Zum Tag des Hörens: Probenbesuche in der Philharmonie

Probenbesuche in der Berliner Philharmonie bei Nikolaus Harnoncourt gehören zu den begehrten Ausnahmen für Musiker.
Titelbild
Nikolaus Harnoncourt bei Orchesterproben in der Philharmonie.Foto: Werner Kmetitsch.
Von 23. November 2011

Wir sind an diesem sonnigen Oktobernachmittag etwa ein Dutzend Zuhörerinnen und Zuhörer, die in Block B Platz genommen haben. Der Dirigent begrüßt die Musiker mit seinem warmen österreichischen Dialekt – eine Stimme, deren Klang ich nur zu gut von einem Workshop, aus Fernsehinterviews oder von CD-Aufnahmen her kenne. Immer schwingt für mich etwas Heimatliches dabei mit, und ich empfinde ihn als einen meiner musikalischen Väter, seit ich ihn Mitte der siebziger Jahre zum ersten Mal spielen, dirigieren und reden hörte. Die Rede ist von Nikolaus Harnoncourt, der in dieser Probe zunächst die Messe C-Dur von Beethoven mit dem Rundfunkchor und den Berliner Philharmonikern, im zweiten Teil der Probe Beethovens „Fünfte“ mit dem Orchester alleine mit den probt.

Trotz der phänomenalen Akustik der Philharmonie gelingt es mir nicht, immer im Einzelnen zu verstehen, was Harnoncourt dem Chor, dem Orchester mitteilt. Der Versuch, alles mitzubekommen, ist eine Anstrengung ganz eigener Art, denn ich möchte möglichst viel mitbekommen, sind es doch oft goldene Worte und Sprachbilder, die einen veränderten Klang, einen bestimmten musikalischen Gestus bei den Musikern evozieren sollen. Und diesem Veränderungsprozess hautnah beizuwohnen ist gerade das Spannende an einem Probenbesuch. Dazu kommt meine Faszination am Menschlichen und Psychologischen: zu sehen, zu hören, zu erleben und zu erfühlen, dass hinter der manchmal hochglanzartig und distanzierend wirkenden Fassade dieses Orchesters die Individuen in ihrer Präsenz und Verbindung untereinander sichtbar werden – Musiker in ihrem Arbeitsalltag, von dem die Proben ja ein wesentlicher Teil sind.

Eine Chorsängerin des Wiener Arnold-Schönberg-Chors hat vor einigen Jahren ein Büchlein mit den gesammelten Sprachbildern, die in der Probenarbeit mit Harnoncourt während der vielen Jahre der Zusammenarbeit entstanden sind, herausgegeben: „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“, ein typisch harnoncourtsches Paradoxon. Ein anderes Paradoxon ist für mich, dass der bald dreiundachtzigjährige Harnoncourt jugendlicher wirkt als der Dreißigjährige. Ich denke dabei an den Bach-Film von Jean Marie Straub aus dem Jahre 1967. In einer Szene musiziert Nikolaus Harnoncourt in der Rolle des fürstlichen Brotgebers mit Gustav Leonhardt als dessen Hofmusikus J. S. Bach. Die beiden spielen, verkleidet mit historischen Kostümen und gelockten Perücken, auf Originalinstrumenten eine der bachschen Gambensonaten … Was liegen für Welten zwischen dieser Filmrolle, der gebremst wirkenden Körpersprache des jungen Harnoncourt und der Agilität des nun über Achtzigjährigen! Beethovens Ausdruckswillen hat er offensichtlich seinem eigenen anverwandelt und überträgt ihn mit der ihm eigenen Gestik und Mimik mit ihren „rollenden“ Augen auf die Philharmoniker! Meine Begleiterin, die merkwürdigerweise noch nie etwas von diesem Dirigenten gehört und gesehen hat, bemerkt, dass er „irgendwie anders als andere“ dirigiere. Dirigieren Sie so wie wir spielen oder sollen wir so spielen wie Sie dirigieren? Ich habe nicht einen Augenblick einen Zweifel, wie diese altbekannte Anekdote in der Verbindung zwischen Harnoncourt und den Musikern ausgelegt und beantwortet werden muss.

Es war immer ein Erlebnis für sich, wenn ich in früheren Konzerten in der Philharmonie von einem Podiumsplatz im Rücken des Orchesters aus einem Dirigenten wie Harnoncourt zusah, dessen Augenspiel, Mimik und Gestik sich so ungestellt und direkt aus dem Inneren heraus sich auf die Musiker übertragen. Harnoncourt hat oft allergisch gegen das Etkett „authentisch“ oder „authentische Aufführungspraxis“ reagiert. Authentisch kann ja immer nur der Einzelne sein in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu anderen Menschen. Hier also steht der Dirigent, der Mensch Nikolaus Harnoncourt, ohne Pose, Podest und Dirigentenstab, in seiner Arbeitskleidung Cordhose und weißem (mal nicht, wie so oft, kariertem), bequemen Baumwollhemd. Er macht Bemerkungen, hier und da eingestreut, die die Musiker und uns Probengäste mitunter schmunzeln lassen, Gelächter entfachen– etwa, wenn er den Beginn des letzten Satzes der fünften Beethoven-Sinfonie, mit dem er die Probe beginnt, mit einem lauernden Riesenkrokodil vergleicht, dass plötzlich seinen Rachen weit aufreißt … .Oder mein Aha- Erlebnis, als er – als Ergebnis seiner Beethoven Studien – das Thema des Finales mit dem französischen la Li-ber-te’ unterlegt.

So oft ich dieses Werk auch schon gehört habe und jedes Mal davon berührt worden bin – nach den zwei Probentagen, die ich miterlebte, waren die Wirkung, die Berührung, meine Resonanz durch die letzte der drei Aufführungen, die ich Samstag Abend in der vollbesetzten Philharmonie hörte, besonders stark. Das ging offensichtlich den meisten Zuhörerinnen und Zuhörern ebenso: nach dem Schlussakkord brach ein Riesenjubel aus, der sich schnell zu „standing ovations“ steigerte. Als das Orchester schon das Podium verlassen hat und viele schon dabei sind, den Saal zu verlassen, kommt er, als die meisten schon nicht mehr damit rechnen – typisch Harnoncourt – noch einmal alleine zurück, und die Gesten, mit denen er die erneut aufbrandende Begeisterung des Publikums entgegennimmt, ist alles andere als die eines selbstgewissen „Siegers“. Eher die eines Zweiflers, eines Menschen, den dieser brausende Applaus in sichtbare Verlegenheit setzt: Wen meint ihr damit ? Meint ihr Beethoven, sein grandioses Werk ? Meint ihr mich … nein, bitte, nicht mich, wer bin ich schon … ich hab’s halt vermittelt, ja schon, aber es geht doch nicht um mich. So höre ich ihn „sprechen“ , so „sprechen“ sein Körper, seine Arme, seine Blicke.

Doch zurück zur Probe: Harnoncourt fordert von den Musikern einen Beethoven, ohne die Leidenschaft und den musikalischen Gestus der (Selbst-) Befreiung zu übertreiben, zu puschen. Ich begreife daran (im unwillkürlichen Vergleich mit anderen Auslegungen der „Fünften“, warum gerade Beethovens Musik sich so gut ideologisch funktionalisieren ließ und lässt, indem man ihre Energieaufladungen und Ausbrüche mit ganz anderen, suggestiv – ideologisierten Programmen unterlegt hat als die, die Beethoven vermutlich meinte oder fühlte. Selbst dieses Orchester unterliegt hier und da der Schwere von Pathos und „Schwerkraft“: mit weit vom Körper ausgestreckten Armen und Händen bricht ein unbeirrbarer Harnoncourt an solchen zu breit und zu laut geratenen Stellen ab: „Bitte, spielen Sie da, wo forte steht, wirklich nur forte und noch nicht fortissimo. Wir brauchen diese deutlichen Unterschiede, sonst gibt es keine Steigerung, keinen Höhepunkt mehr , bitte …!“ . Unverzüglich lässt er die betreffende Stelle wiederholen und, was mich immer wieder erstaunt, ist nicht nur das sofortige konzentrierte und präzise Einsetzen der Musiker, kaum dass die Taktzahl ausgesprochen und der Einsatzschlag gegeben wurde, sondern auch die unmittelbar hörbare Umsetzung solcher pragmatischer Ansagen. In diesem Ausbalancieren und Herausplastizieren des dynamischen Reliefs gewinnt die Musik Beethovens eine vorwärtstreibende, dynamisierende Kraft und ein ungewohnt schlankes Profil.

Die Philharmoniker werden jetzt von den Schlägen des Dirigenten regelrecht getrieben, von Einsatzschlägen, die immer einen Bruchteil früher kommen als die Einsätze der Instrumente. Harnoncourt hetzt das Orchester geradezu vor sich her. Wie lange mag das in diesem Tempo gut gehen? Fällt gleich alles auseinander? Werden die Kontrabässe da noch mithalten? Sprechen deren Saiten überhaupt noch richtig an? Dieses Prestissimo erscheint mir als das Äußerste, was man den Musikern noch abverlangen kann … ein Grenzgang. (So wie vorhin im ersten Teil der Probe mit dem Rundfunkchor das Miserere aus Beethovens C- Dur Messe: Männerstimmen und Streicher bewegten sich in einem unfassbaren Grenzbereich des Pianissimo – noch ein „Mü“ weniger, und die Töne hätten nicht mehr angesprochen.)

In der wilden Jagd, die Harnoncourt hier herausfordert und forciert, einem Reiter gleich, der seinem Ross unnachgiebig die Sporen gibt, verliert die Musik für meine Ohren ihre Klarheit und Durchhörbarkeit. Mir fallen die gedrungenen und gebremst wirkenden Tempi Celibdaches ein, die er unter anderem mit der Notwendigkeit der Entfaltung des Obertonspektrums der Instrumente begründete. Vielleicht täte jetzt der Musik ein Schuss „Celi“ doch ganz gut? Die Musik bricht ab, Schweißperlen werden abgewischt, Lachen, Kopfschütteln, Köpfe, die sich tuschelnd zueinander neigen, ein erleichtertes Aufatmen, auch bei uns Zuhörern …

Vor mir, linkerhand in der dritten Reihe in Block A, regt sich jemand, der bislang ein Bild unerschütterlicher Konzentration und Ruhe abgab: Alice Harnoncourt, die Frau des Dirgenten, mit der Partitur in den Händen. Was sie jetzt wohl denkt und sagen würde, diese lichte, liebenswürdige „Eminenz“ im Hintergrund, die so oft dabei ist? Lange habe ich sie nicht mehr gesehen. Als ich ihr vorhin in der Pause auf dem Weg in die Kantine begegnet bin, empfand ich, wie trotz aller unverkennbaren Spuren des Alters der leise lächelnde, wissende Zug um ihre Mundwinkel wie eh und je da ist. Der scheinbar grantig-grimmige Habitus von „Niki“, wie Nikolaus Harnoncourt von Nahestehenden genannt wird, findet in seiner Frau (die ja alles anderer als nur „die Frau an seiner Seite“ war und ist) mit ihrer zugewandten Freundlichkeit ihre komplementäre „Farbe“. Ich vermute, dass sie, die ein Leben und ein Lebenswerk lang hinter ihm stand und steht, ihm nachher vielleicht zu bedenken geben wird, dass dieser „Parforceritt“ des Guten zuviel war. Oder, wenn ich mich eben nicht verhört habe: hat nicht auch der Konzertmeister Daniel Stabrawa dieses Tempo diplomatisch infrage gestellt ?

Wer eine Frage hat, fragt und bekommt eine Antwort: einfach und normal verläuft die Kommunikation in dieser Probe. „Gestern wurde ich dafür angeklagt!“ ruft der Paukist halb empört, halb belustigt, dass er einen Paukeneinsatz nun doch wieder lauter spielen soll. „Von einer Anklage kann gar keine Rede sein,“ beschwichtigt Harnoncourt den gespielt Entrüsteten, den er ihn trotz des scherzhaften Untertones ernst nimmt.

Ich erinnere mich an eine Situation während eines Workshops mit einem Studentenorchester in der UDK vor einigen Jahren. Die Honoratioren der Hochschule saßen gesammelt in der ersten Reihe. Als Harnoncourt nach zwei Stunden intensiver Arbeit an Mozarts Posthornserenade schließlich die verdiente Pause ausrief, bewegte sich das „Direktionskonsortium“ Richtung Bühne hinterm Orchesterpodium. Dort standen sie, warteten, spähten hinaus zum Podium, ob Harnoncourt denn nicht endlich zu ihnen käme. Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Stattdessen verbrachte er die gesamte Pause zwischen Dirigierpult, Notenständern, gebeugt über Partitur und Stimmen, vertieft in Gespräche mit Studenten, Fragen beantwortend, vereinzelte Autogrammwünsche erfüllend, Bekannte begrüßend oder von Unbekannten angesprochen – ein ansprechbarer Mensch, der jeden ernsthaften Frager sein Anliegen für voll nimmt, ohne Pose, und künstlich aufrechterhaltene Distanz oder gar Grantigkeit (und natürlich in seiner schon erwähnten bequemen Arbeitskleidung). Vergeblich warteten diese sicherlich sehr wichtigen Persönlichkeiten der Hochschule auf ihn. Schließlich war die Pause zuende und weiter ging’s mit der intensiven Probenarbeit und den Fragen und Diskussionen mit den Teilnehmern des Workshops. Wer waren hier eigentlich die wichtigen Leute und die wichtigen Sachen, um die es ging?

Immer wieder unterbricht Harnoncourt den drängenden Fluss der Musik, mit plötzlich ausgestreckten Armen, die Handflächen beschwichtigend und entschieden fordernd nach unten weisend: Flügel, Schwingen eines großen, landenden Vogels; eine unmissverständliche und anhaltende Geste, die schließlich auch den letzten erreicht. Eine Vollbremsung aus vollem Lauf ist die Folge: austrudelnde Zweiunddreißigstelläufe, ein abgerissener Oboenton, wie ein Irrwisch die Pikkoloflöte, Blechbläserakkorde, die ins Leere schallen. “Entschuldigung!“ ruft er in die letzten Wirbel der abrupt gestoppten Erregung. Erst jetzt ist es still, die volle Aufmerksamkeit der Musiker bei ihm. „Entschuldigung! Bitte, spielen’s die Achtelbewegungen nicht „Da-Da-Da-Da, sondern betonen sie jeweils die zweite Achtel weniger stark: Ti-a, Ti-a ! Bitte nochamoal dieselbe Stelle von Buchstabe H. Buchstabe H bitte …!“ Präzis und blitzartig kommt der Einsatz des Orchesters, das die Stelle nun hörbar verändert spielt, sozusagen entspannter, rhythmisch freilassender. Das klingt so einfach, scheinbar, was und wie Harnoncourt dem Orchester das vermittelt: detaillierte Vorstellungen aus dem quasi mikrokosmischen Bereichen der gedruckten Partitur; Forderungen im Gewande des Wunsches und mit der Bitte um Nachsicht, freilich immer wieder nachdrücklich unterstrichen durch die eindeutige Körpersprache. Harnoncourts „Einsen“, die Schwerpunkte und Betonungen eines Taktes, wirken dabei nie lastend, sondern hochfedernd oder von ihm wegfedernd. Mir scheint das fast ein schlagtechnisches Paradoxon: hat denn die Betonung der „Eins“ nicht nach unten zu gehen? Bei ihm jedoch habe ich den Eindruck, dass ihre Hauptenergie sich im Hochfedern der Arme und Hände entfaltet. Der Energiezuwachs als Schwerpunkt, als Akzent innerhalb der Klangrede liegt bei Harnoncourt also meist im Loslassen, im Auftrieb, gleich einem Ball, der, unter die Wasseroberfläche gedrückt, sogleich wieder hochschnellt. Doch erlebe ich auch dies (und ich war sehr gespannt, ob er’s im Konzert annähernd wiederholen würde): wie Harnoncourt ganz nahe an das Orchester herandrängt, vor den Streichern und Blechbläsern wiederholt förmlich in die Knie geht, dabei immer wieder gleichzeitig beide Arme und die zu Fäusten geballten Hände hochschnellt und wieder schwer auf die „Eins“ herunterreißt: ein zorniger Ausbruch unerbittlichen Beharrens, Forderns, Antreibens, mit dem er die mächtigen wiederholten Akkordblöcke überspitzt, fast wie bei einem Trotzanfall … (In der Generalprobe tags darauf und ebenso wie drei Tage später im Konzert wartete ich vergebens auf einen ähnlichen Ausbruch dieses Furors. Es hatte Harnoncourt genügt, in der Probe einmal mit dieser Intensität zu zeigen, was in der Musik los ist und welche Ausdrucksgrenze oder Grenzüberschreitung er von den Musikern verlangt.)

Wie verliefen im Gegensatz dazu die ersten fünfzehn Minuten der Probe, gemeinsam mit dem Rundfunkchor: kribbelig, unruhig; immer wieder macht irgendjemand „psst“ oder „schscht“ . Es „dauert“, bis die Probe in Fluss kommt und endlich alle „im Boot“ sind. Als dann aber alle bei der Sache sind, geht es Schlag auf Schlag: Ansage, Einsatz, Abbrechen mit den großen Schwingen, erneute Ansage; ein Einsatz der Holzbläser, jedoch ohne die Streicher: Aha, so ist diese Stelle gemeint … Ich habe in anderen Proben (z.B. mit Simon Rattle) erlebt, dass diese schnittartigen Wechsel womöglich noch schneller vor sich gingen, noch intensiver, voll von knisternder, funkensprühender Intensität und Konzentration, höchste Präsenz und Aufmerksamkeit bei ausnahmslos jedem erfordernd. Die Hände der Streicher, die unbegreiflich schnell über die Griffbretter ihrer Instrumente hinhuschen: ich begreife aufs neue das Wunder der menschlichen Hand ….

Vor einigen Monaten sah und hörte ich an derselben Stelle, an der Harnoncourt agiert, Pierre Boulez. Wie er da stand, klein von Gestalt, ruhig und sehr aufrecht stehend, kontrolliert und gemessen-kontrollierend in seiner Zeichengebung und Mimik wirkte er auf mich wie ein mittelalterlicher Baumeister. Die große Partiturmappe unterm Arm schritt er aufs Podium, legte sie aufs Pult, zeigte, wies an, freundlich, sachlich, wie ein Architekt, der seinen Bauplan erläutert; selbst der – wie ich es empfand – mit leise provozierendem Unterton hingeworfene Satz eines Musikers „Wenn Sie es so wollen, spielen wir es natürlich auch so“ brachte ihn nicht aus seiner Ruhe und Freundlichkeit … . Vor dem allerersten Einsatz zu Strawinskys „Le Rossignol“ schnappte ich ein paar Worte auf über die Stille, aus der die Quintklänge des Anfangs hervorgehen sollen. Es wurde still, eine Stecknadelstille. Boulez atmet, erhebt die Arme zum Einsatz: in diesem Moment jauchzt ein Säugling auf, den eine Musiker- Ehefrau mit in die Probe gebracht hat. Boulez lässt die Hände wieder sinken, wendet sich einen Augenblick um, kommentiert schmunzelnd diese vielleicht menschlichsten aller menschlichen Laute; erheitertes Raunen im Saal und bei den Musikern. Wer nun aber befürchtet hatte, dass im Folgenden der Winzling bei den Klängen Strawinksys „Theater“ gemacht hätte, wurde gründlich eines besseren belehrt. Der oder die Kleine blieb fortan völlig ruhig, lauschte oder schlief oder tat beides zugleich, mehr als zwei volle Stunden lang.

Als der Pianist Wilhelm Kempff vor Jahrzehnten einmal nach einem Konzert die schwedische Dichterin Selma Lagerlöf besuchte, fragte diese ihn, ob ihm, wenn er spiele, die toten Meister erscheinen würden. Kempff wehrte ab: „Nein, nein, so nicht. Ich denke nur an sie. Wenn es bei Beethoven geschieht, dass er uns bis ins Tiefste ergreift, dann ist er gegenwärtig, ist er bei uns, ist er in uns.“ Selma Lagerlöf wollte weiter wissen: „Sagen Sie mir, wie kommt das, dass mir gestern ihre Improvisationen einen größeren Eindruck gemacht haben als alles andere, was sie gespielt haben? Ist das ein Zeichen, dass ich noch nicht gelernt habe, Musik richtig zu hören?“ Kempff antwortete darauf: „ Ich meine, eine Improvisation schafft aus dem Augenblick. Sie ist nicht wiederholbar, und täte man es doch, so wäre aller Zauber dahin. Beethoven soll mit seinen Improvisationen einen ungeheuren Eindruck auf die Zuhörer gemacht haben. Es war, als ob ein Blitz vom Himmel fiel. Doch damit war es auch getan. In seinen Symphonien aber ist ein Licht angezündet, das noch heute brennt und nicht erlöschen wird. Wollte man bei ihrem Vortrag, der nicht ein Neuschaffen, sondern ein Nachschaffen erfordert, wollte man dort improvisieren, dann würde man alles das, was durchdacht, was von bezwingender Logik ist, zerstören. Um Gesetze zu befolgen muss man sie auch kennen.“

In diesen Probentagen erlebte ich, mit welcher Intensität und Liebe zum Detail Nikolaus Harnoncourt gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern Beethovens Klangrede im nachschaffenden Prozess vergegenwärtigte. Dabei würde er zwar, ebenso wie damals Wilhelm Kempff, wohl weit von sich weisen, dass ihm die toten Meister erscheinen. Mir schien jedoch, wie wenn Harnoncourt sich mit Beethoven duzen würde, ganz vertraut mit dessen Denken, Fühlen und seinen Willensimpulsen. Um Gesetze zu befolgen, muss man sie auch kennen. Und doch: war in diesen Proben und im Konzert, das ich dann noch als Krönung hörte, Beethovens Musik nicht wie improvisierend aus dem Augenblick geschöpft, unwiederholbar und einen ungeheuren Eindruck bei uns Zuhörern hinterlassend? War es nicht, als ob ein Blitz vom Himmel fiel und als wäre zugleich ein Licht angezündet worden, das noch heute brennt und nicht erlöschen wird? Ja, so war es – Nikolaus Harnoncourt sei Dank! Und dabei nicht zu vergessen: Alice Harnoncourt und die Philharmoniker mit ihrer ansteckenden Hingabe an die Musik.

Jürgen Motog ist Musiker, Pädagoge und Therapeut. Er leitet in Caputh bei Potsdam das „Haus der Klänge“.

http://haus-der-klaenge.de/hdk.htm

 



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