall!“ entgegenete die Frau. „Aber der Tischler muß die Stelzen recht schön rot lackieren, damit sie zu seinem Schnabel passen!“

„So?“ sagte der Mann; „meinst du wirklich rot? Ich hatte an Grün gedacht.“

„Aber, bester Schatz!“ fiel die Frau ein, „wo denkst du hin? Ihr Männer wißt doch niemals, was zusammenpaßt und gut steht. Sie müssen unbedingt rot sein!“

Da nun der Mann sehr verständig war und stets auf seine Frau hörte, so bestellte er denn wirklich rote Stelzen, und als sie fertig waren, ging er an den Sumpf und brachte sie dem Storch.

Und der Storch war sehr erfreut, probierte sie gleich und sagte: „Eigentlich war ich auf euch recht böse, weil ihr mich damals so lange habt warten lassen. Weil ihr aber so gute Leute seid und mir die schönen roten Stelzen schenkt, so will ich euch auch noch ein kleines Mädchen bringen. Heute über vier Wochen werde ich kommen. Daß ihr mir dann aber auch hübsch zu Hause seid, und expreß es erst noch einmal ansagen werde ich nun nicht. Den Weg kann ich mir sparen! – Hörst du?“

„Nein, nein!“ erwiderte der Mann. „Wir werden sicher zu Hause sein. Du sollst diesmal keinen Ärger davon haben.“

Als die vier Wochen um waren, kam richtig der Storch geflogen und brachte ein kleines Mädchen; das war noch hübscher als der kleine Junge, und war nun gerade das Pärchen voll. Auch blieben beide Kinder hübsch und gesund, und die Eltern auch, so daß es eine rechte Freude war. –

Nun wohnte aber im Dorf noch ein reicher Bauer, der besaß ebenfalls nur einen Knaben, und der war noch dazu ziemlich garstig, und der Bauer wünschte sich auch noch ein Mädchen dazu. Als er vernahm, wie es die armen Leute angefangen, dachte er bei sich, es könne ihm gar nicht fehlen. Er ging sofort zum Tischler und bestellte ebenfalls ein paar Stelzen, viel schöner wie die, welche die armen Leute hatten anfertigen lassen. Oben und unten mit goldenen Knöpfen und in der Mitte grün, gelb und blau geringelt. Als sie fertig waren, sahen sie in der Tat ungewöhnlich schön aus.

Darauf zog er sich seinen besten Rock an, nahm die Stelzen unter den Arm und ging hinaus an den Sumpf, wo er auch gleich den Storch fand.

„Ganz gehorsamer Diener, Euer Gnaden!“ sagte er zu ihm und machte ein tiefes Kompliment.

„Meinst du mich?“ fragte der Storch, der auf seinen schönen roten Stelzen behaglich im Wasser stand.

„Ich bin so frei!“ erwiderte der Bauer.

„Nun, was willst du?“

„Ich möchte gern ein kleines Mädchen haben, und da hat sich meine Frau erlaubt, Euer Gnaden ein kleines Geschenk zu schicken. Ein Paar ganz bescheidene Stelzen.“

„Da mach nur, daß du wieder nach Hause kommst!“ entgegnete der Storch, indem er sich auf einem Bein umdrehte und den Bauer gar nicht wieder ansah. „Ein kleines Mädchen kannst du nicht bekommen; und deine Stelzen brauche ich auch nicht! Ich habe schon zwei sehr schöne rote, und da ich meist nur eine auf einmal benutze, so werden sie wohl sehr lange vorhalten. – Außerdem sind ja deine Stelzen ganz abscheulich häßlich. Pfui! blau, grün und gelb geringelt wie ein Hanswurst! Mit denen dürfte ich ja der Frau Storchen gar nicht unter die Augen kommen.“

Da mußte der Bauer mit seinen schönen Stelzen abziehen, und ein kleines Mädchen hat er sein Lebtag nicht bekommen.

Quelle: Richard von Volkmann-Leander, Träumereien an französischen Kaminen, Leipzig

Richard von Volkmann (1830-1889) war ein deutscher Chirurg und Hochschullehrer sowie Poet und Märchendichter aus Halle/Saale. Er veröffentlichte seine literarischen Werke unter dem Pseudonym Richard Leander, seine um 1870/1871 verfassten Märchen nannte er „Träumereien an französischen Kaminen“. Sie wurden zu einem großen Erfolg. Die Sammlung besteht aus 22 Märchen, die er im Deutsch-Französischen Krieg während der Belagerung von Paris für seine Familie verfasste und per Feldpost nach Hause sandte. Er sammelte auch Überlieferungen, die im Volk kreisten.



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