Zum Tode des Musikers Gustav Leonhardt

Von 22. Januar 2012

Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt trafen sich schon während ihrer Studienzeit und belebten seither – jeder auf seine Art – das Musikverständnis von Generationen.

Zwei junge, hochbegabte Musiker – der eine ist ein Spross einer Amsterdamer Patrizierfamilie, der andere ein direkter Nachfahre des österreichischen Kaisers Franz I. und des Erzherzogs Johann – begegnen sich erstmalig um 1950 während ihres Studiums an der Wiener Musikakademie in den Vorlesungen des legendären Josef Mertin, einem Kauz und Sammler alter, längst vergessener Musikinstrumente, zugleich Kenner und Vermittler alter Spielweisen, Notationen, Les- und Denkarten über die Musik der Zeiten Bachs und der vorbachschen Zeit.

Die Begeisterung Mertins, seine profunde Kenntnis und Genauigkeit beim Versuch, alte musikalische Quellen und Texte zu entschlüsseln, verstehen und in gegenwärtig-reflektierte, lebendige Spielpraxis zu übersetzen, wirken auf die beiden jungen Männer ansteckend und treffen auf einen fruchtbaren Boden.

Mitteleuropa liegt damals noch zerstört in Ruinen, die Sehnsucht jedoch nach einem geistig fundierten Neuanfang ist gewaltig. Damals werden die Menschen in den Impulsen des Neubeginns auch in den großen Werken der Vergangenheit fündig: an den Ruinen etwa der zerstörten Dome und Kirchen lesen und erkennen Kunsthistoriker, Restaurateure, Architekten, Steinmetze und Denkmalpfleger die bis dato verborgenen Baugeschichten und Konstruktionsgeheimnisse der Romanik und Gotik ganz neu. Aus diesen Erkenntnissen speist sich der Wiederaufbau scheinbar unwiederbringlich zerbombter Bauwerke. Das im Angesicht der unermesslichen Zerstörung für unmöglich Gehaltene des Wiederaufbaus beginnt mit seiner Verwirklichung aus dem Geist der alten Meister…

Die Faszination des Cembalo

In dieser Atmosphäre entdeckt der fünfzehnjährige Gustav Leonhardt auf dem Dachboden des elterlichen Patrizierhauseses in der Amsterdamer Altstadt ein altes Cembalo, dessen Klang ihn wie ein Blitz trifft. Ein Feuer entzündet sich in ihm, das während seines ganzen weiteren Lebens nicht mehr erlöschen wird, und dessen Funken auf unzählige Musiker und Musikbegeisterte auf der ganzen Welt überspringen wird. Aber das ahnt der Fünfzehnjährige natürlich noch nicht. Er weiß nur: dieses Instrument soll klingen und spielbar sein, und er will es spielen können.

Bald darauf geht der Hochbegabte zum Cembalostudium nach Basel – dort gibt es an Schola Cantorum Basiliensis mit Eduard Müller einen einzigartigen Lehrer für diese im Grunde ausgestorbene Art von Instrumenten. (Das, was damals, etwa von der berühmten Wanda Landowska, als Cembalo gespielt wird, verdient technisch und klanglich diesen Namen eigentlich nicht, jedenfalls im Vergleich zu den Cembali der bachschen und vorbachschen Zeit).

Schnell wächst der junge Student über seine Lehrer hinaus. Nachdem er schon 1950 sein Studium mit „cum laude“ abschließt, wird der gerade 24-jährige 1952 zum Professor für Cembalo an der Wiener Musikakademie ernannt. Zwei Jahre danach erreicht ihn der Ruf des Konservatoriums seiner niederländischen Heimatstadt Amsterdam. Drei Jahre später ist er dort zudem (bis 1982) Organist an der Barockorgel der Waalsekerk. Es beginnt eine sich immer weiter ausdehnende Konzert- und Lehrtätigkeit (u.a. auch in Harvard und in Siena). Hunderte von Schallplatten- und CD-Aufnahmen entstehen. Leonhardt forscht lebenslang mit unermüdlicher Sorgfalt in Archiven und Bibliotheken, impulsiert die Rekonstruktion von Tasteninstrumenten nach historischen Vorbildern, gibt sein Wissen, seine Spielweise in Kursen und Vorlesungen an unzählige Musiker weiter, schafft Notenausgaben sogenannter Alter Musik

Begegnung mit Gustav Leonhardt

Meine erste „Begegnung“ mit Gustav Leonhardt waren zwei Schallplatten Mitte der 1970er Jahre. Einmal die „Brandenburgischen Konzerte“ in einem bahnbrechend durch -sichtigen Klangbild auf historischen Instrumenten musiziert. (Einige Jahre vorher war der andere junge Mann, von dem anfangs die Rede war, mit seiner Version der „Brandenburgischen“ schlagartig berühmt geworden). Die zweite Schallplatte zeigte auf der Vorderseite der Hülle einen Musiker, dessen Gesichtszüge, dessen Augen etwas in mir anrührten, in Schwingung versetzten. Ich kaufte damals diese Schallplatte nicht aus Interesse an der Musik ( die Stücke waren mir ohnehin allesamt unbekannt), sondern aus Interesse an dem Menschen, der mit Fotografien, einem profunden Text und Aufnahmen von Cembalomusik verschiedenster Meister auf dieser LP porträtiert wurde.

Von da an hörte und erlebte ich Gustav Leonhardt so oft es mir möglich war und fand, dass er in seiner Persona, in Physiognomie und Habitus im wahrsten Sinne des Wortes bis in die Fingerspitzen hinein die alte Musik verkörperte. Sein gemessener Gang, seine Haltung und Erscheinung, die aristokratische „Aura“, die ihn und sein Spiel umgab, hat Hunderten von Musikern entscheidende Impulse und Inspirationen vermittelt, wurde zum Vorbild eines energetisch aufgeladenen, freilassenden Musizierens.

Alte Musik neu entschlüsselt

Die Schlüssel, die er für die Musik bis Bach gefunden hat – nicht zuletzt auch durch ein im elektronischen Zeitalter fast unvorstellbar mühsames Quellenstudium – haben viele andere nach ihm benutzen können, indem sie diese „alte Musik“ in ihrem sprachlich-rhetorischen Gestus und ihren Affekten ganz neu begriffen und diesen Gestus durch feinste Artikulationen und vorromantische, freie Behandlung der Tempi – bis dato unerhört und von romantischen Traditionen verschüttet – wieder erlebbar machten.

Die so neu aufgeschlüsselte und vor allem durch die reichen Klangfarben der alten oder rekonstruierten Cembali, Clavichorde oder Orgeln lebendig rekonstruierte alte Musik etwa Frobergers, Couperins, Sweelinks und Bachs hatte auf die an solche Klänge und untemperierten Stimmungen ungewohnten Ohren eine ungeheure Wirkung. Auch völlige Laien konnten überrascht und stark berührt aufhorchen – wenn Leonhardt beispielsweise eine Frescobaldi -Toccata auf einer Arp-Schnittger-Orgel (etwa der in Grasberg bei Bremen) spielte. Und erst recht bei den bekannteren Stücken von Bach. Wo sonst das Ohr beim Klang der Orgel allzu schnell ermüdete und abschaltete, begann die Musik, so wie er sie vermittelte, verständlich und strukturiert zu sprechen. Er gab ihr den Atem, das emotional Schwingende, den lebendigen Rhythmus zurück. Damit wurde er zum Vorreiter eines manchmal fast kristallinen, klar strukturierten Klangbildes, dass sich auch heute noch überraschend demjenigen zu erschließen vermag, der etwa die Leonhardtschen „Goldbergvariationen“ mit denen von Glenn Gould vergleicht.

In dieser in den sechziger und siebziger Jahren noch so seltenen Art, alte Musik ergreifend und vernehmlich sprechend zu spielen und zugleich zu verköpern, schien Gustav Leonhardt eine lebendige Brücke zu lang zurückliegenden Jahrhunderten zu schlagen. Damit lebte und stillte er zugleich offensichtlich eine große Sehnsucht – (hinter seinem alten Amsterdamer Patrizierhaus, in dem er mit seiner Familie gelebt hat, hatte er zum Beispiel einen Barockgarten angelegt) – eine Sehnsucht, die in vielen Menschen eine starke Resonanz hervorrief – nicht nur in Musikern und Hörern, sondern auch bei Filmschaffenden.

Begegnung mit Nikolaus Harnoncourt

So war Leonhardt für den französischen Regisseur Jean Marie Straub in dessen Verfilmung der „Chronik der Anna Magdalena Bach“ aus dem Jahre 1967 die ideale Besetzung für die Rolle des Thomaskantors. Ich wage zu behaupten, dass dieser Film ohne Leonhardt nie entstanden wäre. Immer wieder spürt man an der Kameraführung Straubs die Faszination an den Gesichtszügen, an der Aura seines Hauptdarstellers, der daneben eben auch noch – ohne Double oder Schnitte – die Musik Bachs an der Orgel, am Cembalo oder als Dirigent spielend beherrschte.

In diesem Film begegnen wir übrigens wieder dem wiederholt erwähnten anderen „jungen Mann“, dem Freund aus den Wiener Studienjahren und doch in vielem so gegensätzlichen Mitstreiter bei dem über zwanzig Jahre währenden Projekt der Gesamtaufnahme des Bachschen Kantatenwerkes. In Straubs Film spielt er die Rolle des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen und spielt die Gambe, mit Leonhardt als J.S. Bach am Cembalo.

Gemessen am stetig wachsenden Ruhm und an der Weite des Repertoires seines Jugendfreundes Nikolaus Harnoncourt jedoch blieb Gustav Leonhardt innerhalb eines enger gezogenen Kreises wirksam, jedoch nicht minder hingebungsvoll, unbestechlich, akribisch und selbstkritisch. Wie oft konnte man ihn – sinngemäß – antworten hören: „Ich weiß nicht, wie man das spielt oder verziert, oder wie das früher gespielt und verziert wurde. Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß höchstens, wie man es machen könnte, damit es lebendig wird und klingt.“
Am 12. Dezember 2011 gab er, schon sichtlich geschwächt, in Paris sein erklärtermaßen letztes öffentliches Konzert. Am 16. Januar 2012 ist Gustav Leonhardt im Alter von 83 Jahren in Amsterdam gestorben.

Weitere Informationen:

Jürgen Motog ist Musiker, Pädagoge und Therapeut. Er leitet in Caputh bei Potsdam dasHaus der Klänge„.



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