Storytelling, die Kraft des Geschichtenerzählens

Kinder kommen ohne Prägungen, Erfahrungen und die daraus resultierenden gedanklichen Konstrukte auf die Welt. Für sie sind Geschichten eine Möglichkeit, die Werte einer Gesellschaft zu erfassen, beispielsweise durch charakterstarke Helden mit moralischen Grundwerten der jeweiligen Erzählungen.
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Versprechen muss man halten - lehrt das Märchen vom Froschkönig und dem eisernen Heinrich.Foto: iStock
Von 12. Juli 2019
Überall auf der Welt und in jeder Kultur, ob zu Hause, bei der Arbeit, oder in früherer Zeit beim Ernteeinholen, bei der Brennholzverarbeitung in den Wäldern, oder auf dem Weg zum Markt – Menschen erzählten Geschichten. Früher waren es meist die Barden und die Minnesänger, die Griots und Troubadours, sowie die Dichter und Sänger. Sie alle waren die Hüter der Volksgeschichten und gern gehörte Künstler ihrer Zeit.

Durch Erzählungen dürfen Kinder miterleben, wie die fiktiven Helden schwierige Situationen überwinden.

Der Ursprung der Märchen

Jeder kennt Geschichten, aber woher kommen sie? Und warum gleichen sich viele Geschichten auf der ganzen Welt? Auf den ersten Blick scheint es so, als haben beispielsweise Charles Perrault (1697) oder die Gebrüder Grimm (1812-57) begonnen Geschichten zu erzählen.

Charles Perrault schenkte der Nachwelt Geschichten wie, „Der gestiefelte Kater“, „Der kleine Däumling“ sowie die Geschichte von „Blaubart“. Auch die Geschichte von „Aschenputtel“, die meist den Brüdern Grimm zugeschrieben wird, hat ihren Ursprung bei Charles Perrault.

Die Brüder Grimm waren Sprachwissenschaftler, die eine Märchensammlung aus dem deutschen Volk hinterließen. Aus ihrer Sammlung stammen Märchen wie „Rotkäppchen“, „Frau Holle“, „Rapunzel“ und noch viele mehr.

1896 wurde die Doppel-Statue von Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) in deren Geburtsstadt Hanau (Deutschland) enthüllt. Foto: iStock

Heute wissen wir, dass Volksgeschichten die Wiedergaben mündlicher Traditionen sind. Diese reichen viel weiter in die Vergangenheit zurück als Perrault oder die Gebrüder Grimm.

Mit dem globalen Handel gelangten viele Geschichten in ferne Länder. Diese Volksgeschichten wurden an Häfen, Marktplätzen und Wallfahrtsorten zum Besten gegeben. Venedig, Neapel, Genua und Sizilien waren zu jener Zeit bedeutende Zentren für Geschichten aus aller Welt. Auf diesem Weg erreichten uns beispielsweise die „Geschichten aus Tausend und einer Nacht“.

Volksmärchen – Kunstmärchen

Märchenwissenschaftler unterscheiden zwischen echten Volksmärchen und literarischen bzw. Kunstmärchen. Erstere sind üblicherweise anonym und die Helden unbesiegbar, die letzteren signiert und datiert.

Volksmärchen werden in einem typischen schwarz-weiß Erzählmuster dargeboten. Gut und Böse sind darin eindeutig identifizierbar. Sie wurden über viele Generationen mündlich weitergegeben, verschriftlicht aber erst ab dem Mittelalter. Ihre Dynamik und Variabilität ist dadurch grenzenlos und je nach Wertekonstrukt der jeweiligen Region wurden jene Geschichtsteile hervorgehoben, die dem Ideal der erzählenden Gesellschaft entsprachen.

Die Hauptfigur von Volksmärchen ist mit Merkmalen wie Mut, Schönheit und Klugheit charakterisiert. Dem Wesen nach symbolisieren sie Loyalität, Treue und Ehrgefühl und wenn sie einen Makel in dieser Hinsicht aufweisen, so wird dieser durch magische Kräfte eines verdorbenen Wesens aufgezwungen. Bei Volksmärchen gewinnt am Ende immer das Gute.

Kunstmärchen können einem Verfasser zugeordnet werden. Sie lehnen sich meist vom Inhaltlichen den Volksmärchen an. So beinhalten ihre Geschichten sowohl Zauberhaftes wie Fabelhaftes, jedoch ist die Erzählstruktur eine andere.  Beispielhaft dafür ist die Geschichte des „kleinen Mädchens mit den Schwefelhölzchen“,vom Märchendichter Hans Christian Andersen. Diese Erzählung zeigt einen sozialkritischen Inhalt auf, welcher in Volksmärchen nicht verborgen liegen würde.

Kennzeichnend in literarischen Märchen ist auch der innere Konflikt des Helden. Die Hauptfigur muss meist bewusst eine Wahl zwischen Gut oder Böse treffen, also zwischen realistischen Vorteilen oder ideologischen Werten wählen. Bei Kunstmärchen siegt am Ende nicht immer das Gute.

Die Brücke zwischen Mythen und der Realität 

Legenden und Mythen werden von der Realität der jeweiligen Zeit geprägt und können an einen Ort zurückgeführt werden, wie etwa die Legende von „Rübezahl“, welcher als Berggeist des Riesengebirges bekannt wurde, von Verfasser Johann Karl August Musäus.

Ein Märchen hingegen ist aus Elementen des Zauberhaften und Fantastischen, sowie ideologischen Grundwerten zusammengesetzt. Es fungiert daher als Bindeglied zwischen einer mythologischen Vergangenheit und der gegenwärtigen Realität, denn sie werden der Umgebung und den aktuellen Gegebenheiten angepasst erzählt.

Daher wurden rein informative Geschichten nicht mit Titeln versehen. Solche Geschichten stellen die Wurzeln unserer Werte und Ideologien dar und sind Ausdruck aller Themenbereiche, die das Volk zu jener Zeit bewegte. Das Leben unserer Vorfahren war mit den Geschichten sehr eng verbunden.

Die Geschichten, welche sowohl Ungewöhnliches als auch Spektakuläres wiedergaben, haben den Zuhörern manchmal durch die darin enthaltene Magie Hilfestellungen geboten. Sie lehrten den Menschen die Welt, die sie umgab, zu verstehen. Storytelling ist die Kunst, komplexe Sachverhalte in beispielhafte Situationen zu übersetzen.

Kulturelle Wertevermittlung

Kinder kommen ohne Prägungen, Erfahrungen und die daraus resultierenden gedanklichen Konstrukte auf die Welt. Für sie sind Geschichten eine Möglichkeit, die Werte einer Gesellschaft zu erfassen, beispielsweise durch charakterstarke Helden mit moralischen Grundwerten der jeweiligen Erzählungen. Durch solche Erzählungen dürfen sie miterleben, wie die fiktiven Helden schwierige Situationen überwinden.

Gegenwärtige Konstruktionen der eigenen Gesellschaft sind ebenso Teil dieser Geschichten, wie auch der Aufbau von fremden Kulturen. Viele Bräuche und Lebenserfahrungen werden in Geschichten dargeboten und erklärt. Anhand von Geschichten erlernen die Kleinsten auch, welche Konsequenzen ihnen wiederfahren könnten, wenn sie sich nicht an die Regeln der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft halten.

Wertvolle gemeinsame Zeit – Kinder lieben es immer wieder die gleichen Geschichten zu hören. (Bild: iStock)

Vergeben Sie ein Ticket ins Zauberland

Im Gegensatz zum digitalen Geschichtenkonsum (z.B. TV oder Youtube etc.) bietet Storytelling, also das verbale Erzählen von Geschichten, Kindern die Möglichkeit ihre eigene Fantasie frei zu entwickeln. Die Entfaltung der Vorstellungskraft ist mit der Kreativität verbunden, sowie die geistige Flexibilität mit der Fantasie heranreift.

Die Stimme und der Ausdruck des Geschichtenerzählers verwandelt die Welt der Kinder überall und jederzeit in ein Land voller Abenteuer – ein Abenteuer, ausgelöst durch reale, lebendige und menschliche Interaktionen. Es gibt viele Künstler im Bereich des Geschichtenerzählens.

Sie verstehen sich sehr gut darauf, mit ein wenig Übung und Vertrauen, Kinder, wie auch Erwachsene durch spannende sowie unterhaltsame Geschichten in den Bann zu ziehen. In den Köpfen der Zuhörer werden fantastische Bilder erzeugt. Verbal erzählte Geschichten haben viel Raum sich zu entfalten. Ein aktiver Zuhörer interagiert mit dem Erzähler in verschiedenen Formen, wie Körpersprache, Gesichtsausdruck, Fragen stellen, usw. Menschen jeden Alters lieben Geschichten.

Bedeutung schaffen

Kinder nehmen auch selbst gern die Rolle des Geschichtenerzählers ein. Manchmal können sie sogar das Erdachte von der Realität nicht unterscheiden. Geben Sie dem Nachwuchs eine Möglichkeit den Unterschied kennenzulernen, indem Sie ihnen die Kunst und die Praxis des Geschichtenerzählens selbst lernen.

Durch das Zuhören verinnerlichen sogar die Kleinsten die Rhythmen und Töne der Worte der Geschichtenerzähler. Sie lernen durch Beobachten, wie man Worte und Gesten kombiniert, um die Geschichte kraftvoll darzubieten und den Charakteren in Geschichten, sowie deren Abenteuern Leben einzuflößen.

Wenn Sie das Vokabular ihrer Kinder erweitern möchten, dann nehmen Sie unbekanntere Wörter beim Erzählen. Deren Bedeutung werden die Kinder durch den Kontext der Geschichte zusammensetzen können. So wurde schon in der Vergangenheit auf sinnvolle und dauerhafte Weise die Flexibilität der Sprache vermittelt.

Wissenschaftliche Erkenntnisse

Die Universitäten in Durham und Lissabon konnten nachweisen, dass es sich bei Märchen wie „DieSchöne und das Biest“ um tausend Jahre altes Erbgut handelt. Sie haben prähistorische Wurzeln und sind somit älter als die frühesten literarischen Aufzeichnungen.

Der Anthropologe: Dr. Jamie Tehrani von der Durham Universität, meint in einem Gespräch mit der BBC: „Jack und die Bohnenranke“ sei in einer Gruppe von Geschichten verwurzelt, welche bereits vor mehr als 5.000 Jahren erzählt wurden.

Demnach sind „Die Schöne und das Biest“ sowie „Rumpelstilzchen“etwa 4.000 Jahre alt. Aber das sind nicht die ältesten Überlieferungen. Es gibt laut Tehrani auch geschichtliche Funde, die bis in die Bronzezeit zurückreichen.

Internationales Storytelling Festival in Österreich

Auch heute noch begeistern Geschichtenerzähler auf der ganzen Welt Jung und Alt. (Bild: iStock)

Folke Tegetthoff hat zum ersten Mal 1988 zum Internationalen Storytelling Festivalin Österreich eingeladen. Seither sind über 300 Künstler aus über 60 verschiedenen Ländern aufgetreten. Die Vielfältigkeit an Variationen des Geschichtenerzählens können auch in diesem Jahr wieder an drei Standorten in Wien, Niederösterreich und der Steiermark erlebt werden.

Folke Tegetthoff meint dazu: „Bei unserem Festival ging es immer schon darum, Geschichten zu erzählen und in all den Jahren der Vervielfältigung, der Erweiterung und dadurch bedingt auch des stetigen Wandels, verfolgen wir dennoch immer noch dieses eine Ziel: Erzählen, Zuhören & Gehört werden. Doch erzählt und zugehört wird nicht nur mit dem Mund und den Ohren, sondern mit dem gesamten Körper.“

Der Artikel erschien zuerst bei visiontimes.net



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