Die Orgel und ihre Liebhaber – Das Instrument mit großen Fangemeinden
Köln/Bonn (dpa)- Winfried Bönig muss für seinen Job viel üben, und wenn er übt, dann tut er es meist nachts. Nachts im Kölner Dom. Da hat er seine Ruhe. Außer einem Wächter ist sonst niemand mehr da. Das Kirchenschiff ist nur noch sparsam beleuchtet, und oben auf der Empore sitzt Bönig und spielt. Er ist der Organist der Kathedrale.
Harald Schmidt, Entertainer, Katholik und ausgebildeter Kirchenmusiker, beneidet ihn um diese Stellung: „Da versinke ich vor Bewunderung! Diese Orgel ist natürlich der Wahnsinn.“ Bönig (56) empfindet es ähnlich: „Es ist fantastisch, diese Orgel in diesem Raum spielen zu dürfen.“
Etwa 50 000 Orgeln gibt es in Deutschland. „Das ist bezogen auf die Fläche und Einwohnerzahl die höchste Dichte weltweit“, erläutert Prof. Michael G. Kaufmann von der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg. „Die Orgellandschaften sind seit dem Barock über die Romantik bis in die Gegenwart gewachsen, es gibt – pauschal gesagt – nord-, mittel- und süddeutsche Eigenarten.“ Nicht verwunderlich also, dass die Deutsche Unesco-Kommission Orgelbau und Orgelmusik in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen hat.
Früher war fast jeder mit der Orgel vertraut – aus der Kirche. Das ist heute anders. Doch von einem Niedergang der Orgelkultur kann bisher keine Rede sein. „Es gibt beinahe kein Instrument mit einer so großen Fangemeinde“, meint Bönig. „Man müsste mal herausfinden, wie viele Orgelkonzerte es in Deutschland an einem Freitagabend im Juli oder August gibt. Das ist enorm!“
Bönig selbst ist seit seiner Kindheit von der Orgel fasziniert. Er stammt aus einer katholischen Familie, die sonntags zur Messe im Bamberger Dom ging. „Ich empfinde die Orgel als ein mythisches Instrument“, erzählt er. „Sie ist kein Orchesterinstrument, sie steht meist in Kirchen und füllt dort den ganzen Raum aus.“ Den höchsten Ton können die meisten gar nicht hören, den tiefsten kann man fühlen – im Bauch.
Manches an der Orgel ist menschlich. Sie hat eine Lunge – das Gebläse – und ein Gehirn, den Spieltisch. Vor allem aber ist jede Orgel einzigartig. „Es gibt keine zwei gleichen Instrumente auf der Welt“, sagt Bönig. „Jede Orgel ist anders, so wie auch jeder Mensch anders ist.“ Bönig wird oft eingeladen, auf fremden Orgeln zu spielen, und er kann diese Konzerte nur in begrenztem Umfang planen: „Man kann nicht im Voraus sagen: "Ich will das so und so machen." Das geht vielleicht gar nicht. Ich kann dem Instrument nicht meinen Willen aufzwingen. Dann krieg‘ ich Ärger mit ihm.“ Man muss die Orgel erst einmal kennenlernen, und dann kann man entscheiden, was man darauf spielen kann.
Die beiden Orgeln im Kölner Dom stammen von der Firma Klais – einer von insgesamt 200 Orgelbaustätten in Deutschland. „Das hat kein anderes Land“, betont Inhaber Philipp Klais (48). „Deutschland ist wirklich ein Kernland des Orgelbaus. Das ist ein Kulturträger für uns seit Jahrhunderten.“
Klais arbeitet in der Bonner Innenstadt in einem verschachtelten Gebäudekomplex von 1896, in dem schon sein Urgroßvater gewirkt hat und in dem sich gleich auch seine Wohnung befindet: „Wir arbeiten hier nicht nur, wir leben auch hier“, betont er. Über den Türen zu den Arbeitsräumen stehen altertümliche Aufschriften wie „Windladen-Schreinerei“ oder „Montagesaal“ „Natürlich benutzen wir eine Bohrmaschine“, sagt Klais, „aber unsere Fertigungsweise unterscheidet sich nicht groß von der im 18. Jahrhundert.“
Noch immer werden in Deutschland Orgeln bestellt: für Kirchen, aber auch für Konzertsäle. So entsteht bei Klais derzeit die Orgel für die Hamburger Elbphilharmonie. Daneben kommen mehr und mehr Aufträge aus Übersee. Klais-Orgeln findet man in Peking und Moskau, in Buenos Aires und Kuala Lumpur. Keine gleicht der anderen. „Über den Preis können wir hier mit unserer Fertigung in Deutschland eigentlich nichts machen, wir müssen eine Idee haben.“ Apropos Preis: Der schwankt zwischen 80 000 und 3,5 Millionen Euro.
Intonateur Bernd Reinartz ist gerade dabei, eine neu gegossene Pfeife aufzuschneiden. Das Fenster steht offen, so dass die Sonne hereinfällt. Konzentriert zieht er sein Messer durchs Zinn: „Das legt letztlich die Klangfarbe des Instruments fest.“ Am Ende soll die Pfeife „sauber sprechen“. Dabei muss man sich klarmachen: Schon eine mittelgroße Orgel hat nicht einige hundert, sondern einige tausend Pfeifen, von denen die größten mehr als zehn Meter messen können. „Natürlich empfinden wir uns als Künstler“, sagt Klais. „Aber Handwerk ist für uns auch kein Schimpfwort.“
Unter den 65 Mitarbeitern finden sich zwar einige, die in ihrer Freizeit niemals Orgelmusik hören, die meisten aber sind dem Instrument völlig verfallen. Auch privat. Gesa Graumann ist so eine. Seit 21 Jahren arbeitet sie für Klais, zusätzlich hat sie einen Lehrauftrag für Orgelkunde, engagiert sich für das Orgelspiel in der evangelischen Kirche und hat zu Hause eine eigene Orgel. „Herr Klais sagt immer: "Orgelbauer sind völlig speziell." Ich würde sagen: "Wir sind alle bekloppt."“
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