Bodenreform, Wirtschaftsreform, Lebensreform

Das Siedlungsgebiet „Eden“ in Oranienburg bei Berlin feiert sein 130-jähriges Gründungsjubiläum. Hier hatte die Reformhaus-Marke EDEN ihren Ursprung.
Titelbild
Mit diesem Gelände starteten die Gründer 1893 das Siedlungsgebiet Eden.Foto: Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eG
Von 23. Juni 2023

Wir schreiben das Jahr 1893. 18 sogenannte Lebensreformer, allesamt Vegetarier, treffen sich am 28. Mai im ersten vegetarischen Restaurant Berlins. „Ceres“ heißt es, nach der römischen Göttin für den Ackerbau. Ihr Ziel: Gründung einer Reform-Siedlung. Sie wird den Namen „Vegetarische Obstbau-Kolonie Eden“ tragen.

Die Namensidee kommt laut Erzählung von Clara Wilhelmi, deren Mann Bruno auch eines der Gründungsmitglieder ist. Die Assoziation zu paradiesischen Zuständen ist durchaus gewollt. „Mir scheint, wir ahnen kaum die Bedeutung unseres Unternehmens und sind unbewusst das Werkzeug zu einer gewaltigen Umgestaltung der Dinge in der Hand der göttlichen Allmacht“, wird sie später zitiert. Die Sehnsucht zurück zur Natur ist groß bei den Reformern, wie auch ihr Wille zur Umsetzung.

Zu Beginn nur Sand und Wasser

Am 12. Juli desselben Jahres ist bereits der Kaufvertrag für das Land abgeschlossen. Es liegt westlich von Oranienburg, umfasst 37 Hektar und ist eine typisch brandenburgische, sandige Schafweide. Acht Wochen danach ist der Plan zur Aufteilung des Geländes in sogenannte Heimstätten erstellt und genehmigt.

130 Jahre später stehe ich in der Ausstellung im ehemaligen Speiseraum, auf eben diesem Gelände vor den Fotografien der ersten Stunde. Kurz unter dem Sand sei sofort Wasser gewesen, erzählt Rainer Gödde, passionierter Archivar aller Dokumente der Eden-Geschichte. Hätte man einen Baum gepflanzt, wären die Wurzeln verfault. So legten die Gründungsmitglieder – von Hand – Entwässerungsgräben an, um Ihrem Traum von Obstanbau und Selbstversorgergärten näherzukommen.

Die Eden-Idee umfasst dabei fünf wesentliche Punkte: Ernährungsreform, Bodenreform, Siedlungsbewegung, Genossenschaftsbewegung sowie alternative Landwirtschaft und ökologischen Gartenbau.

Privat- und Genossenschaftsbesitz

Um diese Ideen zu erhalten, verbleibt auch weiterhin der Grund und Boden in Genossenschaftsbesitz und wird den Bewohnern in Erbpacht überlassen. Ein Grundstück umfasst im Durchschnitt 2.000 Quadratmeter.

Für die Bebauung und das Haus zeichnet jeder Edener selbst verantwortlich und trägt damit die volle Verantwortung. Auf diese Art sind eine Reihe sehr vielfältiger Häuser entstanden. Manche der älteren Hausgeneration neigen dazu, sehr schmalbrüstig zu sein und eher in die Höhe zu streben. So konnte viel Land unversiegelt bleiben, denn der Gartenbau war ja primäres Ziel.

Der Wille und auch die Umsetzung der Gartenkultur mit Gemüseanbau und Obst- und Beerenpflege ist bis heute Voraussetzung und entscheidendes Kriterium, wenn sich neue Siedler auf ein Grundstück bewerben.

Konkret heißt das: pro 1.000 Quadratmeter acht Hochstammobstbäume zu pflegen und 100 Quadratmeter der Fläche für Gemüseanbau, Beerensträucher oder als Bienenweide zu nützen. Und es erfordert einiges Wissen und auch Geduld, dem nährstoffarmen Sandboden Essbares zu entlocken.

Doch die ersten Siedler schafften es schon fünf Jahre nach Gründung, 1898, in den angelegten Gärten so große Erträge zu ernten, dass die Herstellung von Säften, Fruchtmusen und Marmeladen begonnen wurde. Die Chronik weiß zu berichten, dass in das neue Jahrhundert mit 15.000 Obstbäumen, 50.000 Beerensträuchern, 3.000 Haselnusssträuchern, 200.000 Erdbeerpflanzen und 20.000 Rhabarberstauden gegangen werden kann.

Foto: Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eG

Gründung der Lebensmittelmarke EDEN

„Stets hat sich Eden in einem Spannungsfeld zwischen Idealismus und wirtschaftlicher Rentabilität bewähren müssen. […] Dass sich Eden im Zweifelsfall häufig an praktischen Aspekten orientierte, kann heute – da man weiß, dass ökonomisches Scheitern eine der Hauptursachen für das Aus der meisten Siedlungen war – als das Erfolgsrezept der Kolonie gelten.“

So wird Joachim Joe Scholz in der Präambel des Struktur- und Entwicklungsplanes der Siedlung Eden von 2015 zitiert. Scholz schrieb dies in seinem Buch „Haben wir die Jugend, so haben wir die Zukunft – Die Obstbausiedlung Eden/Oranienburg als alternatives Gesellschafts- und Erziehungsmodell (1893–1936)“.

Dass die Reformhausmarke EDEN, die manchem durch Säfte oder auch die Margarine bekannt sein könnte, aus dem Siedlungsgebiet in Oranienburg stammt, wissen wohl eher wenige. 1908 erschien die erste rein pflanzliche Margarine, damals noch unter dem Namen Reformhaus-Butter. Diesen muss sie jedoch auf Protest der Hersteller tierischer Butter wieder ablegen. War bisher Margarine ein minderwertiges Produkt aus Tierabfällen, ist es fortan eine gesunde Alternative.

Über die Jahre erweitert sich die Produktpalette um vegetarische Brotaufstriche, Brot, Tomatenmark, Honig, Öl und andere Halbfertigprodukte.

Vegetarische Ernährung ist bis heute ein verbindendes Element in Eden, aber keine Voraussetzung. Foto: Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eG

Pioniergeist

Innovative Köpfe mit kreativem Geist brachten in über einem Jahrhundert immer wieder Neues in die Umsetzung. So zum Beispiel 1912 eine neue Obstverwertungsanlage mit der großen Neuerung, Säfte in Großtanks einzulagern und so wesentlich größere Mengen haltbar aufbewahren zu können. 

Neueren Datums ist der Bau des Kindergartens, 2002, mit einer ungewöhnlich großen Kuppelhalle aus 7.500 Lehmziegeln. Architekt Gernot Minke, bekannt für sein Standardwerk für Lehmbau, schuf hierfür den Entwurf. Durch ein Versetzen der Ziegel ist eine wunderbare Akustik entstanden, welche sowohl viele Kinderstimmen abfängt als auch für Konzerte geeignet ist, erläutert Gödde beim Gang durch die Ausstellung.

Vielleicht liegt es auch in der Natur der Sache, dass ein Projekt, welches neue – doch im Grunde traditionelle – Pfade sucht, auch immer wieder Menschen anzieht, die ihren eigenen Weg suchen.

Silvio Gesell sei an dieser Stelle genannt. In seinem Hauptwerk „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, welches in Eden entstand, fasst er seine Gedanken über die Natur des Menschen und eine ihm gemäße Ordnung der Wirtschaft zusammen. Durch die Diskussion um Regional- und Kryptowährungen rückte Gesell auch in diesem Jahrhundert wieder mehr ins Bewusstsein.

„Die große, herrliche Schöpfung“ (Gesell) solle der Mensch durch einen Ordnungsrahmen für die soziale Harmonie zur Vollendung bringen. Die Marktkräfte sollten sich darin jedoch frei entfalten und nicht, wie bei Karl Marx gefordert, durch einen allmächtig-allwissenden Staat technokratisch geplant werden. Die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte Silvio Gesell in Eden, wo er 1930 starb.

In Eden geboren

Wer kann schon von sich sagen, im Paradies geboren zu sein? Rainer Gödde, der sich wohl deshalb ganz der Geschichte dieses Ortes widmet und geduldig Besucher durch Ausstellung und Siedlung führt, kann dies von sich sagen. Seine Großmutter, Anna Rubner, geborene Szombathy, ist Jahrgang 1883. Ihr Vater, Josef Szombathy, von Beruf Archäologe, fand 1908 die Venus von Willendorf. Anna Rubner selbst war Schauspielerin, ausgebildet am Konservatorium in Wien.

1914 kam sie nach Eden und blieb. Sie baute sich ihr eigenes Theaterstudio, um dort jungen Menschen das Handwerk der Bühnenkunst zu vermitteln. Heute lebt Rainer Gödde in dem beeindruckenden Bau, der äußerlich einem griechischen Tempel nachempfunden ist. Der große Hauptraum beherbergt die Bühne mit seitlichen Räumen für Auf- und Abgänge.

Theaterstudio von Anna Rubner. Der vormals offene Säulenvorbau ist heute ein geschlossener Raum. Foto: Epoch Times

Als Rainer Gödde als Kind zeitweilig auch am anderen Ende Oranienburgs lebte und dort in die Schule ging, wurde mit Ironie an den Edenern nicht gespart. Da sei er der Gras- oder Marmeladenfresser gewesen.

Heute gibt er all seine Zeit, die noch verbliebenen Dokumente einer vergangenen Zeit zu sichten, zu ordnen und auch entsprechende Schlüsse zu ziehen. Darunter auch die Information über eine Aufstellung aus der Buchhaltung des Konzentrationslager Sachsenhausen, nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Seite Oranienburgs, über noch nicht bezahlte Rechnungen aus Eden. Für was die Rechnungen ausgestellt wurden, bleibt offen.

In der Dauerausstellung auf dem Siedlungsgelände und auch mit Vorträgen wird die Aufarbeitung gesucht, wie mit den zwei deutschen Diktaturen gelebt wurde. So wird 1950 in Oranienburg die Eden-Waren GmbH gegründet, jedoch mit Sitz in Bad Soden/Taunus. Eine beschränkte Nutzung der Zinserträge hält die Genossenschaft am Leben. Der Obstverwertungsbetrieb in Eden wird jedoch vom DDR-Staat 1972 als „Volkseigener Betrieb“ übernommen, und damit die wirtschaftliche Grundlage entzogen.

Gefühl der Zusammengehörigkeit

Als ich am frühen Abend langsam mit dem Rad aus Eden heraus rolle, treffe ich eine junge Frau beim sportlichen Gehen. Ja, hier zu leben, unterscheide sich schon im Vergleich zu anderen Orten. Ein anderer Gemeinschaftsgeist, vielleicht vergleichbar mit gewachsenen Dorfstrukturen.

Es gebe vielerlei Möglichkeiten sich einzubringen: beim Sängerkreis, in der freien Schule, im Kindergarten oder beim Festkomitee. Ob es Brotbacken, vegetarisches Kochen, gärtnerischer Austausch oder das gemeinsam Pflegen der öffentlichen Flächen ist. Die Liste ist lang. Letztes Jahr wurde ein neuer Beachvolleyballplatz eingerichtet. Alles sei jedoch immer eine Option und werde auch sehr unterschiedlich wahrgenommen.

Beim ApfelKräuterGarten, einem Projekt im Rahmen der Gemeinschaft Eden, gibt es sogar die Möglichkeit Aktionär zu werden, lese ich später auf der Website. Dafür muss man gar nicht in Eden wohnen. Ziel des Schaugartens ist unter anderem auch, von der Gartenführung zur Gartenfühlung zu kommen. Sich nichts erklären lassen zu müssen, sondern selbst und bewusst wahrzunehmen, zu spüren, zu fühlen. „Das Leben ist – so wie auch der Garten – ständige Veränderung.“

Edener in seinem Garten mit selbstangebautem Gemüse. Foto: Epoch Times

 

Handgemaltes Plakat Anfang des 20. Jahrhundert. Heute wie damals wird in Eden gesungen und getanzt: beim Frühlingsfest, beim Apfelfest im Herbst oder beim Musikpicknick zur Sonnenwende. Foto: Eden Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eG



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