Sonntagsmärchen: Vom Pflasterbub zum Prinzen

Es war einmal ein reiches Ehepaar, das hatte einen Sohn. Der Vater hatte seine Gelder in einer andern Landschaft angelegt. Als der Sohn herangewachsen war, sagte er zu ihm: „Du kannst mich jetzt begleiten, wir holen die Zinsen...“. Ein Märchen aus der Schweiz.
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Ein altes Kulturgut: Märchen vorlesen.Foto: iStock
Epoch Times16. April 2023

Es war einmal ein reiches Ehepaar, das hatte einen Sohn. Der Vater hatte seine Gelder in einer andern Landschaft angelegt. Als der Sohn herangewachsen war, sagte er zu ihm: „Du kannst mich jetzt begleiten, wir holen die Zinsen. Das nächste Mal kennst du dann den Weg und kannst dann allein gehen!“ Der Sohn begleitete den Vater, und sie holten den Zins. Nach einem Jahr sagte der Vater: „Geh und hole mir den Zins, den Weg kennst du ja!“

Der Sohn begab sich auf den Weg und erhielt den Zins, mußte aber in der Stadt über Nacht bleiben. Im Verlauf des Abends ging er spazieren. Da sah er eine Gruppe von Leuten, die einen toten Menschen auspeitschten. Als er fragte, was das zu bedeuten habe, erhielt er zur Antwort: „Das ist hier so der Brauch: wer stirbt, ohne seine Schulden zu bezahlen, wird ausgepeitscht!“

Das schien ihm eine Barbarei zu sein. Er fragte, wie groß die Schulden des Toten seien. Als man ihm die Summe nannte, griff er in den Sack, zog die Zinsen heraus und bezahlte die Schuld, damit der Tote nicht länger mehr geprügelt werde. Dann zog er nach Hause.

Der Vater fragte ihn, wo er das Geld habe. Da zeigte der Sohn den leeren Sack und erzählte seine Erlebnisse. Der Vater wurde sehr böse und schrie ihn an:

Du dummer Narr, der Tote hat ja die Schläge nicht gespürt, lasse mir solche Streiche in Zukunft!“

Nach einem Jahr hieß ihn der Vater wieder den Zins holen, „aber die Dummheiten laß mir sein“, ermahnte er ihn. Der Sohn unternahm die Reise und erhielt den Zins. Auf der Rückreise kam er bei einem großen Gebäude vorüber. Zuunterst in der Mauer war ein kleines Loch, und drin bemerkte er eine Frauenhand, die winkte. Er fragte, wer drin sei. Da rief es aus dem Gefängnis: „Hilf mir heraus, ich bin eine gestohlene Jungfrau!“ Er ergriff ein Messer, vergrößerte das Loch und zog sie heraus. Dann begleitete er sie in die nächste Stadt, suchte eine Wirtschaft, in der er das Mädchen für die Kost verdingen konnte, und drückte dem Wirt den ganzen Zins für sie in die Hand.

Zu Hause angekommen, fragte der Vater, wo er den Zins habe. Er erzählte, wie er dazugekommen, das Geld für ein Werk der Nächstenliebe auszugeben. Da wurde der Vater böse und jagte ihn fort. Da zog er in die Stadt zu dem Mädchen. Dieses erzählte ihm, sie sei eine Königstochter, sie hätte dem Vater geschrieben, und er habe ihr Geld gesandt. Sie lud ihn ein, sie nach Hause zu begleiten, denn sie hatte schon Neigung zu dem tapfern Burschen gefaßt.

Sie mußten über das Meer reisen. Der Kapitän des Schiffes sah wohl, daß die Königstochter in den Begleiter verliebt war. Ihm gefiel sie aber auch, und er machte mit den Matrosen aus, ihn ins Meer zu werfen. Als sich ein Sturm erhob, rief man den Burschen aus der Kabine und bat ihn, auch Hand anzulegen. Als er helfen wollte, wurde er gefaßt und ins Meer geworfen. Er konnte sich an einem Brett festklammern, das ihn über Wasser hielt, und während das Schiff fortzog, wurde er ans Ufer einer Insel geschwemmt.

Die Königstochter weinte und trauerte um den verlorenen Geliebten. Der Kapitän aber brachte sie ihrem Vater, dem König, und sagte, er habe ihr das Leben gerettet und verlange sie zur Frau. Der König war damit einverstanden. Die Tochter aber sehnte sich nach ihrem wirklichen Retter und schob die Heirat immer hinaus; noch ein Jahr wenigstens sollte der Kapitän warten.

Der unglückliche Bursche auf der Insel schaute jeden Tag aus, ob nicht ein Schiff käme, dem er ein Zeichen geben könne. Aber weder Segel noch Mäste zeigten sich, und so verstrich ein ganzes Jahr. Da kam eines Tages ein Hase durchs Wasser geschwommen, der anfing zu reden:

Setze dich auf meinen Rücken und sage mir, wohin ich dich tragen soll!“

Der Bursche nannte die Gegend, wo die Königstochter zu Hause war, und der Hase trug ihn durchs Meer ans Land. Zum Abschied sagte das Tier: „Ich bin der Tote, den man ausgepeitscht und für den du bezahlt hast. Als Hase muß ich meine Schulden abbüßen, aber jetzt bin ich erlöst!“ Damit verschwand er.

Der Bursche wanderte zu und kam in die Residenz. Als Pflasterjunge wurde er im Palast des Königs angestellt. Auf dem Schiff hatte er der Königstochter oft auf einer Flöte vorgespielt. Diese Flöte, die er immer bei sich getragen, hatte er gerettet. Nach Feierabend setzte er sich auf die Mauer und spielte seine alten Weisen. Die Königstochter hörte ihn und sagte:

Wenn er nicht ins Wasser gestürzt wäre, so würde ich sagen, das sei mein Geliebter, der da unten spielt, denn grad solche Melodien hat er geblasen!“

Unterdessen war die Hochzeit angesagt worden, denn das Jahr war um. Zum Hochzeitstage war der Pflasterbub als Flötenspieler eingeladen worden. Beim Gastmahl schlug nun der König vor, jeder der Gäste möchte etwas aus seinem Leben erzählen.

Als der Kapitän an die Reihe kam, erzählte er, wie er seine Braut vor dem sichern Tode gerettet habe. Da wurde auch der Flötenspieler aufgefordert, seine Schicksale zu erzählen. Er sagte: „Gestattet mir zuerst eine Frage an den Kapitän: Welchen Tod erleiden diejenigen auf den Schiffen, die falsch schwören?“

Der Kapitän gab zur Antwort: „Die werden lebendig gevierteilt!“

Da fing er nun an mit seiner Lebensgeschichte, erzählte, wie es ihm ergangen sei, wie der Kapitän ihn ins Meer geworfen habe und wie er wunderbar gerettet worden sei. Die Königstochter erkannte ihn und stürzte in seine Arme. Der Kapitän wurde gefesselt und in den Turm geworfen.

Er sollte nach seinem eigenen Urteil gevierteilt werden, aber der Flötenspieler verwendete sich für ihn; er habe seinerzeit einen Toten losgekauft und er finde, ein Lebendiger sei noch mehr wert. Da wurde der Kapitän aus dem Lande gewiesen, und der Bursche heiratete nun die Prinzessin.

Quelle: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz



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