Christian Morgenstern zum 100. Todestag am 31. März 1914
„Du lieber Baum in meines Lebens Land…“ dichtete Friedrich Kayssler über seinen ihm lebenslang verbundenen „Urfreund“. In seinem Nachruf sagt er über die Ausstrahlung Christian Morgensterns, der vor hundert Jahren, am 31. März 1914, kurz vor Vollendung seines dreiundvierzigsten Geburtstages starb:
„Ein Geheimnis, das sich beim Tode künstlerisch starker Menschen offenbart ist, dass mit dem Verschwinden der sichtbaren Persönlichkeit die Kräfte der Geistigkeit plötzlich mit unerwarteter Macht frei werden und fühlbar sich auszubreiten beginnen. Durch die bloße Erschütterung des Ausscheidens aus der Kette der Lebenden ist dies nicht zu erklären, auch nicht durch die damit ausgelöste Verstärkung werbender Mitkräfte in der Nachwelt. Es ist eine Offenbarung geistiger Gesetzmäßigkeit mit deutlich fühlbarer Macht, nichts Geringeres als eine für Alle gangbare Brücke des Lebens, vom Tode zur Nachwelt herübergetragen, ein unerschütterlich sicherer Weg.“
Christian Morgenstern im Spiegel seiner Zeitgenossen
Viele andere von Morgensterns Freunden und Zeitgenossen haben sich noch zu Lebzeiten des Dichters ähnlich über dessen Wesensausstrahlung geäußert, so beispielsweise Henrik Ibsen, der Literaturkritiker Alfred Kerr, Morgensterns Verleger Reinhard Piper, der Schriftsteller Efraim Frisch, der Geisteswissenschaftler Rudolf Steiner und Marie Steiner, der russische Dichter Andrej Belyi. Georg Hirschfeld, einer aus dem Kreis der „Galgenbrüder“, porträtierte darüber hinaus Morgenstern in seinem Berliner Roman „Das grüne Band“(1905) in Gestalt des Dichters Baumbach.
In seinem Nachruf schreibt Kayssler weiter: „Wäre ich Maler, so würde ich durch eine Reihe von Zeichnungen wiedergeben wollen, was als Erinnerung mein ist, was mir – v o r s c h w e b t , wie unsere Sprache es ausdrückt. Hier wie nie ist mir dieses Wort am Platze; denn es ist etwas Schwebendes gewesen in allem, was seinem Wesen körperlichen Umriss gab. … Ein Schweben war in allem seinem Tun: er sang sein Lied und flog weiter. Morgenstern verstand die Vögel so gut …“.
„Im Baum, du liebes Vöglein dort,
was ist dein Lied im Grund?
Dein kleines Lied ist Gotteswort,
dein kleiner Kehlkopf Gottes Mund.
Ich singe tönt noch nicht aus dir,
es tönt die ewige Schöpfermacht
noch ungetrübt in reiner Pracht
in dir, du kleine süße Zier.
(In: „Wir fanden einen Pfad“)
„Wie das Schweben auch in seinem Humor lebte, bezeugt jede Zeile jedes beliebigen Palmström-Gedichtes. Nichtexistentes mit drei Worten so zu sagen, dass es unwidersprochen überzeugend existierte, war eines seiner unnachahmlichen Geheimnisse seines Könnens … .Unnachahmlich dieser Hauch der Leichtigkeit des Tones, unnachahmlich dieser Schatten der Andeutung in der Bewegung -: Geist.“ (Kayssler)
Schon im bildhaften Namen des Dichters klingt dieses „Schwebende“ an: der auf dem klaren Grunde des heraufdämmernden Morgens leuchtend- s c h w e b e n d e Morgenstern. Eine bezeichnende Andekdote dazu ist von dem Morgensternbiographen Rudolf Meyer überliefert:
„Morgenstern wusste Gesellschaftsspiele im Kreise seiner Freunde auf geistreiche Art zu beleben. Man stellte etwa lebende Bilder. Einer musste hinausgehen, die anderen suchten inzwischen irgendeinen Vers oder Spruch auf witzige Art und Weise bildhaft darzustellen, den dann der Wiederhereingerufene erraten musste. So wurde einmal das Zimmer dunkel gemacht. Alle Anwesenden bückten sich oder knieten zur Erde nieder, wie nach etwas suchend unter Tischen, Stühlen und in allen Winkeln. Christian Morgenstern als der einzige unter ihnen hielt ein brennendes Licht in der Hand und leuchtete damit den im Dunkeln Tappenden. Das Bild bedeutete natürlich (den Choral): „Wie schön leucht‘ uns der Morgenstern …“.
Der Dichter entstammte mütterlicherseits und väterlicherseits bedeutenden Landschaftsmalern. In seinem wichtigsten Prosawerk „Stufen“ kommt Morgenstern wiederholt auf sein Malererbe: „Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein. Ich wäre als Maler gewiss in Menzels Spuren gegangen, so sehr interessiert mich jeder Gegenstand als rein malerisches Objekt. Da stamme ich nun von Malern – und muss den Zusammenbruch der Natur als eines B i l d e s in mir erleben.“
Was geschieht bei einem derartigen Zusammenbruch der Natur als eines Bildes? Bei einem Dichter verwandelt sich Bildhaftes ins Wort. Dazu braucht es das Lauthaft-Klingende, Rhythmus und Melodie – in der Mischung dieser Elemente formt sich Morgensterns Lyrik aus. Er liebte das Bildhafte in all seinen Spielarten und materiellen Ausformungen – auch in plastischen Darstellungen (etwa bei den Versammlungen der „Galgenbrüder“ auf dem Werderaner Galgenberg, der heutigen „Bismarckhöhe“ nahe Potsdam. Seine „Maleraugen“ waren es, die alles in Bilder, in Gleichnisse verwandelten. Das Bildhafte aber verwandelt sich in Klang, in Sprachmusik, bewegt sich dabei auch spielerisch in Extreme hinein, wie etwa im rein Lautmalerischen des großen „Lalula“, dem rhythmisch-bildhaften Element in „Fisches Nachtgesang“ oder einem Klang, der im Grenzbereich zwischen Lauten, Melodie und Farbklang in farbiges Licht transformiert verfließt – so in dem späten hymnischen Gedicht „Wie in lauter Helligkeiten …“.
Für Morgenstern ist Schönheit „empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird. Oder auch: S c h ö n ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden.“
„Oh tiefe Liebe, die mich zu allem beseelt. Über all meinen Werken soll es wie ein großes Verstehen liegen – und davon werden viele glücklich werden. Oh, Glück auszugießen über die Welt! Augen leuchten, Herzen erheben machen! Ich möchte glücklich sein, um glücklich machen zu können. Kein Glück ohne Gast.“ (Stufen)
„Ich habe den verwandelnden Blick“, konnte er von sich und über sich selbst sagen. Und sein „einziges Gebet“, wie es der Zwanzigjährige einmal ausdrückte, lautete: „Vertiefung! Vertiefung!“
Wenn er mit seinem vertieften und vertiefenden Blick nicht nur a u f die Welt zu schauen vermochte, sondern im Laufe seiner Entwicklung auch immer mehr in und h i n t e r sie blickte und einkehrte, verwandelte sich ihm die Welt, konnte grotesk, surreal, verspielt-komisch sein oder sich in gleichnishafte Schönheit transformieren. „Schönheit ‚an sich‘ ? Nein, Schönheit, die über sich hinausweist“ , – daran lag Morgenstern zutiefst.
„Die Sehnsucht meines Lebens“ – so formulierte es der Fünfundzwanzigjährige – „ist eine oft übermächtige Sehnsucht nach praktischem Schaffen im Großen. Plastik wäre (und Architektur) mein höchster Fall. Meine höchste Liebe galt immer dem Gegenständlichen, der Linie, der Farbe, dem Ton an sich. Schon er allein vermochte mich zu entzücken, wieviel mehr erst seine organischen Verbindungen.“
[–Morgenstern und der Zeitgeist–]
In dem Zeitraum, in dem Morgenstern lebte – 1871 bis 1914 – entfaltete sich die Geschichte ungeheuer dynamisch – vergleichbar nur vielleicht der Epoche Walther von der Vogelweides im Übergang des 12. zum 13. Jahrhundert. Die kulturelle, die technisch-industrielle Entwicklung und in deren Folge, die Entwicklung der Bevölkerung und von Großstädten wie etwa Berlins, der Einzelwissenschaften und der Zivilisation überhaupt, verlief ungeheuer stürmisch und schien im wilhelminischen Zeitalter selbstgewiss auf die Beste aller möglichen Welten zuzulaufen.
Doch zugleich fühlten wache Geister, wie sich eine Kluft zwischen Natur und Geist, zwischen Ideellem und Materiellem zum unüberbrückbaren Abgrund aufgerissen hatte. Die Eroberungen und Entdeckungen der außereuropäischen Kontinente führten zur Ausbeutung und zum Absterben ursprünglicher Schönheit; der Einzelne wurde durch die Notwendigkeit der Spezialisierung immer mehr isoliertes Einzelteil einer Maschinerie, in der das Verständnis für den Sinn und das Gefühl für das Ganze abhanden kam. Der Sinn menschlicher Arbeit erstarrte oder verrann mehr und mehr in seelenloser Funktionalität, wurde schleichend Teil einer „totalen Mobilmachung“ (Ernst Jünger); Poesie, Musik, Kultur überhaupt wurden mehr und mehr nur zum instrumentalisierten und verzierenden Stuckwerk einer entzauberten Welt.
Morgenstern aber erkannte entgegen aller überbordenden, immer nationalistischer werdenden Fortschrittshörigkeit die Gefahren einer derart funktionalisierten Welt. S e i n Kampfmittel gegen das vorauszusehende Unheil war die Befreiung durch das W o r t, gleich gültig, ob sich sein Widerstand in Form seiner Satiren, Grotesken, Kabarettstücke, seiner hellwachen Theaterrezensionen (z.B. als Herausgeber der Berliner Zeitschrift „Das Theater“), oder seiner Aphorismen („Stufen“) und ernsten Gedichte manifestierte.
Sieben Jahre vor seinem Tod (und zugleich sieben Jahre vor dem Ausbruch der ersten kriegerischen Jahrhundertkatastrophe), schrieb der scharfsinnig-satirische Zeitkritiker, welcher Morgenstern a u c h war – der aber dabei so gar nicht über den Dingen dieser Welt schwebend in Schönheit schwelgte – erhellend und scharf aufblitzend:
„Lehrerkomödie: Die Armut der Lehrer, während die Staaten Unsummen für die Wehrmacht hinauswerfen. Da sie nur Lehrer für 600 Mark sich leisten können, bleiben die Völker so dumm, dass sie sich Kriege für 60 Millionen leisten müssen.“
Und weit über den ersten Weltkrieg vorausschauend sagt er: „Man kann von dem deutschen Kaiser die Befürwortung keiner anderen Politik erwarten als der seinigen und der seiner Ratgeber. … Nach ihr (der korrumpierten Presse), die ihre Freiheit nicht verdient, ist vielleicht nur der Sozialdemokrat ein eigentlicher Regierungsgegner. Alles andere wird, denkt man dort wie oben, im entscheidenden Moment solidarisch sein. Und es wird auch wohl so sein, im entscheidenden Moment; denn noch wurzeln alte Herdengefühle zu tief in uns, als dass wir schon unter allen Umständen Individuen zu bleiben vermöchten. Wir sind in praxi noch zu sehr Sklaven von Begriffen, die wir in der Theorie längst über Bord geworfen haben.“(Stufen)
Für den Charakter des neuen Reiches nach Maßgabe der Mehrheit der Deutschen fand Morgenstern nur zwei Begriffe:
„Servilismus und Grobheit. Ich meine jedoch, von der Schmach einer solchen Charakteristik – und sie ist leider w a h r , blutwahr bis zum letzten „Genossen“ hinab – müsste unser Volk sich nun endlich nach und nach wieder frei zu machen suchen. Bedarf es dazu wirklich der Schule und der Geißel erst eines neuen Krieges?“ (Stufen)
„Es gibt für Unzählige nur ei n Heilmittel – die Katastrophe“ , befand er. Man könne „ein halbes Leben lang den Krieg verwerfen – bis man eines Tages erkennt: nein, der Krieg gehört vielleicht noch immer unter die tragischen Selbstzuchtmittel der Menschheit. Und furchtbarer als der Krieg bleibt, dass selbst dieses schreckliche Mittel dem Menschen nicht mehr nützt, als es geschieht: dass es ihn wohl tüchtig erhalten mag, im gegebenen Augenblick in den Tod zu gehen, aber dass es ihn nicht tüchtiger dazu macht, in s i c h zu gehen – und damit in den Tod seines bisherigen Lebens.“ (Stufen)
Und geradezu prophetisch klingt es schließlich: „Muss nicht der Tod etwas sein, ohne das der Mensch nicht leben möchte? Ohne das er es nicht aushielte zu leben? Nein, ich will nicht unwillig sterben, ich will freudig und dankbar sterben, dankbar für die Möglichkeit, mich denen einreihen zu dürfen, welche als Opfer gefallen sind, um mit ihnen und für sie gegen die Lebendigen zu protestieren, welche die Erde zu einem schlechteren und unanständigeren Aufenthalt machen als das Grab.“
[–Zerrissenheit und Einheit–]
Der „schwebende“ Dichter einerseits und der im kulturell gärenden Berlin der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts verkörperte und geerdete Kultur- und Zeitkritiker Morgenstern – Freund oder Mitstreiter von schon damals berühmten Künstlern wie z.B. Kayssler oder Max Reinhardt: das sind zunächst die Pole, in deren Spannungsfeld Morgenstern lebte und dichtete. Seine Biographen sind uneins darüber, in welchem Maße er unter dieser Polarität litt. Tucholsky zum Beispiel sah Morgensterns scheinbar gegensätzliche Wesenszüge so:
„Es ist bezeichnend, wie stark die positive Seite dieses tiefen Spaßmachers gewesen ist – wie positiv hat diese so ausgedrückte Seite, ohne die nun einmal keine Satire, kein Scherz, kein Ulk denkbar ist. … Die Satire ist nur die Konkav-Ansicht eines Gemüts; wenn es nach hinten nicht buckelt, klafft vorn keine Höhlung, und das ganze bleibt platt.“
Morgenstern selbst drückte es in einem Vierzeiler so aus:
Wo Ernst und Heiterkeit so recht sich gatten,
da kann Erlösung sich gestatten.
Jedoch, wo eins von beiden fehlt,
des Lebens Lampe übel schwelt.
Anschaulich wird Morgensterns seelische Gegensätzlichkeit in einem Brief (1894) an Kayssler:
„Berlin ist die einzige Luft, die ich noch atmen kann, außer der ewigen großen Natur, in der ich ganz allein sein muss. … Was hier so reizend ist, dass Großstadt im größten Stil und köstlichste Natur so dicht beieinander sind, und ich schwärme auch so viel wie möglich in die entzückenden Vororte aus, die man mit der idealen Stadtbahn für 10 Pfennige meistens erreichen kann. Da können wir idyllisch wandern.“
Doch schon der junge Dichter war durch seine chronische Lungenerkrankung zu häufigen Ortswechseln und Unstetigkeit gezwungen. Da wechselten „Zimmerhaft“, Kuraufenthalte am Meer oder im Gebirge und Isolierung des unter einem akuten Krankheitsschub Leidenden mit ganz weltzugewandten schriftstellerischen Tätigkeiten als Theaterkritiker, Lektor, als bedeutendem Übersetzer Ibsens, Björnsons und Strindbergs mit vielfältigsten Kontakten und Verbindungen im künstlerisch brodelnden Berlin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Andererseits fühlte er: „Wenn ich unter Menschen bin, bin ich wie auf Ferien“. Unvorstellbar, was er an Einsamkeit zu ertragen imstande gewesen sei, urteilte einmal Friedrich Kayssler über den Autor des „Tagebuch eines Mystikers“.
Und Tucholksky schrieb an seine zweite Frau Mary in einem Feldpostbrief vom 9. August 1918 über Morgenstern: „… das war ein ganz tiefer und frommer Mensch. Aber eine abgrundtiefe Frömmigkeit, nicht so mit Gebeten und fertig“. Hier ein Beispiel – das mit „Hymne“ überschriebene Gedicht:
„Wie in lauter Helligkeiten
fließen wir nach allen Seiten …
Erdenbreiten, Erdzeiten
schwinden ewigkeitentenweit …
Wie ein Atmen ganz im Licht
ist es, wie ein schimmernd Schweben …
Himmels-Licht – in Deinem Leben
lebten je wir, je wir – nicht?
Konnten fern von dir verziehen,
flohen dich, verbannt, verdammt?
Doch in Deine Harmonien
kehren heim, dir entstammt.
Derselbe Morgenstern aber, der mit seiner von Innen leuchtenden Sprache aus seiner „Schönheit Sonnenreligion“ heraus zu singen wagte „Meine Liebe ist groß wie die weite Welt …“, der suchte diese Liebe auch ganz praktisch im Alltag kultureller Arbeit zu verwirklichen. So schrieb er – aus seiner schöpferischen Einsamkeit den Blick auf das gegenwärtige Kulturschaffen gerichtet – an Kayssler am 28. Februar 1908:
„Unser Theater? Ach rühre mir nicht an das, was ich an Theaterträumen schon begraben habe. Oder vielmehr: Lasst Ihr einmal auferstehen, was auch ich einst mit vorausempfunden habe. Du liest jetzt Buddha. Nun, was habe ich denn all meine Tage vom Theater gewollt, als Freiheit von der unsäglichen Gleichgültigkeit all dieses Brimboriums, womit man es heute wieder behängt hat. Zwar h a t ja Reinhardt und sein Stab vieles vergeistigt: aber er ist immer und überall nur ein Phyrrussieger. Er geht der Materie jedesmal wieder mit einer grenzenlosen Energie zuleibe – als ob es auf sie zuletzt irgendwie ankäme. Als ob nicht Dichtung Erlösung wäre – von der „Materie“. Was der Dramatiker in seinem göttlichen Gewebe gerade überwunden hat – das stellt er mit aller Gewalt wieder her (der Reinhardt des „Sommernachtstraums“ wenigstens). Größter Gegensatz dazu: Meine Skioptikon- oder Laterna magica-Bühne … alles nur Gleichnis! Vom Ernst des Lebens draußen zu einem höheren leichtfüßigeren, seraphischeren Ernst erlöst. Und s o die Heiterkeit, die jedes wahre Kunstwerk dem gemeinen Leben gegenüber hat, nein, die es ist, – als eine Erlösung gleichsam für alle offenbarend. Alles in allem: für sich allein kann auch das Theater nicht anders werden. Von innen heraus muss alles neu werden und dann erst wird unsere neue deutsche Kultur geboren werden. Wir leben und sterben heute alle noch als Vorposten. Denn dieses robuste Bismark`sche Deutschland wird noch nicht so bald zu seiner neuen großen Einen Volks-Seele kommen. Da gehört wohl erst noch ein Jahrhundert Leiden her.“
Wie schwierig und zugleich bereichernd ist der Versuch, den Menschen und Dichter Morgenstern in all seinen vielfältigen Facetten zu erfassen: Zum einen der Dichter der Galgenpoesie, Palmströms und seines letzten Werkes „Wir fanden einen Pfad“; der Theaterkritiker und Verfasser von kabarettistischen Satiren und Parodien, die damals nicht selten der wilhelminischen Zensur zum Opfer fielen; der hochgeschätzte Übersetzer der Werke Ibsens, Strindbergs und Björnsons; zum andern der Gottsucher und Mystiker, der scharf – und weitblickende Zeitkritiker, der Anhänger Nietzsches „Zarathustra“ und Paul de Lagardes, der „Schüler“ Rudolf Steiners. Weiterhin die Menschen, denen Morgenstern nahe kam – um nur einige zu nennen: Kayssler, Max Reinhardt, der Schriftsteller Efraim Frisch, Hendrik Ibsen, seine Verleger Reinhard Piper und Bruno Cassirer, Ibsen (der übrigens Morgensterns Übertragungen seiner Dramen und Gedichte zutiefst schätzte), Grieg, Björnstjerne Björnson, der Bachforscher und Musiker Ludwig Landshoff an der Wiege der „Alte-Musik-Bewegung“, der damalige Kritikerpapst Alfred Kerr, Rilke, Margareta Gosebruch von Liechtenstern (Morgensterns Frau), Rudolf Steiner … der Freund, der Liebende, der Lernende und sich Vertiefende – Morgensterns Briefe malen ein ganz eigenes, reiches Bild dieses Menschen.
[–Morgenstern und Steiner–]
All diese hier nur angedeutete Fülle fasst Morgenstern in seiner „Autobiographischen Notiz“ so zusammen: “Die wichtigsten Daten meines Lebens: Geburt, Tod der Mutter, Friedrich Kayssler, Nietzsche, meine Frau, Rudolf Steiner.“
Am meisten stieß Morgensterns Begegnung und auch dichterische Hinwendung zu Steiner (und dessen Lehrgebäude vom Geistigen im Menschen in Verbindung zum Geistigen des Weltalls, der Anthroposophie) auf Skepsis, Unverständnis und Kritik, selbst zunächst bei dem, der ihn am längsten und besten kannte, nämlich Kayssler. Ihm gegenüber verteidigt Morgenstern seinen Schritt anfangs:
„Seht, ihr Lieben, und wenn uns Steiner nichts anderes verschafft hätte als das Erlebnis des „Lehrers“ – es wäre schon genug. Es gibt in der ganzen heutigen Kulturwelt keinen größeren geistigen Genuss, als diesem Manne zuzuhören … (Brief vom 24.8.1913 an Kayssler). Ähnlich essentiell für sein Mensch-und Künstlertum empfand seine Begegnung mit Steiner übrigens auch der nur wenig jüngere Dirigent Bruno Walther.)
In der erfüllenden Begegnung mit Steiner in seiner letzten Lebensphase ging Morgenstern das Schönheitsmotiv seines Lebens ganz neu auf. Die folgenden Zeilen sind an Steiner gerichtet:
„Zur Schönheit führt dein Werk:
denn Schönheit strömt
zuletzt durch alle Offenbarung ein,
die es uns gibt.
…
Aus Schönheit kommt,
zur Schönheit führt
Dein Werk.“
(„Wir fanden einen Pfad“)
„Oh, Schönheit auszugießen über die Welt …!“ vermochte schon der ganz junge Morgenstern dichtend auszurufen. Mit diesem Wunsch, mehr noch, mit diesem Grundantrieb seines Wesens ging er durch sein und das Leben anderer, vertiefend und verschönernd. Schönheit ohne Tiefe gab es für ihn genauso wenig wie Tiefe ohne Schönheit. Die Schönheit, die sein verwandelnder Blick wahrnahm und in den Klang seiner Worte und Bilder kleidete – sie verschönte ihn selbst mit. Sein verwandelnder Blick ging nicht nur nach außen, sondern richtete sich zugleich nach innen. Mit jedem gefundenen schöpferischen Wort, mit jedem Bild, das er aufklingen ließ, mit jedem Ton, den er in farbige Sprachbilder verwandelte, verschönerte und vertiefte sich Christian Morgenstern von innen her selbst mit. Welchen Eindruck das auf andere Menschen machte, schildert eindringlich der russische Dichter Andrej Belyi in seinen Erinnerungen „Verwandeln des Lebens“:
„In jenen Tagen (wenige Monate vor dessen Tod) bot er einen wunderbaren Anblick: Ich habe nie eine solche Harmonie von innerer und äußerer Schönheit gesehen; eine geistige Schönheit durchlichtete sein Gesicht wie ein Hauch Morgenröte; solche Augen habe ich bei keinem Menschen gesehen. Ich sehe ihn … mager, zart, und auf eine beglückende Weise schön; und neben ihm seine Frau, Margareta Morgenstern, mit einem ruhigen, verklärten, pfirsichfarben leuchtenden, begeisterten Gesicht – der Sterbende war ihr Mann … Ich erinnere mich an die hohe Freude dieser Tage: an die Freude, Morgenstern persönlich kennenzulernen. Sein Lächeln strahlte mir entgegen; er deutete dabei auf seinen Hals, er konnte nicht mehr sprechen; er konnte nur heiser hervorbringen: „Ich freue mich … ich freue mich, aber ich kann nicht sprechen.“ … Er hatte nichts „Okkultistisches“, nichts von einem „Jogi“. Morgenstern und ein „Schüler des (Steinerschen) Pfades“ – das wollte nicht zusammenpassen: man braucht nur an die unbekümmerten, zuweilen bissigen Einfälle der futuristischen Galgenlieder zu denken; Morgenstern war Paradoxist, Superanarchist, lange vor Majakowski … .“
Aus anderer Perspektive (vom selben Tage und am selben Ort der Begegnung Belyis) berichtet Steiner: „ ... Sein Leib hatte nicht mehr die Kraft, die Stimme zu durchtönen, Heiserkeit hatte sich ausgegossen über sein Sprechen … aber es gab bei Christian Morgenstern noch eine andere Sprache: eine seltene Sprache dieser wunderbaren Augen, in denen die Seele erglänzte, wie nur bei wenigen Menschen sie durch Augen erglänzen kann; man fühlte, wie viel er einem mit seinen Augen sagen konnte. Und man fühlte in so manchen Momenten, wie viel er zu sagen vermochte durch das nur i h m eigene Erzählen.“
Wenn auch Morgensterns Augen heute nicht mehr d i r e k t zu uns sprechen können, so vermag doch sein verwandelnder Blick, wie er aus seinen Dichtungen ausstrahlt, uns zu treffen – auch heute noch, hundert Jahre nach seinem Tode und vielleicht mehr denn je … Und in weiteren hundert Jahren? Da wird uns Wanderern im dunklen Tal der Morgenstern (Venus) – vereint mit Jupiter (Goethe) und Mars (Beethoven) – mit seiner Botschaft von Schönheit, Liebe und seinem still leuchtenden Ja zum Leben vielleicht heller denn je leuchten …
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