Mit der Uhr in der Hand – von Otto Reutter

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber + Video
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"Will sie ihn mal küssen, dann stellt er sich froh – und denkt sich: Nun mach schon, ich muß ins Büro." (Otto Reutter)Foto: Arnim Dusolt / Epoch Times

Mit der Uhr in der Hand

Wir leben in ’ner eiligen, hastigen Zeit

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

der eine, der schiebt heut den andern beiseite

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Wir drängen alle vorwärts, ob Hinz oder Kunz,

sind stets außer uns, und wir kommen nie zu uns,

denn wir werden mit uns ja nur flüchtig bekannt

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Der Tag beginnt schon in eiligem Lauf

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

der Wecker, der weckt uns, wir stehen schon auf

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Schnell ziehen wir uns an, und wir schlingen unseren Schmaus,

der ist noch nicht runter, da treten wir aus

und sitzen selbst dort an der hinteren Wand

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Wir turnen, wir trainieren, zum Masseur gehen wir hin

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

mal sind wir zu dick, mal sind wir zu dünn

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Wir gehn nie, sind auf dem Laufenden stets,

wenn wir mal wen treffen, dann fragen wir: Wie gehts?

Und eh der es uns sagt, sind wir weiter gerannt

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Wir fahren in die Ferien und sitzen am Strand,

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

erwarten die Post, den geschäftlichen Stand

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Ein Buch mal zu lesen, das wär ein Genuß –

wir lesen den Anfang und schauen nach dem Schluß,

durchblättern den Goethe, durchfliegen den Kant

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Wir machen ne Reise im Automobil

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

wir reisen nicht mehr, wir rasen zum Ziel,

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Fragt man uns: Die Gegend, die war wohl sehr schön

Dann sagen wir ja und wir haben nichts gesehen,

denn wir fuhren bloß vorbei ohne Sinn und Verstand

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Die Liebe, die Ehe betreiben wir als Sport

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

wir finden uns, verbinden uns und – pflanzen uns fort

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Will sie ihn mal küssen, dann stellt er sich froh –

und denkt sich: Nun mach schon, ich muß ins Büro –

Und er drückt sie ans Herz und küßt sie galant

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

So eilen wir durchs Leben ohne Freud und Pläsier,

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand,

da, plötzlich steht einer, ist mächtiger als wir,

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Der sagt: Du brauchst nicht auf die Uhr mehr zu sehn,

denn meine geht weiter und deine bleibt stehen

und er winkt uns hinüber ins andere Land

mit der Uhr in der Hand, mit der Uhr in der Hand.

Otto Reutter (1870 – 1931)



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