Da soll mich doch ein gekochter Hummer kitzeln
Wir standen mit kalten Füssen im Keller beim Wäsche Aufhängen. Mein 5-jähriger Sohn, meine 2-jährige Tochter und ich. Luca brabbelte vor sich hin, während ich meinen eigenen Gedanken nachhing. Plötzlich fuhr mich der Kleine energisch von unten an: ,,Da soll mich doch ein gekochter Hummer kitzeln!“ ,,Wie bitte?“ ich schaute in sein herausforderndes Gesicht und überlegte. Ah, Jim Knopf natürlich, die Seeleute. Wie lange war es her, dass ich ihm dieses Kapitel vorgelesen hatte? Auf jeden Fall länger als zwei Tage. Ich fing an, darüber nachzudenken, was regelmäßiges Vorlesen bei einem Kind eigentlich bewirken kann. Von unten wurde ich immer wieder, mal laut, mal leise, mal fragend, mal forsch, in diesen Gedanken unterbrochen: ,,Da soll mich doch ein gekochter Hummer kitzeln?“ Zwischenzeitlich musste ich erklären, ob ein gekochter Hummer wirklich kitzeln kann, was ein Hummer überhaupt ist, und schließlich, was denn dieser Spruch nun eigentlich zu bedeuten hat.
Warum Vorlesen unverzichtbar ist
Vorlesen ist wichtig. Eine Aussage die kaum Gegner finden wird. – Natürlich ist Vorlesen wichtig. Aber warum eigentlich ? Die gängigsten Begründungen sind wohl, dass Vorlesen eine geborgene Atmosphäre schafft, die Steigerung des Konzentrationsvermögens bewirkt, auf den Schriftspracherwerb vorbereitet, den Sprachsatz erweitert und die Phantasie anregt. Ich möchte aber behaupten, dass all diese Punkte nicht ins Herz dessen treffen, was das Vorlesen von Geschichten wirklich so unverzichtbar und unersetzbar macht. Ich denke, die Sache fängt schon damit an, was man dem Kind vorliest und wie man es vorliest. Im glücklichsten Fall schafft man es, in Zusammenarbeit mit einem entsprechenden Lesestoff, ein Kind zu verzaubern, es für den Reiz von Geschichten zu erwärmen. Sie eröffnen ihm ungeahnte, fremde Welten, vermitteln ihm die Schönheit und den Wert von Kunst und Kultur. Sie bieten etwas, für das es sich lohnt aufmerksam zu sein, neue Wörter zu lernen, sich auf die Gedanken und Ideen von anderen einzulassen. Vor allem aber beflügeln Bücher und Geschichten die Phantasie und das Vorstellungsvermögen.
Wenn ich sehe, wie mein Kind mit einer Stoffrolle und einem Stück Schnur eine Stunde lang Eisenbahn spielt, und alle möglichen Haushaltsgegenstände an die vermeintliche Lokomotive anhängt, dann habe ich nicht die Hoffnung, dass es schneller als andere Lesen und Schreiben lernt. Was ich mir aber wünsche ist, dass diese Fähigkeit, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen und aus Nichts etwas zu machen, ihm möglichst erhalten bleibt.
Lesen als Selbstzweck
Neuerdings kommen immer mehr Bücher auf den Markt, die sich bestimmten elterlichen Zwecken zuordnen lassen. Es gibt Bücher mit angepappten Figuren, die motzende Kleinkinder aufheitern sollen, es gibt Bücher zum Kopftraining, für den Kindergartenstart, die Verarbeitung der Geburt eines Geschwisterchens, die Begegnung mit Fremden, das Umgehen mit schlechter Laune und vieles mehr. Nehmen wir also einmal an, ihr Kind würde sich mit drei Jahren regelmäßig schreiend auf die Erde werfen, weil es irgendetwas nicht bekommt. Dann könnten sie sich mal umschauen nach Titeln wie: ,,Heute bin ich schlecht gelaunt!“ oder ,,Streiten ist doof“ oder ,,Lena findet alles doof“, oder so ähnlich. Ist das nicht toll? Nein, ich finde das grauenhaft. Gerade die Literatur könnte doch ein Faktor in unserem Leben sein, der einen immer wieder mal von diesen ganzen Zwängen entkommen lässt.
Wenn ich mich an die frühesten Geschichten erinnere, dann sind das die, die ich meinem Sohn auf Sparziergängen erzählt habe, wenn er nicht mehr laufen wollte. Natürlich waren diese Erzählungen auch zweckorientiert. Nur meinen sie, ich wäre so dumm gewesen, über müde Füße, schwere Beine, Mütter, die endlose Waldsparziergänge mit überforderten Kleinkindern durchführen und den Kampf gegen die Erschöpfung zu sprechen ? Nein, ich sprach von Hexen, von Feen und Waldwichteln, von Riesen und Zwergen. Oder vielleicht von Bäumen, die ihre Geschichten erzählen. Was meinen Sie, wie schnell wir zu Hause waren!
Keine Angst vor dicken Büchern
Ich habe zwar gehört, dass Kinder sich nicht länger als 10 Minuten auf eine Sache konzentrieren können, aber ich habe das nie geglaubt und bin bisher gut damit gefahren. In zehn Minuten schafft man es gerade, einem 2 jährigem Kind eine der für dieses Alter wunderschönen Bobo-Geschichten vorzulesen. Schon beim alten Peterson und dessen Kater Findus kommt man aber mit 10 Minuten nicht weit.
Wichtig ist gerade bei kleinen Kindern darauf einzugehen, dass sie Bücher gerne unendlich oft lesen. Eines der ersten Bilderbücher, die ich mit meinem Sohn entdeckte, war ,,Henriette Bimmelbahn“. Das haben wir so oft gelesen, dass ich zum Schluss fast das ganze Buch auswendig konnte. Und wenn ich einsetzte: ,,Henriette, Henriette heißt die nette alte …“ viel er freudestrahlend ein: ,,Bimmelbahn!“
Das erste dicke Buch, das wir gelesen haben, war „Michel aus Lönneberga“, alle drei Bände in einem Sammelband. Michel ist im Vorschulalter, seine kleine Schwester Ida noch ein Kleinkind. Es gab viele schöne Bilder in dem Buch. Und glauben sie es oder nicht, beim letzten Kapitel, wo Michel dem Knecht Alfred das Leben rettet, habe ich mit meinem Sohn zusammen geweint.
Dann kamen wir über Räuber Hotzenplotz, die Kindern aus Bullerbü und die Pferdegeschichten vom Franz, zu dem oben bereits zitierten Jim Knopf. Und mit jedem dieser Bücher stieg das Vermögen meines Sohnes sich auch ohne viele Bilder in den Geschichten zurechtzufinden und zuzuhören.
Heute fragte ich meinen Sohn: ,,Wo wohnen eigentlich Geschichten?“ ,,In den Köpfen!“ kam prompt die Antwort. ,,Und wie wohnen die da?“ hakte ich nach. ,,Die ziehen da ein und bauen sich ein gemütliches Geschichtenhaus.“
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