Sonntagsmärchen: Die bestrafte Hexe

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Manche Enten sind verzaubert, sagt der Volksmund.Foto: iStock
Epoch Times28. Februar 2021

Es ist einmal eine rechte alte Hexe gewesen, die hatte zwei Töchter, eine rechte Tochter und eine Stieftochter, und die Stieftochter war schön und gut, die rechte Tochter aber boshaft und häßlich.

Da kam ein junger Jäger, nahm die Stieftochter zur Frau, weil sie ihm gut gefiel und zog mit ihr in sein Haus, das im Walde lag. Die alte Hexe stellte sich dazu ganz freundlich; in ihrem Herzen wußte sie sich aber vor Ärger und Bosheit nicht zu lassen, darum, daß der Jäger ihre eigene Tochter nicht genommen hatte, sondern die Stieftochter, die sie gar nicht leiden konnte.

Über eine Zeit kriegte die Jägersfrau einen kleinen Jungen und mußte zu Bett liegen. Da wurde die Stiefmutter geholt, daß sie das Kind wüsche und anzöge, auch die Suppe kochte und sonst zur Hand wäre, wenn die kranke Frau ihrer bedürfen sollte. Der Jäger aber hatte zur Erheiterung und Kurzweil seiner Frau allerlei Vögel in die Stube gebracht, die sangen, und ein Spiel hatte er gemacht von allerlei Glocken, die klangen.

Dicht an dem Hause lag ein großer Teich, auf dem viele Enten schwammen. Nun stand eines Tages die Stiefmutter am offenen Fenster und sah auf den Teich hinaus, und weil des Jägers Frau schon wieder auf Besserung war und zuweilen aufstehen konnte, rief ihr die Hexe zu: „Steh doch auf, mein Kind, und sieh einmal die vielen Enten, die da auf dem Teiche schwimmen.“

Ohne an Arges zu denken, stand die Frau auf und lehnte sich aus dem Fenster, und indem, so gab ihr das boshafte Weib einen heftigen Stoß, daß sie hinab in den Teich stürzte, und verwünschte sie in eine Ente; da schwamm sie nun mit den anderen Enten auf dem Teiche herum.

Ihr Kind aber fing an zu weinen, und ihren Mann befiel zu derselben Stunde eine große Traurigkeit und wußte doch nicht warum; die Vögel sangen nicht, die Glocken klangen nicht. Da nahm die Hexe ihre eigene Tochter, legte sie in der Frauen Bett und band ihr ein Tuch um den Kopf, als ob sie krank wäre, so daß sie der Mann nicht erkennen konnte, als er kam, seine Frau zu besuchen.

Als es nun Abend ward und die Magd allein in der Küche war, kam auf dem Teich her eine Ente angeschwommen, die schnatterte vor dem Gossensteine wie Enten thun: »Niep, Niep! Natt, Natt!« und dann fing sie ordentlich an zu sprechen:

„Weint mein liebes Kind auch noch?
Weint mein lieber Mann auch noch?
Singen meine Vögel auch noch?
Klingen meine Glocken auch noch?“

Da antwortete die Magd:

„Eure Glocken klingen nicht,
Eure Vöglein singen nicht,
Euer Mann und Kind die weinen.“

Darauf ist die Ente wieder weggeschwommen. Den zweiten Abend kam sie wieder, steckte den Kopf durch das Gossenloch und schnatterte ganz betrübt: „Niep, Niep! Natt, Natt!“ und dann fing sie an zu sprechen:

„Weint mein liebes Kind auch noch?
Weint mein lieber Mann auch noch?
Singen meine Vögel auch noch?
Klingen meine Glocken auch noch?“

Und die Magd antwortete:

„Eure Glocken klingen nicht,
Eure Vöglein singen nicht,
Euer Mann und Kind die weinen.“

Darauf sprach die Ente: „Nun komme ich noch ein einziges Mal; dann fasse mich und haue mir den Kopf ab, so bin ich erlöst“, und schwamm fort. Das alles erzählte die Magd ihrem Herrn, der sagte: „Wenn die arme Ente so erlöst werden kann, so mußt du es thun.“

Als nun die Ente den dritten Abend wieder den Kopf durch das Gossenloch steckte, faßte die Magd ein Beil und hieb ihn ab; in demselben Augenblicke, da das Blut floß, wich der Zauber; die Frau war erlöst und ging zu ihrem Manne; der freute sich, daß er seine liebe Frau wieder hatte, denn sie erzählte ihm, wie das alles so gekommen und welcher großen Gefahr sie entgangen war.

Der Jäger, der nun wußte, was die Stiefmutter für ein böses Weib war, ließ sich nichts merken, sondern sann, wie er sich am besten an ihr rächen könnte. Auf den andern Abend lud er eine große Gesellschaft; doch mußte seine Frau noch zurückbleiben.

Wie sie nun alle zu Tische saßen, stand der Jäger auf und fragte, was sie wohl meinten, daß der Mutter geschehen müßte, die ihr Tochter in ein unvernünftiges Thier verwünscht hätte. Da sprang die Stiefmutter auf von ihrem Stuhle und war ganz verblendet und schrie: „Die verdient, daß sie in ein durchnageltes Faß gesteckt und darin so lange gewälzt wird, bis sie todt ist.“

„Du hast dir selbst dein Urtheil gesprochen, du Hexe!“ rief der Jäger und ließ seine Frau herein in die Stube treten. Wie das die Hexe sah, daß sie verrathen war, ward sie kreideweiß vor Schreck und stürzte der Länge nach auf den Boden hin. Da wurde sie in ein Faß gesteckt, welches mit eisernen Nägeln durchschlagen war; das wurde auf den höchsten Berg gebracht und da hinabgerollt. So hat die Hexe ihren verdienten Lohn erhalten.

 

Quelle: Wilhelm Busch (1832-1908, Ut ôler Welt). Die Sammlung „Ut ôler Welt“ beinhaltet Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime, die von Wilhelm Busch gesammelt wurden, sie wurden 1910 herausgegeben.



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