Vom DDR-Grenzer zum Fluchthelfer

Rudi Thurow ist einer der stillen Helden, die in der Geschichte kaum Beachtung finden. Durch seinen mutigen und selbstlosen Einsatz konnte er den Tod vieler flüchtender DDR-Bürger an der innerdeutschen Grenze verhindern.
Titelbild
Rudi Thurow bei der DDR-Grenztruppe.Foto: privat
Von 28. März 2022

Rudi Thurow wirkt sportlich mit seinen 84 Jahren – trotz seiner kleinen Statur. Vielleicht kommt das von den regelmäßigen kilometerlangen Spaziergängen, die er mit seiner Labradorhündin „Papaya“ im Berliner Süden unternimmt. Mit wachem Blick berichtet er von seiner DDR-Flucht während seines Grenzdienstes, die sein Leben grundlegend veränderte.

15 Kilometer entfernt von seinem damaligen Fluchtort mitten in Berlin-Marienfelde liegt die Hochhauswohnung, die er zusammen mit seiner Frau bis zu seinem Tod am 9. Januar 2022 bewohnte. Ich traf ihn wenige Wochen vorher, nichtsahnend, dass es unser letztes Treffen sein sollte.

Bei meinem Besuch am 31. Oktober 2021 lagen auf dem Tisch im Wohnzimmer sauber sortiert Dokumente, vergilbte Zeitungsartikel und Fotos, die seine Lebensgeschichte dokumentierten.

Dann begann er zu erzählen, wie er in Leipzig 1937 geboren wurde und während des 2. Weltkriegs seine Eltern verlor: „Mit meinen drei Geschwistern kam ich zu Verwandten. Sie haben sich sehr wenig um uns gekümmert. Der Nationalsozialismus hat sie hart gemacht. Wir bekamen sehr viel Prügel, wurden gedemütigt. Daher bin ich während dieser Zeit ein Dutzend Mal ausgerissen.“

Schließlich landete er im Jugendheim, das ihn auch nicht halten konnte. „Mit 15 Jahren habe ich mir einen Beruf in einem Braunkohletagebau in Regis-Breitingen (Sachsen) gesucht. Da war ein Plakat, wo drauf stand, dass sie Lehrlinge suchen.“ Er hätte seinen Lehrvertrag einfach selbst unterschrieben und die Unterschrift dazu gefälscht, berichtet Thurow.

„Mein Bruder ist dabei, ein Vaterlandsverräter zu werden“

Er wird Maschinenschlosser und schließt sich nach der Lehre freiwillig den DDR-Grenztruppen an. „Innerlich suchte ich immer eine Familie. Ich hatte kaum eine Verbindung zu meinen Geschwistern. Ich hatte Sehnsucht nach einer Familie. Die hatte ich im Mai 1955 bei den Grenztruppen gefunden und dort mit 18 Jahren eine Ausbildung absolviert.“

Eine Sekretärin, die er bei der Anmeldung zum Grenzdienst traf, sagte damals: „Der Karabiner ist ja größer als der Mann, der vor mir steht.“ Er sei damals kleiner gewesen als heute, sagt er.

„Am Anfang, da gab es keine Kalaschnikow. In der Ausbildung gab es ein Holzgewehr mit einem Gummipuffer vorne darauf. Und so sind wir durch das Dorf marschiert, mit fröhlichen Liedern. Und die Leute haben alle gelacht. Die Ausbildung dort hat Spaß gemacht“, erinnert sich der Wahlberliner.

Nach der Ausbildung war er zunächst an der tschechischen Grenze stationiert, bevor man ihn nach Berlin versetzte. „In Berlin musste ich praktisch den Ring um Berlin absichern. Alle Ausfallstraßen nach Ostberlin und Richtung DDR wurden kontrolliert.“ Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen standen dort. „Alle DDR-Bürger mussten ihren Ausweis vorzeigen und teilweise ihre Taschen öffnen. Man begründete es damit, dass Schieber und Spekulanten versuchten, die DDR zu untergraben, indem sie Lebensmittel und technische Geräte aus der DDR nach Westberlin verschoben.“

Dabei sei es auch zu Übergriffen durch Grenzsoldaten gekommen, erklärt Thurow und meint damit Schikanen gegenüber den DDR-Bürgern. Thurow erinnert sich an einen Unteroffizier aus Eberswalde: „Der traf seine Schwester und seine Mutter bei einer Grenzkontrolle auf dem Bahnhof, als sie von einem Einkauf in Westberlin zurückkamen. Vor 1961 konnte man fünf Ost-Mark gegen eine West-Mark eintauschen und dann im Westen einkaufen gehen. Er hat seine Schwester auf dem Bahnsteig vor allen Leuten verprügelt, weil sie in Westberlin einkaufen war.“

Nicht alle Soldaten waren mit diesem Verhalten einverstanden, erinnert sich Thurow, hatten aber nicht den Mut, dagegen aufzubegehren. Darüber zu sprechen, war auch gefährlich. Er erinnert sich, wie er seiner Schwester in Dresden von den Vorkommnissen an der Grenze erzählte und wie die DDR-Bürger behandelt wurden. Kurz darauf schickt sie einen Brief an seinen Grenzkompaniechef: „Mein Bruder ist auf dem besten Wege, ein Vaterlandsverräter zu werden.“

Nicht nur das Verhältnis zu seinen Schwestern ist zu dieser Zeit gespannt, auch seine Ehe, aus der ein Kind hervorging, wurde geschieden.

„Das sind nicht eure Brüder, das sind Faschisten und Imperalisten“

In der Nacht vor dem Mauerbau am 13. August 1961 hatte Thurow um 22 Uhr Dienstschluss. Um „24 Uhr gab es dann das erste Mal ‚gefechtsmäßigen Großalarm‘. Wir mussten innerhalb von drei Minuten mit panzerbrechenden Waffen antreten.“

Der Kompaniechef traf vor ihnen ein und las den Befehl des Verteidigungsministers vor: „Die Imperialisten und Faschisten der Bundesrepublik Deutschland haben die Absicht, die DDR in ihr Staatsgebiet einzuverleiben. Ihr habt die Aufgabe, die DDR unter Einsatz eures Lebens zu verteidigen.“ Ein junger Soldat hatte nachgefragt, was das genau bedeute, erinnert sich Thurow. „Müssen wir im Ernstfall gegen unsere Brüder und Schwestern in der Bundesrepublik Deutschland die Waffe anwenden?“

Der Kompaniechef antwortete: „Selbstverständlich, das sind nicht eure Brüder und Schwestern, das sind Faschisten und Imperalisten. Gegenüber dieser Bagage muss zu jeder Zeit die Schusswaffe angewendet werden!“ Dann war Ruhe, erinnert sich Thurow. Am nächsten Tag sind einige von ihnen in Richtung Berlin abtransportiert worden, um dort die Grenze abzusichern.

Thurow wurde nach Berlin-Hoppegarten abkommandiert. Dort musste er zuerst Neuankömmlinge von der Transportpolizei für den Grenzdienst ausbilden. Ein großer Teil der Neuankömmlinge wurde jedoch verhaftet und mit Lkws abtransportiert, weil sie sich weigerten, an die Grenze zu gehen und den Schießbefehl durchzuführen.

Von dort aus kam Thurow nach Potsdam-Drewitz. Mit seiner Grenzkompanie hatte er die Aufgabe, die Westberliner Exklave „Steinstücken“ abzusichern. „Ich hatte absolut keine Ahnung, dass es mitten auf dem Gebiet der DDR ein Stück Westberlin gab.“

Steinstücken war mit drei amerikanischen Soldaten und einer Funkstation besetzt, die ständig Verbindung nach Westberlin hielten und mit einem Kampfhubschrauber ausgestattet waren. „In dieses Stück Westberlin sind damals viele DDR-Bürger geflüchtet, die von dort aus per amerikanischem Hubschrauber nach Westberlin ausgeflogen wurden“, erzählt er weiter.

„Wir hatten die Aufgabe, die Grenze abzusichern, sodass es keine erfolgreichen DDR-Fluchten mehr gab.“ Hier erlebte er direkt die erfolgreiche Flucht zweier DDR-Grenzsoldaten.

Ein Loch in der Mauer?

Dann traf er eine Frau und zwei Männer, die ihn nach einem „Loch in der Mauer“ fragten. „Ich kannte sie und hab so getan, als ob ich sie gar nicht gehört habe.“ Später hätten sie sich mehrmals getroffen. Nach den Schikanen durch die DDR-Grenzkontrollen, der Verweigerung des DDR-Schießbefehls von den Transportpolizisten und schließlich der Flucht zweier Grenzsoldaten, folgte für Thurow ein weiteres Erlebnis, dass ihn seinen Grenzdienst ernsthaft hinterfragen ließ.

Über das heimliche Hören des Westberliner Radiosenders „RIAS Berlin“ erfährt er, dass mehrere DDR-Bürger an der Grenze durch DDR-Soldaten erschossen worden sind. „Da habe ich mir überlegt: Was wird passieren, wenn du selbst mal von der Schusswaffe Gebrauch machen und jemanden erschießen musst?“ Er konnte sich das nicht vorstellen. Das Einzige, was er sich jetzt noch vorstellen konnte, war, selbst zu flüchten.

Etwa acht Wochen später hob er all sein Geld von der Bank ab und traf sich noch einmal mit den Fluchtwilligen, die ihn nach dem Loch in der Mauer gefragt hatten. Mit ihnen zusammen bereitete er die Flucht vor.

Der Plan war, mit einem Lkw die Mauer nach Westberlin zu durchbrechen oder – wenn dies nicht klappen würde – rückwärts an die Mauer heranzufahren, das Hab und Gut über die Mauer zu werfen und auf das Westberliner Gebiet hinüberzuklettern.

Maschinenpistolen funktionsuntüchtig gemacht

„An dem Tag, an dem wir flüchten wollten, habe ich bei den Grenzsoldaten, die in unserem Fluchtabschnitt Wache hielten, die Maschinenpistolen während der Waffenkontrolle funktionsuntüchtig gemacht. Dann habe ich sie an die Grenze geschickt.“

Geplant war, dass in den Abendstunden die zivilen Fluchtkollegen mit dem Lkw an die Grenze kommen sollten. In dem Augenblick hätte Thurow dem Grenzposten gesagt: „Das sind Stasi-Leute, die da drinnen sitzen. Wir wollen raus an die Grenze fahren.“

In den Abendstunden sei jedoch von der Grenze ein Anruf gekommen. „Ich war noch diensthabender Unteroffizier und hatte die Waffenkammer unter mir. Es hieß, die Maschinenpistolen seien unschädlich gemacht worden. Die gesamte Grenzkompanie wurde an die Grenze heraus beordert. Für mich gab es nun kein Zurück mehr. Bei den Nachforschungen hätte man herausgefunden, dass nur ich an die Waffen herankommen konnte.“

Der erste Plan ging somit nicht auf und er schickte seine Fluchtkollegen mit dem Lkw zum Drewitzer Bahnhof. Mit Pistole und Maschinenpistole bewaffnet folgte er ihnen dorthin.

„Wir sind dann gemeinsam Richtung Exklave „Steinstücken“ an die Grenze gefahren. Es war mittlerweile dunkel.“

Thurow kannte die gültige Parole. Er selbst gab sie am Nachmittag als Diensthabender an die Grenzsoldaten weiter. „Gotha-Gorki“, ein deutscher und ein russischer Begriff, erklärt der 84-Jährige. „Ich bin dann in Richtung des Grenzpostens gegangen. Die anderen hatten sich erst einmal hinter den Bäumen versteckt.“

Die Grenzposten hat er dann 200 Meter weiter geschickt und ihnen gesagt, dass er den Abschnitt selbst absichere.

„Dann sind wir rüber. Ich bin als Erster durch den Stacheldraht, die anderen folgten mir.“ Einer der beiden Männer, Bernhard Thieme, habe sich beim Überwinden des Stacheldrahtes schwer verletzt. Kurz darauf wurden sie entdeckt und von den Grenzposten angerufen:

„Halt, stehen bleiben, deutsche Grenzpolizei! Dann haben sie mehrere Warnschüsse abgegeben“, berichtet Thurow. Zusätzlich wurde mit einer Leuchtpistole das Alarmsignal „Eilt zu Hilfe!“ abgegeben. „In dem Augenblick habe ich meine Maschinenpistole hochgerissen und ungefähr 30 Schüsse über die Köpfe der Grenzsoldaten abgegeben.“

Die Grenzer hätten sich sofort hingeschmissen. „Ich wollte niemanden erschießen. Ich habe sie nur gezwungen, in Deckung zu gehen. Wir haben dann in einem Haus in der Exklave ‚Steinstücken‘ Zuflucht gesucht, bis die amerikanischen Soldaten zu uns kamen.“

Amerikaner hatten kein Vertrauen in deutsche Behörden

Die Amerikaner nahmen sie mit in ihr Wachgebäude. „Dort haben wir unsere Waffen abgegeben und sind über Nacht geblieben. Es gab hier eine Räumlichkeit, wo Geflüchtete übernachten konnten.“ Die Amerikaner informierten ihre Dienststelle in Westberlin.

„Ich konnte nicht schlafen, ich sah die Möglichkeit, dass die DDR-Grenztruppen uns folgen würden. Die Amerikaner hatten meine Maschinenpistole an die Wand gehängt. Ich sagte mir: ‚Wenn wir verfolgt werden, springst du an die Wand, nimmst deine Maschinenpistole, sodass du dich verteidigen kannst.'“

Die ganze Nacht lang haben sie dann Skat gespielt. „In den Morgenstunden kam ein amerikanischer Hubschrauber, der brachte amerikanische Uniformen.“ In diese Uniformen gekleidet wurden sie von Steinstücken nach Westberlin ausgeflogen, wo sie erst einmal streng verhört wurden.

Drei Tage später flog man Thurow zum amerikanischen Hauptquartier in Westdeutschland zur Abteilung Spionageabwehr. „Ich hatte viele Unterlagen von den DDR-Grenztruppen aus dem Panzerschrank mitgenommen“, so der Geflüchtete.

Sieben Monate blieb er dort und berichtete über alle militärischen Stützpunkte, die er in der DDR kannte, auch die sowjetischen. Die Unterlagen gaben Auskunft über das gesamte Grenzsicherungssystem von Thurows Grenzkompanie, also über einen Abschnitt von ungefähr 25 Kilometern Länge.

Er habe dies aus freiwilligen Stücken getan, betont er. „Ich wurde auch von den Amerikanern, Engländern und Franzosen innerhalb Westberlins verhört – auch von den deutschen Behörden. Ich habe fast alles, was ich hatte, den Amerikanern zur Verfügung gestellt. Und die Amerikaner hatten auch gar kein Interesse, dass ich deutschen Behörden irgendwelche Auskünfte gebe. Die hatten, das war deutlich zu spüren, zu ihnen kein Vertrauen“, resümiert er.

Um Geld zu verdienen, suchte sich Thurow Arbeit in Westberlin. Zunächst fuhr er Kohlen aus, war dann bei der Firma Siemens tätig und arbeitete schließlich als Montageeinsatzleiter bei einer Westberliner Metallbaufirma. Während dieser ganzen Zeit habe der DDR-Staatssicherheitsdienst versucht, ihn unter seine Kontrolle zu bringen, berichtet der Rentner.

Er wird Fluchthelfer

Wenn man Thurows Erzählungen lauscht, spürt man, dass er ein geradliniger Mensch ist mit einem starken Gerechtigkeitssinn. Was er tat, geschah nicht aus Eigennutz, sondern er wollte verhindern, dass noch mehr Menschen bei einem Fluchtversuch erschossen wurden. Und so kam es auch, dass er die nächsten Jahre seines Lebens, genauer bis 1975, als Fluchthelfer für DDR-Flüchtlinge tätig wurde.

Nachdem er Rainer Hildebrandt, Leiter des Museums am Checkpoint Charlie, kennenlernte – wo Thurow bei Veranstaltungen von seiner DDR-Flucht berichtete –, machte dieser ihn mit Fluchthelfergruppen bekannt. So lernt er die Gruppe um Detlef Girrmann und anderen Studenten der Freien Universität Berlin kennen. „Schließlich fragte mich Girrmann, ob ich unterstützen könnte. Ich sollte die Tunnelanlagen mit Waffen absichern.“ Dabei lernte er wiederum Harry Seidel kennen, einen der größten Fluchthelfer zur damaligen Zeit, der die meisten Tunnelanlagen zwischen West- und Ostberlin baute und später verhaftet und zu lebenslänglich verurteilt wurde.“ Nach etwa vier Jahren Haft kaufte ihn die Bundesrepublik Deutschland frei.

Neben den DDR-Flüchtlingen nutzten auch amerikanische Spione, die in Bedrängnis gerieten oder unerkannt bleiben sollten, die Tunnelanlagen.

„Ich wurde ein Sicherungsposten in einer Tunnelanlage. Dazu bin ich mit einer Maschinenpistole in den Fluchttunnel hineingegangen. Das Ziel war, niemanden zu verletzen, niemanden zu erschießen. Nur im äußersten Notfall, wenn die Grenztruppen uns entdecken und das Feuer eröffnen würden, sollten wir zurückschießen“, so Thurow. Ein Schneidermeister-Ehepaar und noch eine weitere Person passierten die Tunnelanlage, bevor sie auf Ostberliner Seite entdeckt und geschlossen wurde. Ursprünglich sollten etwa 20 Personen über diesen Tunnel flüchten.

Eine kleine Episode mit der Schneiderin zeigt einmal mehr Thurows Mut und selbstloses Handeln: Als die Frau merkte, dass sie ihre Schmuckschatulle in der Wohnung vergessen hatte, bat sie den Fluchthelfer zurückzugehen, um sie zu holen. Dieser nahm es daraufhin in Kauf, sich in Lebensgefahr zu begeben und erfüllte der Dame den Wunsch.

Da etwas später einer der Fluchthelfer dieser Gruppe angeschossen wurde und kurz darauf verstarb, wurden die Tunnelfluchten zunächst eingestellt. „Ich habe dann auf eigene Faust versucht, Flüchtlinge über die Grenze rüber zu holen. Ich hatte einen großen alten amerikanischen Straßenkreuzer, ein ‚Oldsmobile‘ umgebaut.“ In ihm wurde ein Hohlraum eingerichtet, in dem sich ein Flüchtling verstecken konnte. „Das klappte auch hervorragend. So wurde ein ganzes Dutzend Menschen rübergeholt.“

Man habe ja auch mit ausländischen Pässen von Westberlin nach Ostberlin fahren können, berichtet Thurow weiter. „Diese Möglichkeit haben wir genutzt. Entweder mit Ausländern am Steuer, oder einem amerikanischen Soldaten, der durch die Zone fahren konnte und dabei geholfen hat. Und dann gab es noch eine Holländerin, die mit dem Oldsmobile durch die DDR fuhr und Fluchtwillige in den versteckten Hohlraum aufnahm und sie nach Westberlin brachte.“

Stasi plante Thurow zu liquidieren

Mehrere Male sollte Thurow aus Westberlin entführt werden, erfuhr er von den Amerikanern, die ihn zu seinem Schutz mit einer Pistole samt Munition und Waffenschein ausrüsteten und ihm eine weiträumige Absicherung im Hintergrund versprachen. „Die Waffe hatte ich immer durchgeladen und schussbereit bei mir.“ Erst viel später erfährt er von dem Mordbefehl.

„In der Gauck-Behörde habe ich mir nach der Wiedervereinigung die Stasi-Unterlagen angeschaut und da war ich ganz schön erstaunt. Mit einem Mordbefehl hätte ich nicht gerechnet, mit Entführung schon.“

In Westberlin habe er sich trotz alledem sicher gefühlt. Immer wieder hörte er später aber davon, dass DDR-Flüchtlinge auf der Transit-Autobahn – also auf DDR-Gebiet – bei der Fahrt von Westberlin nach Westdeutschland entführt wurden. „In Westberlin entführt zu werden war wesentlich schwerer,“ ist sich Thurow sicher.

„Später erfuhr ich, dass Stasi-Generalmajor Kleinjung ein ganzes Dutzend Mordaufträge gegen geflüchtete DDR-Dissidenten in Westberlin unterschrieben hat.“

Aus seinem geht hervor, dass man zunächst plante, Thurow „habhaft zu werden und durch Schleusung in das Gebiet der DDR zu überführen“. Dazu analysierte man seinen Tagesablauf. Später wandelte die Stasi den Entführungsplan in eine „operative Maßnahme zur Liquidierung“ um.

Dieses der Epoch Times vorliegende Dokument des Ministeriums der Staatssicherheit ist eines der wenigen bekannten Schriftstücke dieser Art. Es zeigt, wie akribisch die Stasi die Tötung unliebsamer Ex-DDR-Bürger plante.

In einem „circa 45 Meter langen parkähnlichen Gelände“, durch das sich Thurow für gewöhnlich vom Abstellort seines Pkw bis zu seiner Unterkunft begab, sollte die Tötung stattfinden. Es war vorgesehen einen Raubmord vorzutäuschen mittels eines 1.000-Gramm-Hammers als Tötungswerkzeug.

Den Plan, ihn zu töten, ließ man schließlich fallen, weil einer der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM) nicht mehr für den Einsatz zur Verfügung stand. Es heißt, dass man diesen IM mit einer neuen Aufgabe betraute.

Der Plan des Ministeriums für Staatssicherheit, den DDR-Dissidenten Rudi Thurow zu liquidieren. Foto: Erik Rusch / Epoch Times

Besuch beim Ex-Stasi-General

Der ehemalige DDR-Grenzsoldat und Fluchthelfer Thurow konfrontierte 1997 den Ex-Stasi-General mit den offensichtlichen Mordabsichten. Zusammen mit einem Fernsehteam suchte er Kleinjung auf, der 1963 den Mordbefehl unterschrieben hatte. Dieser verweigerte jedoch jegliche Aussage vor der Kamera.

Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft stellte Ende der 90er-Jahre das Ermittlungsverfahren gegen Kleinjung und diejenigen, die den Auftrag in Westberlin ausführen sollten, ein. Begründet wurde dies damit, dass der Mord nicht ausgeführt wurde.

Die drei Personen, die Thurow bei seiner Flucht 1962 mit über die Grenze nahm, reisten von Westberlin nach Westdeutschland weiter. „Ich bin in Berlin geblieben“, so Thurow. Er heiratete erneut und blieb als gebürtiger Sachse Berlin bis zu seinem Tod treu. Am 1.12.2012 erhielt Thurow das Bundesverdienstkreuz.

Heute sind sie fast vergessen, die Helden von damals. Der Berliner Menschenrechtler, Mauerdemonstrant und Fluchthelfer Carl-Wolfgang Holzapfel (78) kann sich noch an Thurow erinnern. Ehrlich, offen und unverklemmt, beschreibt er ihn. Und so wird er wohl auch vielen in Erinnerungen bleiben – als geradliniger Mensch mit dem Herzen am rechten Fleck.



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