Glücksgriff für Lebenskompetenz und viele Äpfel

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Foto: Heike Soleinsky/The Epoch Times
Von 4. November 2010

Schluss mit dieser Wegwerfmentalität! „Schöne Holzmöbel“, die 24 Stunden am Straßenrand im Regen standen, bis sie völlig aufgequollen waren, waren der Auslöser für die Schenefelderin Ingrid Pöhland (63). „Es gibt so viele Arme, die die Schränke hätten gebrauchen können. Wenn ich in Rente bin, werde ich mich um so ein Secondhand-Angebot in Schenefeld kümmern“, dachte sich Ingrid Pöhland, die damals noch Mitglied der Landesbezirksleitung von ver.di Hamburg war.

„Es soll ein sozialer Kreislauf werden“, überlegte sie: Die Ware wird gespendet. Nur für Hartz IV-Empfänger soll der Laden aber nicht sein, denn in Schenefeld, der 18.000 Einwohner-Stadt, die sich an den Hamburger Westen schmiegt, kennt jeder jeden; es wäre nicht würdig, wenn ihre Kunden sich mit einem Einkauf outen müssten. Es soll ein Verein sein. Alle Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich und Gewinne werden für gute Zwecke investiert.

Sie sprach mit vielen Leuten über ihre Idee: mit der Bürgermeisterin, mit Freunden … Anfang 2009 auch mit der örtlichen Presse, ob sie das dann redaktionell begleiten würden. Im April 2009 rief eine Redakteurin an, sie wolle nun unbedingt den Artikel über das geplante Sozialkaufhaus schreiben, da sie anschließend für ein paar Monate nicht verfügbar sei. So trafen sie sich an einem sonnigen Tag auf einer Bank gegenüber dem Laden in der Schenefelder Lornsenstraße 86. Während die Jungrentnerin erzählte, was sie vorhatte, schaute sie immer wieder zum Laden rüber. Der stand schon lange leer und hätte ihr auch gefallen: nah an ihrem Zuhause, direkt zwischen Bushaltestelle und einer Bank, Parkplätze vor der Tür. Er war aber zu teuer.

Der Artikel kam in die Zeitung und innerhalb von vier Wochen bekam Ingrid Pöhland so viele Warenspenden, dass sie nicht mehr wusste, wohin mit den ganzen Sachen. Ihre Garage stand voll. Ihre Wohnung stand voll. Sie musste nun Fakten schaffen und handelte mit dem Vermieter des Ladens in der Lornsenstraße eine Staffelmiete aus, die mit der Hälfte des ursprünglich geforderten Mietzinses begann. Außerdem vereinbarte sie eine monatliche Kündigungsfrist – schließlich sollte das Risiko überschaubar bleiben. Dann riefen auch Frauen an, die die Idee toll fanden und ehrenamtlich mitarbeiten wollten. Im Juli 2009 begann der neu gegründeten Verein „Glücksgriff – der soziale Kreislauf e.V.“ den Verkauf. „Doch anfangs wurde uns die Gemeinnützigkeit nicht anerkannt“, berichtet Pöhland. Das erste Projekt, das der Verein mit den erwirtschafteten Gewinnen zu finanzieren begann, sind wöchentlich 220 Kilo Bio-Äpfel, die seit September 2009 jeden Dienstag an allen Schulen Schenefelds kostenlos verteilt werden. „Wenn wir mit unseren Gewinnen Äpfel kaufen, die wir dann verschenken, das sei unsere Privatangelegenheit, hieß es.“ Der Gedanke, das Projekt fallen zu lassen, war da. Aber, na gut, dann wurde eben erst einmal eine Firma gegründet. So konnte man weitermachen.

Glücklich zugreifen

„Hallo! Mal wieder luschern?“, wird eine Kundin strahlend begrüßt. Der Laden läuft recht gut. „Die Leute räumen ihre Schränke auf. Wir bekommen unglaublich viel Ware im Moment.“ Inzwischen so viel, dass der Verein jede Woche einen großen Schwung an die Kleiderkammer Wilhelmsburg abgibt. Nur die besten Sachen werden im Laden verkauft – nachdem die freiwilligen Mitarbeiter die Dinge gespült, gewaschen, gebügelt haben. So ist kein muffiger Geruch im Raum. Die Ware wird ansprechend präsentiert. Man bekommt richtig Lust zu stöbern. Sind hier Profis am Werk? „Nö, die Damen haben einfach Lust dazu.“ Im Laden wird viel gelacht, die Stimmung ist herzlich, obwohl sehr viel zu tun ist: „Kannst du das mal nehmen?“ „Ja, Schätzchen, jaha.“ Den Kunden bieten sie Kaffee an. Eigentlich habe der Laden schon den Charakter einer Kommunikationsstätte, wo man sich trifft, Kaffee trinkt und klönt, sagt die Chefin.

Mancher findet hier, was er zuvor lange gesucht hat. Wie die Kundin, die am Laden aus dem Bus stieg – völlig erschöpft, weil sie stundenlang in der Hamburger Innenstadt nach blauen Sandalen suchte. Bei Glücksgriff fand sie sie und war überglücklich – für drei Euro. „Hier macht jeder seinen Glücksgriff“, sagt Pöhland.

Den Tapferen hilft das Glück

Glücklich sind nicht nur die Kunden. „Irgendwie haben wir immer Glück gehabt“, findet die aktive Ruheständlerin. Zurzeit kann der Verein den Laden nebenan mit nutzen, bis der neu vermietet ist. Sie hätte im Moment sonst gar nicht gewusst, wohin mit den vielen Dingen, meint Pöhland. „Aber dann hätte es eine andere Lösung gegeben“, fügt sie im gleichen Atemzug hinzu, mit einer knappen Bestimmtheit, dass man meinen kann, das Schicksal hat keine andere Chance, als sich ihrem Willen zu beugen. Und es beugt sich ihr offenbar gern: Maklercourtage? Nahm der Makler nicht. Rund 1.000 Euro Einstand bekam der Verein aus dem Überschuss eines Straßenfestes in der angrenzenden Jahnstraße. Die Bank nebenan spendete 1.000 Euro. Ein kleines Kiefernholzregal, auf dem nun Kinderbücher angeboten werden, stand am Straßenrand. Die Fußpflegerin von Frau Pöhland zog um und spendete aus ihrem vorigen Laden einen Prospektständer, einen Apothekerschrank, in dem nun Strumpfhosen, Hemdchen und Wäsche für Kleinkinder einsortiert sind, und eine große Ladenvitrine im Bauernstil. – In die haben die Mitarbeiterinnen Geschirrspenden so liebevoll einsortiert, dass man sich in einer exklusiven Landhaus-Boutique wähnen könnte. – Regale für den Keller wurden geschenkt. Und, und, und.

Pöhland hilft dem Glück aber auch nach. Durch ihr berufliches und politisches Wirken als Mitbegründerin und Mitglied der Geschäftsführung von ver.di Hamburg und in Schenefelds Kommunalpolitik hat sie viele Kontakte. Und die stupst sie auch an: „Tu mal was für mich.“ Das täten jene natürlich nicht, wenn das Konzept nicht gut wäre, merkt sie noch an, mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes, das etwa ausheckt. Etwas Gutes.

Weg von der Tüte: Kochkurs für Kids

Es ist gut. Das zweite Projekt, das der Verein finanziert, gilt auch als Jugend fördernd und ist somit als gemeinnützig anerkannt: In Schenefelds neu gegründeter Gemeinschaftsschule organisiert und finanziert der Verein den Jugendlichen einen freiwilligen Kochkurs am Nachmittag. Der Koch ist außerdem Schauspieler; den fand Pöhland im Lustspielhaus über den Kabarettisten Nils Loenicker. In der ersten Kochstunde machten die Kinder Vanillepudding mit Kirschen, Spaghetti in roter Soße mit Hackbällchen. Die rote Soße nicht aus der Packung, sondern aus echten Tomaten. Die Kinder waren begeistert. Pöhland sagt: „Wenn die das drei bis vier Jahre machen: Die lernen richtig kochen. Wir machen die fit fürs Leben.“

Lebenskompetenz für Grundschüler

Auf andere Weise fit fürs Leben werden künftig auch Schenefelds Grundschüler. Anfang September beschlossen die Vereinsmitglieder von Glücksgriff die Finanzierung von einem Programm zur Gesundheitsförderung, Sucht- und Gewaltvorbeugung, das der Nürnberger Verein „Klasse 2000“ initiiert hat (www.Klasse2000.de). Die Kinder bekommen von der ersten bis zur vierten Klasse ein paar besondere Unterrichtseinheiten, in denen sie Lebenskompetenzen wie den Umgang mit Gefühlen, kreativ und kritisch zu denken und Strategien zur Problem- und Konfliktlösung lernen. Auch Wissen über den Körper und Dinge wie Atemtechnik und Körperhaltung. „Bundesweit nehmen schon 13.000 Klassen an diesem Programm teil“, weiß Pöhland. Finanziert wird das durch Patenschaften, die pro Klasse jährlich 220 Euro kosten. Für alle sechs Klassen, die in Schenefelds beiden Grundschulen neu eingeschult wurden, übernimmt nun der Verein Glücksgriff die Patenschaft. „Damit das für die vier Jahre sichergestellt ist, packen wir das Geld, 5.500 Euro, auf ein Sonderkonto“. sagt die Vereinsvorsitzende. Der Verein strebt an, das für alle künftigen neuen Schulklassen zu finanzieren, denn, davon ist Pöhland überzeugt: „Gesellschaftspolitisch wird sich das auswirken, wenn Kinder früh lernen, sich selbst und andere wert zu schätzen.“

Und die Mitarbeiter von Glücksgriff seien froh, dass sie mit jeder Stunde, mit jedem Verkauf drei tolle Projekte unterstützen.

Gern würden sie noch mehr machen, aber der Verein muss auch noch ein paar tausend Euro Umsatzsteuer zahlen. 17.000 Euro Umsatz im Jahr als Grenze für die Umsatzsteuerpflicht findet Pöhland viel zu gering. Dass dies auf Bundesebene neu diskutiert wird, hat die eifrige Politikerin bereits angeregt. So etwas dauert zwar ein paar Jahre, aber trotzdem …

 

Foto: Heike Soleinsky/The Epoch Times

 



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