Sonntagsmärchen: Der Burghüter und seine kluge Tochter

Titelbild
Das Schloss oder Chateau von Sully-sur-Loire.Foto: iStock
Epoch Times15. Oktober 2023

Ein armer Burghüter hatte fünfzehn Kinder und nichts zu essen. Da nahm er eines Tages aus der Orgel den Speck, den sich der Herr Pfarrer dahin hatte versorgen lassen, und aß ihn allmählich mit seinen Kindern.

Das letzte Stückchen aber zerschnitt er in kleine Teile, nahm die zwei Heiligen vom Altar, stellte sie mitten in die Kirche und machte ein kleines Feuer neben sie und lief dann zum Herrn Pfarrer und rief: „Ach Herr je, Herr Pfarrer! Die beiden Heiligen essen Euern Speck in der Kirche. Kommt, seht nur, wie sie ihn braten!“

Der Pfarrer eilte schnell hin, nahm die Heiligen im Zorn und warf sie gleich ins Feuer, dass sie verbrannten. „Ihr werdet mir keinen Speck mehr essen!“ rief er zufrieden. Allein bald bereute er, was er im Eifer getan hatte. Der Sonntag war nahe, und zudem sollte auch der König durchfahren und in die Kirche kommen.

„Du bist schuld!“ sprach der Pfarrer zum Burghüter, „dass ich die Heiligen verbrannt habe. Jetzt siehe nur zu und schaffe Rat, sonst geht es dir schlecht!“

„Herr Pfarrer“, sprach der Burghüter, „kümmert Euch nicht. Eure Nachbarn, der Oyns (Andreas) und der Gätz (Georg), sind zwei sanfte und friedliche Leute, die tun Euch den Gefallen und stellen sich hin als Heilige.“ Das war ein kluger Rat, und der Pfarrer ersuchte seine Nachbarn um die Gefälligkeit.

Am Sonntag ganz früh gingen diese, schön angetan, wie die Heiligen gewesen waren, und stellten sich auf den leeren Platz. Da kam viel Volk zur Kirche, und es war großes Gedränge. Endlich kam auch der König, und es begann die kirchliche Handlung.

Nach einiger Zeit blickte einer der Heiligen zum Fenster hinaus und rief seinem Nachbar zu: „Holla! wie gut hat es jetzt meine Kram. Sie ist in Eurem Garten und frisst Rüben!“ Als der andere das hörte, vergaß er, wo und was er war, sprang gleich hinunter und lief durch die Sakristeitüre hinaus. Der andere aber dachte: „Der erschlägt dir im Zorn die Kram“, und sprang ebenfalls hinunter und lief fort.

Das Volk und der König waren erstaunt und wussten nicht, wie das zuging. Nach der Kirche fragte der König den Pfarrer: „Was ist das mit den Heiligen, warum liefen sie fort? Das ist mir noch nirgends vorgekommen!“

„Ja, Herr König“, sprach der Pfarrer, „unsere Kirche ist ihnen zu klein und hässlich. Sie haben es schon seit lange nicht mehr aushalten wollen, und nun haben sie sich vermutlich vor Euch, Herr König, geschämt.“ Das war eine kluge Ausrede vom Pfarrer. Der König aber glaubte, es sei alles wirklich so, und das sei ein Wunder und Fingerzeig für ihn, und er tat seine milde Hand auf und gab dem Pfarrer eine große Summe Geldes und sprach: „Damit bauet eine große und schöne Kirche, dass sie fertig ist, bis ich wiederkomme.“

Die Gemeinde war sehr froh und baute sofort die Kirche. Als sie fertig war, ließen sie über den Eingang schreiben: „Wir leben ohne Sorgen!“ Da geschah es, dass der König wieder hinkam, und er besah die neue Kirche, und es gefiel ihm daran alles, und auch die Heiligen blieben auf ihrer Stelle und schämten sich nicht mehr.

Aber der Spruch über der Türe ärgerte ihn. „Wartet nur, ich will euch schon Sorgen machen!“ dachte er und sprach: „Wenn ihr mir in vierzehn Tagen nicht herausbringt und sagt, welches der schönste Klang, der schönste Sang und der schönste Stein ist, so lasse ich euch alle umbringen!“

Da hatten die Leute in der Gemeinde freilich große Not und wussten sich nicht zu helfen. Der Burghüter aber hatte eine kluge Tochter. Als die von der Sache hörte, sprach sie: „Kümmert Euch nicht, Vater, das ist ja leicht. Ich will es Euch sagen: Der schönste Klang ist der Glockenklang, der schönste Sang ist der Engel Gesang, der schönste Stein, das ist der Weisen Stein.“

Als die Zeit um war, kam der König, und die Leute mussten der Reihe nach, vom Pfarrer und Richter an bis auf den Burghüter, auf die drei Fragen Bescheid geben. Allein mit keiner Antwort war der König zufrieden, bis der Burghüter seine vorbrachte. „So ist es!“ rief der König erstaunt, „Ihr habt es getroffen. Allein das habt Ihr nicht von Euch. Wenn Ihr nicht gleich gesteht, wer es Euch gesagt hat, so müsst Ihr in den tiefen Turmkeller!“ Da sagte der Burghüter, er habe eine kluge Tochter, er wisse es von ihr.

„So?“ sprach der König, „ich will gleich sehen, ob sie wirklich gar so klug ist. Traget ihr diese zwei Fäden. Sie soll mir daraus ein Hemd und ein Paar Unterhosen machen „.

Der Burghüter ging traurig mit den zwei Fäden nach Hause und sagte seiner Tochter den Auftrag. „Siehst du, jetzt wird es dir und mir übel gehen!“ – „Oh, wartet nur, Vater!“ sprach sie und nahm zwei Besenhölzchen und sagte: „Traget die dem König und sagt, er solle mir erst daraus einen Webstuhl und ein Spulrädchen machen.“

Als der König die Antwort hörte, sprach er: „Ei dass dich, die kann es!“ Er nahm aber wieder einen irdenen Topf, aus dem der Boden herausgefallen war, und sprach: „Traget das Eurer Tochter und sagt ihr, sie solle einen Boden hineinnähen, so dass man gar keine Naht und keinen Stich sehe.“

Der Burghüter war traurig und ging und sagte seiner Tochter den neuen Auftrag. „Wartet nur“, sprach sie, „gehet damit zurück. Ich lasse den König bitten, er solle den Topf nur erst hübsch umwenden, denn der Schuster nähe inwendig und nicht auswendig.“

Als der König die Antwort hörte, rief er wieder: „Ei dass dich, die versteht es!“ Nun sagte der König zum dritten Male: „Gehet und saget Eurer Tochter, sie solle zu mir kommen: nicht gefahren, nicht gegangen, nicht geritten, nicht angekleidet und nicht nackt, nicht außerhalb des Weges und nicht im Wege und solle mir etwas bringen, das ein Geschenk und kein Geschenk ist.“

Der Burghüter war traurig und ging und sagte seiner Tochter den neuen Auftrag. „Lasset es nur gut sein, Vater, das will ich schon machen!“ Sie nahm zuerst zwei hohe Teller und legte dazwischen zwei kleine, kleine lebendige Wespen. Dann zog sie ihre Kleider aus und warf ein Fischgarn über sich, ging mit den Tellern in den Hof, führte aus dem Stalle ihren Geißbock in das Gleise im Weg, setzte einen Fuß auf den Rücken des Geißbocks und schritt mit dem anderen auf dem Boden im Gleise zwischen den Füßen des Geißbocks fort.

Als der König sie sah, sprach er: „Ei dass dich, die versteht es!“ Aber nun war er auf das Geschenk begierig, das zugleich kein Geschenk sein sollte. Da hob er den einen Teller auf, und sogleich flogen die beiden Wespen fort, und es war das Geschenk jetzt kein Geschenk. Der König dachte: „Eine Klügere bekommst du in deinem Reiche nicht“ und nahm die Burghüterstochter zum Weibe, aber unter einer Bedingung: sie solle sich in sein Regiment nicht einmischen. Tue sie das, so werde er sie verstoßen. Das versprach die Burghüterstochter gerne und hielt es auch eine lange Zeit getreulich.

Da trug es sich zu, dass eines Tages, während der König auf der Jagd war, zwei streitende Parteien zu Hof kamen und bei der Königin ihre Sache vorbrachten. Beide waren in vergangener Nacht in der Mühle gewesen, der eine mit einem Ochsengespann, der andere mit Stuten, und eine der Stuten hatte ein Füllen geworfen. Das Füllen aber war, als beide am Morgen erwachten, unter dem Wagen gelegen, an dem die Ochsen angespannt waren. Der eine nun behauptete, das Füllen gehöre ihm, denn es sei von seiner Stute, der andere, es gehöre ihm und komme von seinem Wagen, und darum sei es darunter gelegen.

Die Königin lachte und sprach: „Mein Gemahl wird euch Recht sprechen, wenn er kommt. Er ist jetzt im Kornfeld und schießt Fische.“ Der Mann mit den Ochsen lachte und sprach: „Wie können im Kornfeld Fische sein?“ – „So gut“, sagte die Königin, „wie ein Ochsenwagen ein Füllen werfen kann!“ Jetzt erkannte er, dass er etwas Dummes behauptet hatte, und ging beschämt fort und ließ seinen Widerpart recht haben.

Als aber der König von der Jagd heimkehrte und die Sache erfuhr, ging er zu seiner Frau und sprach: „So wehe es mir tut, so musst du dennoch fort von mir. Denn du hast das Gelöbnis gebrochen. Eine Gnade aber will ich dir noch gewähren: Was dir das Allerliebste im Hause ist, das kannst du dir einpacken und mitnehmen. Aber vor Tagesanbruch musst du fort sein!“

Die Königin machte bis gegen Abend alles bereit. Als sie aber zum letzten Male mit ihm bei Tische saß und sie gegessen hatten, sprach sie: „Lasse mich noch einmal mit dir auf dein Wohl anstoßen“. Inzwischen hatte sie, ohne dass er es gemerkt, die Becher gewechselt, und sie hatte in den seinen Schlaftrunk fallen lassen. Der König stieß gerne an und leerte das Glas, und bald darauf fiel er in einem festen, süßen Schlaf.

Die Königin packte ihn sogleich in eine große Kiste und ließ ihn zu ihrem Vater, dem Burghüter, tragen. Sie selbst folgte gleich nach und nahm nur ihr Strickzeug mit. Als sie in dem kleinen Burgzimmerchen waren, nahm sie den König heraus, legte ihn in ein reines Bett und setzte sich daneben und schloss kein Auge die ganze Nacht, wachte und strickte dabei, und der König schlief bis hoch in den Tag hinein und hatte süße Träume.

Nur einmal erwachte er und sah mit großen Augen um sich. „Ach Herr je, wo bin ich?“

„Bei mir, mein Schatz“, und nun erzählte die Burghüterstochter, dass sie von seiner Gnade Gebrauch gemacht. Weil sie aber im ganzen Königspalast nichts Lieberes gewusst als ihn, so habe sie ihn sich mitgebracht.

„O du mein Herzblatt!“ rief der König, „du bist noch tausendmal besser als klug!“ Er führte sie wieder heim in seinen Palast und gab ihr das Regiment in seinem Hause. Und seit der Zeit, sagt man, hätten überhaupt die Frauen das Recht erhalten, im Hause zu regieren.

Aus der Sammlung von Josef Haltrich (1822-1886)



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